European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2015080095.L00
Spruch:
Die angefochtenen Beschlüsse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhalts aufgehoben.
Begründung
1.1. Die Revisionswerberin stellte mit Bescheid vom 7. Mai 2014 fest, dass die 2. bis 21. mitbeteiligten Parteien in bestimmten Zeiträumen in den Jahren 2008 bis 2011 auf Grund ihrer in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit als Dienstnehmer des Erstmitbeteiligten ausgeübten entgeltlichen Tätigkeit (Taxifahrer) der Pflichtversicherung (Vollversicherung) in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung nach § 4 Abs. 1 und 2 iVm. §§ 471a bis 471c ASVG sowie der Arbeitslosenversicherung nach § 1 Abs. 1 lit. a AlVG unterlegen seien. Die Revisionswerberin führte begründend aus, im Rahmen der vorgenommenen Sozialversicherungsprüfung seien - wie schon bei vorangehenden Kontrollen durch die Finanzpolizei - Melde- und Beitragsdifferenzen in Ansehung der Dienstnehmer festgestellt worden. Der Erstmitbeteiligte habe trotz mehrfacher Aufforderung die für die Beurteilung der Versicherungsverhältnisse (die Dienstnehmereigenschaft an sich sei nicht bestritten worden, wohl aber das Überschreiten der Geringfügigkeitsgrenze) notwendigen Unterlagen nicht vorgelegt. Im Hinblick darauf sei die Revisionswerberin mit einer Schätzung nach § 42 Abs. 3 ASVG vorgegangen. Sie habe dabei die vom Erstmitbeteiligten geführten "Fahrtenhefte", die dem Finanzamt gemeldeten Kilometerleistungen und Umsatzerlöse, die Preislisten, die Lohn- und Buchhaltungsunterlagen, die Einnahmen- und Ausgabenrechnungen, die Vereinbarungen über die Schülerfreifahrten, den Prüfbericht über die Sozialversicherungsprüfung, die Niederschrift über die Schlussbesprechung, die niederschriftliche Einvernahme des Erstmitbeteiligten im Zuge der Sozialversicherungsprüfung, die Ergebnisse der vorangehenden finanzpolizeilichen Kontrollen betreffend die 3., 8. und 9. mitbeteiligten Parteien - insbesondere die dabei ermittelten detaillierten Aufzeichnungen des Drittmitbeteiligten, die niederschriftliche Einvernahme der betreffenden Dienstnehmer, die Angaben des Erstmitbeteiligten und der Organe der Finanzpolizei - sowie die Ergebnisse der diesbezüglichen Verfahren (rechtskräftige verwaltungsstrafrechtliche Verurteilung des Erstmitbeteiligten und rechtskräftige Verhängung von Beitragszuschlägen wegen Meldepflichtverletzungen, rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung des Drittmitbeteiligten wegen betrügerischen Leistungsbezugs aus der Arbeitslosenversicherung) berücksichtigt. Die auf dieser Grundlage erfolgte (eingehend erörterte) Schätzung nach § 42 Abs. 3 ASVG habe letztlich zum Ergebnis geführt, dass die Dienstnehmer die Geringfügigkeitsgrenze überschritten hätten. Folglich sei festzustellen gewesen, dass sämtliche Dienstnehmer der Pflichtversicherung (Vollversicherung) in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung sowie der Arbeitslosenversicherung unterlegen seien.
1.2. Mit weiterem Bescheid vom 7. Mai 2014 verpflichtete die Revisionswerberin den Erstmitbeteiligten, die im Zuge der Sozialversicherungsprüfung auf Grund der festgestellten Melde- und Beitragsdifferenzen nachverrechneten Sozialversicherungsbeiträge von EUR 90.357,46 zuzüglich Verzugszinsen von EUR 24.628,20, zusammen daher EUR 114.985,66, zu entrichten.
2. Der Erstmitbeteiligte erhob gegen die Bescheide Beschwerden mit dem Vorbringen, die grundsätzliche Zulässigkeit einer Schätzung werde nicht in Abrede gestellt, bekämpft werde jedoch deren Form bzw. Höhe. So wäre eine andere Methode (Betriebsvergleich nach durchschnittlichen Kilometerpreisen) anzuwenden gewesen; eine Hinzurechnung auf Grund der Aufzeichnungen des Drittmitbeteiligten auch bei den anderen Dienstnehmern sei nicht gerechtfertigt.
3.1. Mit den angefochtenen Beschlüssen behob das Verwaltungsgericht in Stattgebung der Beschwerden die bekämpften Bescheide und verwies die Rechtssachen gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG an die Revisionswerberin zur Erlassung neuer Bescheide zurück.
3.2. Das Verwaltungsgericht führte im Beschluss betreffend die Feststellung der Pflichtversicherung aus, zwar bestünden keine Bedenken gegen die von der Revisionswerberin vorgenommene Schätzung auf Basis der Gesamtumsätze. Allerdings lägen Bedenken insoweit vor, als eine gleichmäßige Aufteilung der geschätzten Erlöse auf sämtliche Dienstnehmer erfolgt sei bzw. das unterschiedliche Beschäftigungsausmaß nicht ermittelt worden sei. Richtiger Weise wären die einzelnen Dienstnehmer zu ihrem verschiedenen Beschäftigungsausmaß einzuvernehmen gewesen bzw. wäre ihnen Gelegenheit zur Äußerung im Rahmen des Parteiengehörs zu geben gewesen. Eine Berücksichtigung des unterschiedlichen Beschäftigungsausmaßes hätte bei einigen Dienstnehmern dazu geführt, dass nur ein geringfügiges Dienstverhältnis anzunehmen wäre.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (Hinweis auf VwGH 26.6.2014, Ro 2014/03/0063) hätten die Verwaltungsgerichte grundsätzlich meritorisch zu entscheiden und könnten von der Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken (etwa wenn die Behörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen, völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt habe) Gebrauch machen. Vorliegend seien die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung gegeben, habe doch die Revisionswerberin den Sachverhalt im Sinn des Vorgesagten bloß ansatzweise ermittelt, indem sie die Dienstnehmer nicht einvernommen und ihnen auch kein Parteiengehör gewährt habe, worin eine besonders gravierende Ermittlungslücke zu erblicken sei. Die erstmalige Sachverhaltsermittlung durch das Verwaltungsgericht unter Heranziehung von durch die Revisionswerberin vorzunehmenden Berechnungen würde den Rechtsschutz einschränken bzw. den Instanzenzug unterlaufen. Die Vornahme der Ermittlungen durch das Verwaltungsgericht selbst verbiete sich auch aus Gesichtspunkten der Effizienz. Die Ergänzung der Ermittlungen durch die Revisionswerberin wäre jedenfalls mit größerer Raschheit durchführbar und mit geringeren Kosten verbunden. Nicht zuletzt verfüge das Verwaltungsgericht auch nicht über die Mittel (Daten, EDV-Programme), um eine exakte Berechnung der nachzuentrichtenden Beiträge vorzunehmen.
3.3. Im Beschluss betreffend die Verpflichtung zur Beitragsnachentrichtung hielt das Verwaltungsgericht im Wesentlichen fest, der Bescheid über die Feststellung der Pflichtversicherung sei gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG behoben worden, sodass auch der darauf basierende Bescheid über die Verpflichtung zur Entrichtung der nachverrechneten Beiträge keinen Bestand haben könne.
3.4. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
4.1. Gegen diese Beschlüsse wenden sich die außerordentlichen Revisionen mit einem Aufhebungsantrag.
Die Revisionswerberin macht als Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG geltend, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen. Die Revisionswerberin habe eine ausreichende Ermittlungstätigkeit in Bezug auf den wesentlichen Sachverhalt entfaltet und umfassende Ermittlungsergebnisse herangezogen, woraus eindeutige Rückschlüsse auf die Beschäftigungszeiten und Einkünfte der Dienstnehmer im Rahmen der durchzuführenden Schätzung zu ziehen gewesen seien. Der Sachverhalt sei daher umfassend und vollständig geklärt, weitere Beweisaufnahmen seien nicht erforderlich (gewesen). Auch eine Verletzung des Parteiengehörs habe nicht stattgefunden bzw. wäre vom Verwaltungsgericht selbst zu sanieren gewesen. Folglich seien die Voraussetzungen für eine Behebung und Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nicht vorgelegen, das Verwaltungsgericht hätte eine meritorische Entscheidung treffen müssen.
4.2. Die 1. bis 14. mitbeteiligten Parteien erstatteten eine Revisionsbeantwortung.
5. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Verbindung der Rechtssachen zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Die Revisionen sind zulässig und berechtigt, weil das Verwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofs abgewichen ist.
6. Zu den für kassatorische Entscheidungen nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG geltenden Voraussetzungen ist auf das schon erwähnte hg. Erkenntnis Ro 2014/03/0063 zu verweisen (§ 43 Abs. 2 VwGG).
Demnach ist ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte gesetzlich festgelegt. Die nach § 28 VwGVG verbleibenden Ausnahmen von der meritorischen Entscheidungspflicht sind strikt auf den ihnen gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden. Eine Zurückverweisung zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte bestehen, dass die Verwaltungsbehörde Ermittlungen unterlassen hat, damit diese durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. VwGH 16.10.2015, Ra 2015/08/0042).
Der Verwaltungsgerichtshof hat ferner bereits hervorgehoben, dass selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, keine Zurückverweisung rechtfertigen, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allfälligen mündlichen Verhandlung (§ 24 VwGVG) zu vervollständigen sind (vgl. VwGH 10.9.2014, Ra 2014/08/0005). Auch der Umstand, dass gegebenenfalls (weitere) Vernehmungen erforderlich sind, rechtfertigt im Allgemeinen nicht die Zurückverweisung, vielmehr sind die Vernehmungen vom Verwaltungsgericht - zweckmäßiger Weise im Rahmen einer mündlichen Verhandlung - durchzuführen (vgl. VwGH 22.6.2016, Ra 2016/03/0027).
7.1. Vorliegend sind Ermittlungsmängel, die eine Aufhebung und Zurückverweisung durch das Verwaltungsgericht im soeben aufgezeigten Sinn rechtfertigen könnten, nicht zu sehen. Wie aus den Verwaltungsakten hervorgeht, hat die Revisionswerberin den Ausgangsbescheiden vom 7. Mai 2014 umfangreiche Ermittlungsergebnisse zum maßgeblichen Sachverhalt zugrunde gelegt (vgl. bereits Punkt 1.1.). Auf Grundlage dieser brauchbaren Ermittlungsergebnisse kann das Verwaltungsgericht - allenfalls nach Vervollständigung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung (§ 24 VwGVG) - die wesentlichen Tatsachenfeststellungen treffen, um das Vorliegen der Voraussetzungen für die gegenständlichen Ansprüche beurteilen zu können. Von bloß ansatzweisen Ermittlungen (im Sinn des Vorliegens krasser bzw. besonders gravierender Lücken) kann entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts im Hinblick auf die vorliegenden Erhebungsergebnisse keine Rede sein.
7.2. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts traf die Revisionswerberin auch keine Verpflichtung, vor einer Schätzung gemäß § 42 Abs. 3 ASVG jedenfalls die betreffenden Dienstnehmer über die geleisteten Arbeitszeiten zu befragen. Die Behörde ist nämlich nicht verpflichtet, zum Zweck der Rekonstruktion von Aufzeichnungen, die vom Dienstgeber rechtswidriger Weise nicht geführt wurden, ein Ermittlungsverfahren durchzuführen. Das Gesetz erlaubt vielmehr, bei Fehlen solcher Unterlagen sogleich mit Schätzung vorzugehen (vgl. VwGH 21.6.2000, 95/08/0050).
7.3. Eine Zurückverweisung kann ferner nicht darauf gestützt werden, dass die Revisionswerberin das den Dienstnehmern auf Grund ihrer Parteistellung (vgl. VwGH 25.6.2013, 2013/08/0021) zustehende Parteiengehör verletzt habe. Eine Verletzung des Parteiengehörs durch die erste Instanz ist nämlich dann als saniert anzusehen, wenn die Partei Gelegenheit gehabt hat, zu den Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens im Rechtsmittel gegen den (eine ausreichende Darstellung der Beweisergebnisse enthaltenden) erstinstanzlichen Bescheid Stellung zu nehmen (vgl. VwGH 9.5.2017, Ro 2014/08/0065). Davon ist hier auszugehen, hätten doch die Dienstnehmer den (ausführlich begründeten) Bescheid auf Feststellung der Pflichtversicherung bekämpfen können, sodass eine Verletzung des Parteiengehörs jedenfalls als geheilt anzusehen ist.
7.4. Eine Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG ist auch nicht etwa aus Gesichtspunkten der Effizienz geboten, ist doch die Vornahme ergänzender Ermittlungen durch das Verwaltungsgericht fallbezogen jedenfalls im Interesse der Raschheit gelegen (vgl. dazu näher VwGH 19.1.2017, Ro 2014/08/0084).
Die vom Verwaltungsgericht geäußerte Befürchtung eines Unterlaufens des Instanzenzugs ist ebensowenig begründet; die Zurückverweisung ist keineswegs geboten, um den Mitbeteiligten ein effektives Rechtsmittel zu ermöglichen, ist doch ein hinreichender Rechtsschutz jedenfalls gewährleistet (vgl. VwGH 28.2.2018, Ra 2015/08/0043, mwN).
7.5. Was schließlich die Behauptung betrifft, das Verwaltungsgericht verfüge über keine hinreichenden Mittel (Daten, EDV-Programme), um eine exakte Berechnung der nachzuentrichtenden Beiträge selbst vorzunehmen, so ist es dem Verwaltungsgericht unbenommen, sich entweder der - sofern benötigten - Expertise der Revisionswerberin oder allenfalls anderer sachverständiger Personen zu bedienen.
8. Insgesamt hat daher das Verwaltungsgericht zu Unrecht eine kassatorische Entscheidung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG getroffen, weshalb die angefochtenen Beschlüsse gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhalts aufzuheben waren.
Wien, am 27. Dezember 2018
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