VwGH Ra 2016/08/0037

VwGHRa 2016/08/00377.4.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und den Hofrat Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Soyer, über die Revision der M N in W, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Walfischgasse 12/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Dezember 2015, Zl. W229 2107340- 1/7E, betreffend Widerruf und Rückforderung von Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien Johnstraße), zu Recht erkannt:

Normen

ABGB §1297;
ABGB §2;
AlVG 1977 §25 Abs1;
EMRK Art6;
VwGVG 2014 §24 Abs1;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwRallg;
ABGB §1297;
ABGB §2;
AlVG 1977 §25 Abs1;
EMRK Art6;
VwGVG 2014 §24 Abs1;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwRallg;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit die Revisionswerberin damit zum Rückersatz der unberechtigt empfangenen Notstandshilfe verpflichtet wurde, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben. Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Bescheid der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien Johnstraße (im Folgenden: AMS) vom 28. Jänner 2015 wurde gegenüber der Revisionswerberin gemäß § 38 iVm § 24 Abs. 2 AlVG die Bemessung der Notstandshilfe für die Zeiträume 1. April 2014 bis 9. Oktober 2014 und 29. Oktober 2014 bis 30. November 2014 rückwirkend berichtigt und gemäß § 38 iVm § 25 Abs. 1 AlVG das unberechtigt Empfangene in der Höhe von EUR 1.941,12 zurückgefordert. Begründend wurde ausgeführt, dass sie einen Teil der Leistung zu Unrecht bezogen habe, weil das Einkommen ihres Ehemannes zu spät gemeldet worden sei. Sie hätte erkennen müssen, dass ihr auf Grund des Dienstverhältnisses ihres Ehemannes nicht die volle Notstandshilfe zustehe.

2 Gegen diesen Bescheid erhob die Revisionswerberin Beschwerde und brachte vor, dass sie die Arbeitsaufnahme ihres Ehemannes am 3. März 2014 telefonisch beim AMS gemeldet habe, so wie sie es auch bisher immer gemacht habe. In einem ergänzenden Schriftsatz erklärte sie außerdem, dass sie die Nichtanrechnung des Einkommens ihres Ehemannes nicht habe erkennen können, weil die Berechnung der Höhe der Notstandshilfe mit den dazugehörigen Freigrenzen sehr komplex und für Laien undurchschaubar sei. Weiters machte sie geltend, dass die Anrechnung des Partnereinkommens im Hinblick auf die zu beachtenden Freibeträge nicht zulässig gewesen sei. Sie beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.

3 Das AMS erließ eine Beschwerdevorentscheidung, mit welcher der Spruch des Ausgangsbescheides dahingehend abgeändert wurde, dass er lautete: "Ihr Notstandshilfebezug wird gemäß § 24 Abs. 1 in Verbindung mit §§ 33 und 36

Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 (BGBl. Nr. 609/1977 - AlVG) in geltender Fassung für die Zeit vom 1.4.2014 bis 30.4.2014 rückwirkend von EUR 12,99 auf EUR 2,74, vom 1.5.2015 (richtig offenbar: 2014) bis 31.5.2014 von EUR 12,99 auf EUR 2,77, von 1.6.2014 bis 9.10.2014 und vom 29.10.2014 bis 31.10.2014 von EUR 12,94 auf EUR 4,79 berichtigt und der zu Unrecht bezogene Betrag von EUR 1.941,12 gemäß § 25 Abs. 1 AlVG zum Rückersatz vorgeschrieben."

4 Begründend führte das AMS im Wesentlichen aus, die Revisionswerberin habe keinen Nachweis erbringen können, dass sie die Beschäftigungsaufnahme gemeldet habe. Sie habe somit dem AMS gegenüber eine maßgebliche Tatsache verschwiegen, was einen Rückforderungstatbestand darstelle. Außerdem hätte ihr auffallen müssen, dass keine Änderung in der Höhe ihrer Notstandshilfe eingetreten sei, obwohl ihr Ehemann eine Beschäftigung aufgenommen habe.

5 Die Revisionswerberin stellte einen Vorlageantrag, in dem sie im Wesentlichen ihr Beschwerdevorbringen wiederholte.

6 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach es aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

7 Begründend legte das Bundesverwaltungsgericht zunächst dar, dass die Berichtigung dem Grunde und der Höhe nach zu Recht erfolgt war. Hinsichtlich der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Rückforderung traf es keine expliziten Feststellungen zu der Frage, ob die Revisionswerberin die Arbeitsaufnahme ihres Ehemannes gemeldet habe, sondern stützte sich ausschließlich darauf, dass sie den Überbezug hätte erkennen müssen. Sie sei bereits in der Vergangenheit mehrere Jahre im Bezug von Notstandshilfe gestanden, und ihr Ehemann sei währenddessen abwechselnd im Bezug von Leistungen der Arbeitslosenversicherung und in Beschäftigungsverhältnissen gestanden. Es sei ihr daher bekannt gewesen, dass ein Arbeitseinkommen des Ehemannes zur Verminderung des Notstandshilfeanspruches führen könne. Es wäre ihr sohin schon bei Gebrauch ihrer gewöhnlichen Fähigkeiten und Kenntnisse möglich gewesen, zu erkennen, dass ihr die Notstandshilfe nach Beschäftigungsaufnahme ihres Ehemannes nicht in derselben Höhe wie während seines Arbeitslosengeldbezuges zustehen könne. Dies werde auch dadurch bekräftigt, dass mit dem Arbeitsantritt ihres Ehemannes zum einen eine "Änderungsmeldung Angehöriger" erfolgt sei und die Revisionswerberin selbst angegeben habe, diese Meldung getätigt zu haben. Es könne ihr zwar nicht zugemutet werden, die konkrete Höhe der Notstandshilfe selbst zu berechnen, sie hätte aber prüfen können, ob die Notstandshilfe in der ausgezahlten Höhe gebühren könne, wenn sich Änderungen in den Einkommensverhältnissen des Ehemannes ergeben hätten. Dazu seien keine besonderen Erkundigungen notwendig gewesen. Vielmehr hätte schon ihre persönliche Erfahrung zum Verdacht führen müssen, dass ihr die Notstandshilfe in gleichbleibender Höhe möglicherweise nicht zugestanden sei. Das AMS habe daher die Rückzahlungsverpflichtung im Ergebnis zu Recht bejaht.

8 Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung werde gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG abgesehen, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde bzw. dem Vorlageantrag hinreichend geklärt erscheine. Der Sachverhalt sei von der Revisionswerberin nicht substantiell bestritten worden, sondern es sei lediglich ein Vorbringen zur rechtlichen Würdigung des Tatbestandes des Erkennenmüssens erstattet worden. Der entscheidungsrelevante Sachverhalt sei somit weder in wesentlichen Punkten ergänzungsbedürftig noch in entscheidenden Punkten nicht richtig festgestellt gewesen.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Aktenvorlage durch das Bundesverwaltungsgericht und Erstattung einer Gegenschrift durch das AMS in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

1. Zur Zurückweisung:

9 Die Revisionswerberin bekämpft das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts ausdrücklich "seinem gesamten Inhalt nach". Als Revisionspunkt macht sie aber nur die Verletzung im Recht geltend, nicht zum Rückersatz der von ihr erhaltenen Notstandshilfe verpflichtet zu werden. Auch die Ausführungen zum Vorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung und die Revisionsgründe beziehen sich ausschließlich auf die Rückforderung gemäß § 25 Abs. 1 AlVG. Soweit sich die Revision auch gegen die Berichtigung nach (entgegen dem Spruch der Beschwerdevorentscheidung richtig:) § 24 Abs. 1 (nicht Abs. 2) AlVG richtet, war sie gemäß § 34 Abs. 1 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.

2. In der Sache:

10 Unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG macht die Revisionswerberin geltend, dass das Bundesverwaltungsgericht unter anderem insoweit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei, als es keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe.

Damit ist die Revisionswerberin im Recht:

11 Bei Einstellung, Herabsetzung, Widerruf oder Berichtigung einer Leistung ist der Empfänger des Arbeitslosengeldes gemäß § 25 Abs. 1 erster Satz AlVG zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn er den Bezug durch unwahre Angaben oder durch Verschweigung maßgebender Tatsachen herbeigeführt hat oder wenn er erkennen musste, dass die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte. Auf Grund des § 38 AlVG ist diese Bestimmung auch auf die Notstandshilfe anzuwenden.

Der dritte Rückforderungstatbestand des § 25 Abs. 1 erster Satz AlVG ist schon nach dem isolierten Wortlaut der Wendung "wenn er erkennen musste, dass ..." nicht erst dann erfüllt, wenn der Leistungsempfänger die Ungebührlichkeit der Leistung an sich oder ihrer Höhe nach erkannt hat; das Gesetz stellt vielmehr auf das bloße Erkennenmüssen ab und statuiert dadurch eine (freilich zunächst nicht näher bestimmte) Diligenzpflicht. Aus der Gegenüberstellung mit den zwei anderen in § 25 Abs. 1 erster Satz AlVG genannten Rückforderungstatbeständen (unwahre Angaben, Verschweigung maßgebender Tatsachen) wird jedoch deutlich, dass für die Anwendung des dritten Rückforderungstatbestandes eine gegenüber den beiden anderen Tatbeständen abgeschwächte Verschuldensform, nämlich Fahrlässigkeit, genügt. Fahrlässige Unkenntnis davon, dass die Geldleistung nicht oder nicht in der konkreten Höhe gebührt, setzt voraus, dass die Ungebühr bei Gebrauch der (im Sinne des § 1297 ABGB zu vermutenden) gewöhnlichen Fähigkeiten erkennbar gewesen ist. Ob dies zutrifft, ist im Einzelfall zu beurteilen, wobei jedoch der Grad der pflichtgemäßen Aufmerksamkeit weder überspannt noch überdurchschnittliche geistige Fähigkeiten verlangt werden dürfen.

Wie der Verwaltungsgerichtshof ebenfalls bereits wiederholt ausgesprochen hat, ist die allgemeine Vermutung von der Gesetzeskenntnis (§ 2 ABGB) bei Beurteilung der Sorgfaltspflichtverletzung nach § 25 Abs. 1 AlVG nicht ohne weiteres heranzuziehen, weil der Gesetzgeber in dieser Bestimmung nicht schon die Rechtswidrigkeit der Leistungsgewährung allein für die Rückforderung genügen lassen wollte. "Erkennenmüssen" im Sinne des § 25 Abs. 1 AlVG kann daher nicht mit Rechtskenntnis und schon gar nicht mit Judikaturkenntnissen gleichgesetzt werden.

Im Fall des "Erkennenmüssens" handelt es sich definitionsgemäß um Sachverhalte, bei denen in der Regel nicht der Leistungsempfänger, sondern die Behörde selbst den Überbezug einer Leistung verursacht hat. Da die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung dem Unterhalt des Leistungsempfängers zu dienen bestimmt sind und daher mit ihrem laufenden Verbrauch gerechnet werden muss, stellt die Rückforderung einer solchen Leistung in der Regel eine erhebliche Belastung für den Leistungsempfänger dar. Soweit daher der Leistungsempfänger am Entstehen eines Überbezuges nicht mitgewirkt hat, ist es sachlich nicht angebracht, vermeidbare Behördenfehler durch überstrenge Anforderungen an den vom Leistungsempfänger zu beobachtenden Sorgfaltsmaßstab zu kompensieren. Schlechtgläubig im Sinne des hier anzuwendenden Rückforderungstatbestandes ist daher nur ein Leistungsbezieher, der nach den konkret zu beurteilenden Umständen des Einzelfalles ohne weiteres den Überbezug hätte erkennen müssen. Dem Leistungsbezieher muss der Umstand, dass er den Überbezug tatsächlich nicht erkannt hat - ohne dass ihn zunächst besondere Erkundigungspflichten träfen - nach seinen diesbezüglichen Lebens- und Rechtsverhältnissen vorwerfbar sein.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner bisherigen Rechtsprechung zum dritten Rückforderungstatbestand des § 25 Abs. 1 AlVG somit der Sache nach darauf abgestellt, ob der Leistungsbezieher (erkannt hat oder doch) unter Heranziehung eines ihm nach seinen konkreten Lebensumständen zumutbaren Alltagswissens hätte erkennen müssen, dass ihm die Leistung aus der Arbeitslosenversicherung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte (vgl. zum Ganzen etwa das hg. Erkenntnis vom 28. Juni 2006, Zl. 2006/08/0017, mwN).

12 Diese Beurteilung lässt sich entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht auf eine bloße Rechtsfrage reduzieren. Angesichts dessen, dass die Revisionswerberin schon in der (ergänzten) Beschwerde konkret bestritten hatte, dass der Überbezug für sie erkennbar gewesen wäre, hätte das Bundesverwaltungsgericht in einer mündlichen Verhandlung - die ausdrücklich beantragt war - klären müssen, ob der Revisionswerberin vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Verhältnisse tatsächlich eine Sorgfaltspflichtverletzung vorwerfbar war. Die Voraussetzungen für das Absehen von der Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG lagen nicht vor, zumal die Rückforderung einer Leistung aus der Arbeitslosenversicherung in den Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK fällt.

13 Das angefochtene Erkenntnis war daher, soweit mit ihm über die Verpflichtung zum Rückersatz der unberechtigt empfangenen Notstandshilfe abgesprochen wurde, gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

14 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 7. April 2016

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