VwGH Ra 2016/08/0148

VwGHRa 2016/08/01482.2.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Gruber, über die Revision der

P GmbH in T, vertreten durch Dr. Georg Lehner, Rechtsanwalt in 4600 Wels, Südtirolerstraße 12a, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 4. Februar 2016, Zl. W201 2004888- 1/15E, betreffend Pflichtversicherung nach dem ASVG und dem AlVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Oberösterreich; mitbeteiligte Parteien: 1. V M L,

2. Oberösterreichische Gebietskrankenkasse, 4021 Linz, Gruberstraße 77, 3. Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 4. Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1201 Wien, Adalbert Stifterstraße 65- 67), zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art6 Abs1;
VwGVG 2014 §24;
MRK Art6 Abs1;
VwGVG 2014 §24;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Zur Vorgeschichte wird auf das den Berufungsbescheid des Bundesministers für Arbeit Soziales und Konsumentenschutz vom 22. Mai 2013 aufhebende hg. Erkenntnis vom 30. September 2014, Zl. 2013/08/0255, verwiesen.

2 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das gemäß Art. 151 Abs. 51 Z 8 B-VG an Stelle des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz zuständig gewordene Verwaltungsgericht in Bestätigung des Bescheides des Landeshauptmannes von Oberösterreich vom 2. Dezember 2010 (neuerlich) festgestellt, dass der Erstmitbeteiligte auf Grund seiner Tätigkeit als Speisenzusteller für die revisionswerbende Partei in der Zeit vom 1. bis zum 31. Jänner 2003 gemäß § 4 Abs. 1 Z 1 iVm Abs. 2 ASVG und § 1 Abs. 1 lit. a AlVG der Voll-(Kranken-, Unfall-, Penions-)versicherung und der Arbeitslosenversicherung unterliegt.

3 Grundlage für die Tätigkeit der Zusteller im Prüfungszeitraum seien Vereinbarungen gewesen, die als "freie Dienstverträge" bzw. als "Werkverträge" bezeichnet worden seien. Die von der revisionswerbenden Partei beschäftigten Zusteller seien nach einem in den monatlichen Zusteller-Besprechungen im Voraus erstellten Dienstplan in den verschiedenen Gastgewerbebetrieben anwesend gewesen und hätten nach Eingang von Kundenbestellungen die Lieferung der Speisen und Getränke mit einem eigenen Pkw vorgenommen. Sie hätten sich grundsätzlich an die getroffene Diensteinteilung zu halten, zu Beginn jeder Schicht am jeweiligen Standort zu erscheinen und sich im EDV-System anbzw. abzumelden gehabt. Warmhaltetaschen, Arbeitskleidung sowie ein Magnetschild mit Firmenaufschrift für den Pkw seien den Zustellern von der revisionswerbenden Partei zur Verfügung gestellt worden. Für die Verwendung des Pkws sei Kilometergeld bezahlt worden. Die Entlohnung sei nach einem vereinbarten Stundenhonorar erfolgt. In den Abendstunden und an Wochenenden sei pro Zustellung eine Entlohnung erfolgt. Der Erstmitbeteiligte sei im Jänner 2003 mit einer Entlohnung über der Geringfügigkeitsgrenze tätig gewesen und habe eine Entlohnung in Höhe von EUR 625,65 für insgesamt 215 Zustellungen erhalten. Bei einer Dienstverhinderung eines Zustellers sei eine Vertretung aus dem "Zustellerpool" zu organisieren gewesen, und zwar entweder durch die Kassenkraft, welcher die Verhinderung mitzuteilen gewesen sei, oder durch den verhinderten Zusteller selbst. Eine Vertretung durch firmenfremde Personen sei nicht möglich gewesen.

4 Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht (im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung) aus, der Umstand, dass der Dienstplan in Absprache mit den Zustellern erstellt worden sei, ändere nichts daran, dass der Erstmitbeteiligte ab Geltung des Dienstplanes an die vorgegebenen Arbeitszeiten gebunden gewesen sei. Die Behauptung der revisionswerbenden Partei, der Erstmitbeteiligte hätte sich in den Betriebsräumlichkeiten aufhalten können, er sei dazu aber nicht verpflichtet gewesen, erscheine angesichts der objektiven betrieblichen Erfordernisse unglaubwürdig, weil ohne eine solche Anwesenheit die engen Zeitvorgaben für die Zustellungen an die Kunden nicht hätten eingehalten werden können. Die erstellten Dienstpläne ließen den Schluss zu, dass die Zustellungen gemäß den betrieblichen Erfordernissen nach einem Zeitplan hätten verrichtet werden müssen. Die Zusteller hätten übereinstimmend ausgesagt, dass eine Verpflichtung bestanden habe, im Lokal zu verbleiben. Es sei nicht glaubwürdig, dass die revisionswerbende Partei akzeptiert hätte, dass die Zustellertätigkeit jederzeit durch ihr unbekannte, betriebsfremde Personen hätte durchgeführt werden können, welche uneingeschränkt Zutritt zu den Betriebsräumlichkeiten haben sowie das Passwort des Vertretenen erhalten müssten. Die Mehrheit der einvernommenen Personen hätte angegeben, vor der tatsächlichen Arbeitsaufnahme eine kurze Einschulung (durch Mitfahren) erhalten zu haben. Auch der Erstmitbeteiligte habe angegeben, dass neue Fahrer zuerst nur "mitgefahren" seien. Eine derartige Einschulung schließe eine jederzeitige Vertretung durch betriebsfremde, vom jeweiligen Zusteller ausgewählte Personen aus. Die Zusteller hätten übereinstimmend ausgesagt, dass eine Vertretung durch Betriebsfremde ausgeschlossen gewesen sei.

5 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, das "Bereitstehen auf Abruf" begründe eine besondere persönliche Abhängigkeit, die für bestimmte Gruppen von Dienstnehmern eher typisch sei als für selbständige Unternehmer. Der Erstmitbeteiligte habe seine Arbeitszeit und seinen Arbeitsort nach den von der revisionswerbenden Partei festgelegten Dienstplänen zu richten gehabt. Er habe zwar die Möglichkeit gehabt, vor Erstellung des Wochenplanes Einfluss auf die ihm zugeteilten Dienstzeiten zu nehmen bzw. seine Tätigkeit für die eine oder andere Woche zu unterbrechen, ab Erstellung des Dienstplanes habe er jedoch die so festgelegten Zeiten einzuhalten gehabt. Daraus sei ersichtlich, dass der Erstmitbeteiligte an Ordnungsvorschriften über seine tägliche Arbeitszeit und den Arbeitsort gebunden gewesen sei. Die Zusteller hätten sich bei Schichtbeginn mit Namen und Passwort im EDV-System der revisionswerbenden Partei anzumelden gehabt. Sie seien in ein straff organisiertes betriebliches System eingebunden gewesen. Sie hätten einen bestimmten Dienstplan einzuhalten gehabt und sich im Lokal bereithalten müssen. Im Falle von Bestellungen hätten sie die erforderlichen Zustellfahrten unverzüglich ausführen müssen. Die Vertretungsregelung im Falle von Verhinderungen entspreche nicht einem Vertretungsrecht nach Gutdünken. Zusammenfassend ergebe sich, dass die Elemente einer Beschäftigung in persönlicher Abhängigkeit gegenüber den Merkmalen einer persönlich unabhängigen Tätigkeit überwögen. Der Umstand, dass der Erstmitbeteiligte sein eigenes Kraftfahrzeug benutzt habe, falle im vorliegenden Gesamtzusammenhang nicht ins Gewicht.

6 Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung führte das Verwaltungsgericht aus, der relevante Sachverhalt sei geklärt und die Entscheidung würde einzig von der Lösung rechtlicher Fragestellungen abhängen. In der Beschwerde seien keine Rechts- oder Tatsachenfragen aufgeworfen worden, die eine mündliche Verhandlung erfordert hätten. Zum Beschwerdevorbringen, es hätten mehrere Zusteller als Zeugen vernommen werden müssen, sei die revisionswerbende Partei auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 3. November 2015, Zl. 2013/08/0153, und darauf verwiesen, dass weitere Einvernahmen auf Grund der Gleichartigkeit der Zustellertätigkeit nicht notwendig und nach 13 Jahren nicht zweckmäßig seien. Die revisionswerbende Partei habe nicht dargelegt, inwieweit weitere Einvernahmen zu einer anderen Beurteilung der verfahrensgegenständlichen Tätigkeit hätten führen können.

7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Revision. 8 Die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde hat

mitgeteilt, dass sie von einer Revisionsbeantwortung Abstand nimmt.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 1. Die revisionswerbende Partei bringt zur Zulässigkeit der Revision bzw. zum Vorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG insbesondere vor, das Verwaltungsgericht habe gegen seine Pflicht verstoßen, die beantragte öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen und den Erstmitbeteiligten (unter Beiziehung eines Dolmetschers), die revisionswerbende Partei (bzw. deren Geschäftsführer) sowie weitere bei der revisionswerbenden Partei als Zusteller tätige Personen zu vernehmen. In diesen Vernehmungen hätte sich herausgestellt, dass der Erstmitbeteiligte an keinen Dienstort und hinsichtlich Zeiteinteilung und Gestaltung des Tätigkeitsablaufs an keinerlei Weisungen gebunden gewesen sei, dass er die Zustellung mit eigenen Betriebsmitteln durchgeführt habe, dass er sich beliebig habe vertreten lassen können und dies auch getan habe, dass er nicht verpflichtet gewesen sei, Zustellaufträge anzunehmen, und dass er zudem für die ordnungsgemäße Ausführung seiner Zustelltätigkeit zu haften gehabt habe. Die revisionswerbende Partei habe von Anfang an geltend gemacht, dass die Aussage des Erstmitbeteiligten (in den vorgelagerten Verwaltungsverfahren) in keiner Weise zu verwerten sei, weil dieser ohne Beiziehung eines Dolmetschers und unter Ausschluss der revisionswerbenden Partei befragt worden sei. Die Möglichkeit, zu einer Einvernahme schriftlich Stellung zu nehmen, sei mit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht vergleichbar. Im vorliegenden Fall wäre der Glaubwürdigkeit der vernommenen Personen für die Beweiswürdigung besondere Bedeutung zugekommen, sodass es im Interesse der Erforschung der materiellen Wahrheit erforderlich gewesen wäre, die beteiligten Personen im Zuge einer mündlichen Verhandlung zu vernehmen. Das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht von der Vernehmung von acht von der revisionswerbenden Partei namhaft gemachten Zeugen Abstand genommen. Diese acht Personen seien von der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse lediglich als Auskunftspersonen ohne Beiziehung von Dolmetschern befragt worden.

11 2. Die Revision ist zulässig und berechtigt. Es gehört gerade im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichtes, dem auch im § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer (bei Geltendmachung von "civil rights" in der Regel auch von Amts wegen durchzuführenden) mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 2. Juni 2016, Ra 2016/08/0075, mwN). Was die vom Verwaltungsgericht erwähnten Aussagen der Zusteller betrifft, so ist dem Akt überdies nicht einmal zu entnehmen, worauf das Verwaltungsgericht den Befund einer "übereinstimmenden Aussage" stützt. Die im Akt erliegende (undatierte) Berufungsentscheidung des Unabhängigen Finanzsenates deutet darauf hin, dass das Verwaltungsgericht auf Aussagen von Zustellern vor dem Finanzamt Linz bzw. vor der mitbeteiligten Gebietskrankenkasse Bezug genommen haben könnte.

12 Da die Unterlassung der Durchführung einer mündlichen Verhandlung auf einer Verkennung der Vorgaben des § 24 VwGVG beruhte, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

13 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.

Wien, am 2. Februar 2017

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