Normen
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22;
AsylG 2005 §34 Abs4;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs3;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2015:RA2015180031.L00
Spruch:
Das erstangefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Die übrigen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.1. Die revisionswerbenden Parteien, alle irakische Staatsangehörige, sind Angehörige einer Familie bestehend aus der Mutter (Erstrevisionswerberin) und ihren fünf minderjährigen Kindern (den zweit- bis sechstrevisionswerbenden Parteien). Die Erstrevisionswerberin stellte am 10. Jänner 2014 bei der österreichischen Botschaft in Ankara für sich und ihre fünf Kinder Anträge auf Einreise gemäß § 35 AsylG 2005 bezogen auf ihren Ehemann bzw. den Vater der Kinder, dem in Österreich der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden war. Nachdem die revisionswerbenden Parteien am 24. Juli 2014 mit einem österreichischen Visum in das österreichische Bundesgebiet eingereist waren, beantragten sie am 28. Juli 2014 internationalen Schutz.
Die Erstrevisionswerberin gab zunächst an, die Familie sei im Irak sehr gefährdet und ihr Leben bedroht. Sie wolle mit ihrem Mann in Österreich zusammenleben. Sonstige Fluchtgründe habe die Familie keine.
2. Mit Bescheiden vom 1. September 2014 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, erkannte den revisionswerbenden Parteien den Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 zu und erteilte ihnen jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
Im Wesentlichen begründete es seine Entscheidung damit, dass es nicht glaubhaft sei, dass den revisionswerbenden Parteien Verfolgung drohe, es sei ihnen aber im Rahmen des Familienverfahrens gemäß § 34 Abs. 3 AsylG 2005 (im Hinblick auf den Schutzstatus des Ehemannes bzw. Vaters) der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen.
3. In der gegen den verwaltungsbehördlichen Bescheid erhobenen gemeinsamen Beschwerde beantragten die revisionswerbenden Parteien die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) und brachten unter Hinweis auf die notorisch bekannten Kämpfe zwischen der Terrormiliz IS, irakischer Armee und der Kurden in der Herkunftsregion der revisionswerbenden Parteien ergänzend vor, das BFA habe nicht ausreichend ermittelt, ob ihnen aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen bzw. Kinder, welche aus einem massiv umkämpften Gebiet stammen, Verfolgung drohe. Zumindest die älteren minderjährigen Revisionswerber müssten Zwangsrekrutierung befürchten, ohne ausreichenden staatlichen Schutz davor erhalten zu können. Auch die Situation der Frauen habe sich verschlechtert und es komme verstärkt zu Vergewaltigungen und Übergriffen durch die Kämpfer des IS. Zudem werde angenommen, dass die jüngste Blitzoffensive des IS, die es ihnen ermöglicht habe, innerhalb kurzer Zeit Mossul und andere Gebiete einzunehmen, nur durch die Unterstützung von ehemaligen Baathisten möglich gewesen sei. Da der Ehemann der Erstrevisionswerberin Mitglied der Baath-Partei und Angehöriger der irakischen Armee gewesen sei, müssten die revisionswerbenden Parteien als dessen Familienangehörige befürchten, Opfer von Racheakten zu werden, einerseits aufgrund der unterstellten politischen Gesinnung (dass sie als Araber und Sunniten die IS unterstützten, selbst wenn dies überhaupt nicht zutreffe) bzw. als stellvertretende Verfolgung, weil ehemaligen Baathisten (wie dem Ehemann bzw. Vater der Revisionswerber) vorgeworfen werde, das Vorrücken des IS und die erfolgten Massaker ermöglicht zu haben.
4. Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das BVwG die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
In seiner Beweiswürdigung führte das BVwG aus, dass die Erstrevisionswerberin bei ihrer Einreise vorgebracht habe, den Irak deshalb verlassen zu haben, weil sie mit den Kindern bei ihrem seit 2011 in Österreich aufhältigen und subsidiär schutzberechtigten Ehemann habe leben wollen. Individuellen Verfolgungen seien weder die Erstrevisionswerberin noch ihre Kinder bis zur Ausreise ausgesetzt gewesen. Erst in der Beschwerde habe die Erstrevisionswerberin "darüber hinaus" auf mögliche Probleme hingewiesen, die sie und ihre Kinder im Irak wegen des Umstandes, dass ihr Ehegatte und Vater ihrer Kinder unter Saddam Hussein Soldat und Mitglied der Baath-Partei gewesen sei, bekommen könnten. Dazu sei unter Verweis auf die Erwägungen des BVwG im Erkenntnis betreffend den Ehegatten der Erstrevisionswerberin festzuhalten, dass schon dem Ehegatten der Erstrevisionswerberin die behauptete Bedrohung aufgrund seiner ehemaligen Parteizugehörigkeit nicht geglaubt worden sei. Das von der Erstrevisionswerberin erstmals in der Beschwerde behauptete Fluchtvorbringen stelle sich "bei näherer Betrachtung als bloße Vorbringenssteigerung bzw. Schutzbehauptung dar, zumal dieses Vorbringen bzw. diese Vermutungen lediglich in den Raum gestellt wurden, ohne diese näher auszuführen oder zu begründen".
Eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil die "Betrachtung des von der belangten Behörde durchgeführten Ermittlungsverfahrens nicht den geringsten Zweifel an der fehlenden Asylrelevanz der Angaben (...) zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates aufkommen lässt und auch in der Beschwerde keine substantiierten Angaben gemacht wurden, die geeignet gewesen wären, diese Betrachtung zu entkräften oder die Beurteilung der belangten Behörde zweifelhaft erscheinen zu lassen."
5. Gegen diese Erkenntnisse wenden sich die vorliegenden außerordentlichen Revisionen, in denen zur Zulässigkeit vorgebracht wird, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht abgewichen, weil die revisionswerbenden Parteien in der Beschwerde neue Fakten vorgetragen hätten, die nicht bereits Gegenstand des verwaltungsbehördlichen Verfahrens gewesen wären. Diese neuen Sachverhaltselemente hätte das BVwG veranlassen müssen, den Sachverhalt korrekt zu ermitteln und erst dann eine Entscheidung zu treffen.
6. Das BFA nahm von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand.
II.1. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revisionen wegen ihres sachlichen und persönlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden und erwogen:
- 2. Die Revisionen sind zulässig und begründet.
- 3. Es ist unbestritten, dass die revisionswerbenden Parteien in ihrer gegen den verwaltungsbehördlichen Bescheid erhobenen Beschwerde ein neues Vorbringen erstattet haben.
Das BVwG hat dieses Vorbringen jedoch nicht etwa unter Hinweis auf das Neuerungsverbot nach § 20 BFA-VG als unzulässig oder irrelevant erachtet, sondern sich - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit diesem Vorbringen inhaltlich auseinandergesetzt und ihm die Glaubwürdigkeit abgesprochen. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Abhaltung einer Beschwerdeverhandlung hat es dabei unter Hinweis auf § 21 Abs. 7 BFA-VG verneint, obwohl nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes seit dem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, auf dessen Gründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, von einer Verhandlungspflicht auszugehen gewesen wäre. So ist insbesondere auf Grund der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde nicht davon auszugehen, dass die "Betrachtung des von der belangten Behörde durchgeführten Ermittlungsverfahrens nicht den geringsten Zweifel an der fehlenden Asylrelevanz der Angaben (...) zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates aufkommen lässt", weil das Beschwerdevorbringen neue, konkrete Tatsachenbehauptungen beinhaltete, die nicht Gegenstand des verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens waren.
4. Das erstangefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 1 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
5. Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. etwa VwGH vom 13. November 2014, Ra 2014/18/0011 bis 0016, 0083). Die übrigen angefochtenen Erkenntnisse waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.
6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 29. Juni 2015
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