VwGH 99/01/0446

VwGH99/01/044618.2.2003

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Köller als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Nichtowitz, über die Beschwerde des S, geboren 1972, vertreten durch Dr. Paul Delazer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Maximilianstraße 2, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 12. November 1999, Zl. 212.045/0-XI/33/99, betreffend § 5 Abs. 1 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §5 Abs1 idF 1999/I/004;
AsylG 1997 §5 idF 1999/I/004;
Dubliner Übk 1997 Art3 Abs4;
MRK Art3;
MRK Art8;
AsylG 1997 §5 Abs1 idF 1999/I/004;
AsylG 1997 §5 idF 1999/I/004;
Dubliner Übk 1997 Art3 Abs4;
MRK Art3;
MRK Art8;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der (damaligen) Bundesrepublik Jugoslawien aus dem Kosovo, ist am 4. September 1998 in das Bundesgebiet eingereist und hat am 11. September 1998 einen Antrag auf Gewährung von Asyl gestellt. Bei seinen Einvernahmen am 8. September 1998 bei der Bundespolizeidirektion Salzburg und am 7. Oktober 1998 beim Bundesasylamt gab er zu seinem Fluchtweg befragt im Wesentlichen übereinstimmend an, er sei vom Kosovo kommend über Slowenien und Italien durch Österreich (Tirol) nach Deutschland gereist, wo er festgenommen und nach Österreich zurückgestellt worden sei.

Über Ersuchen des Bundesasylamtes erklärte sich Italien am 11. Mai 1999 bereit, zwecks Prüfung des Asylantrages des Beschwerdeführers im Hinblick auf die Zuständigkeit nach Art. 6 des Übereinkommens über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrages (Dubliner Übereinkommen - DÜ), den Beschwerdeführer einreisen zu lassen.

In einem Schreiben vom 2. Juni 1999 brachte der Vertreter des Beschwerdeführers vor, der Beschwerdeführer leide unter schweren Depressionen. Er sei nach seiner Flucht aus dem Kosovo und nach mehrwöchiger Schubhaft völlig entwurzelt; ob die Mitglieder seiner Familie noch am Leben seien, wisse er nicht. In seiner derzeitigen Betreuungsstelle habe er Kontakt mit "Leidensgenossen", der bei einer Ausweisung nach Italien neuerlich zerstört würde und beim Beschwerdeführer Selbstmordgefahr verursachen würde. Mit diesem Schreiben legte der Vertreter des Beschwerdeführers dem Bundesasylamt ein Attest eines Facharztes für Psychiatrie und Neurologie vom 31. Mai 1999 vor, in dem es heißt, der Beschwerdeführer werde "wegen einer sehr schweren depressiven Reaktion im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung" psychiatrisch betreut und medikamentös behandelt. Er brauche eine kontinuierliche psychiatrische Betreuung; seine Gesundheit würde auf Grund seiner labilen Persönlichkeitsstruktur durch einen neuerlichen Orts- und Umgebungswechsel, wie die drohende Abschiebung nach Italien, "schwerst gefährdet, es könnte durch die Dekompensation auch zu einem Suizid kommen". Der Beschwerdeführer habe sich durch seinen mehrmonatigen Aufenthalt in Österreich etwas stabilisiert und offenbar eine massive Übertragung auf einen "Mitkollegen" entwickelt, von dem er in gewisser Weise nun psychisch abhängig sei. "Eine Trennung von diesem würde eben mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zur völligen Dekompensation führen. Aus diesen Gründen ist aus fachärztlicher-psychiatrischer Sicht von einer Ortsveränderung und Wechsel der Bezugspersonen absolut

u. dringend abzuraten, da dies eben unabsehbare Folgen hat u. bis zum Selbstmord führen könnte."

Mit Bescheid vom 4. August 1999 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurück. Für die Prüfung des Asylantrages sei gemäß Art. 6 DÜ Italien zuständig. Der Beschwerdeführer werde aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. In der Begründung dieses Bescheides ging das Bundesasylamt auf das Vorbringen in dem eben genannten Schreiben sowie auf den Inhalt des ärztlichen Attestes nicht ein.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, dass er auf Grund seines gesundheitlichen (psychischen) Zustandes nicht abschiebbar sei. Die privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem Aufenthalt in Österreich überwögen die öffentlichen Interessen an einer "Außerlandesschaffung", was im Hinblick auf Art. 8 EMRK zu berücksichtigen gewesen wäre.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung "gemäß § 5 Abs. 1 AsylG" ab. In der Begründung stellte die belangte Behörde fest, der Beschwerdeführer habe keine Familienangehörigen, denen in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei und verfüge weder über eine Aufenthaltserlaubnis noch über ein Visum eines "Vertragsstaates". Italien habe sich bereit erklärt, den Beschwerdeführer zurückzunehmen und seinen Asylantrag inhaltlich zu prüfen. Daraus ergebe sich der Gegenstand des Berufungsverfahrens, nämlich die Zurückweisung des Asylantrages wegen vertraglicher Zuständigkeit eines anderen Staates. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG sei ein nicht gemäß § 4 erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich zur Prüfung des Asylantrages zuständig sei. Bei dem erwähnten Vertrag handle es sich um das DÜ, Vertragsparteien dieses Übereinkommens seien sowohl Österreich als auch Italien. Gemäß Art. 6 DÜ sei jener Mitgliedsstaat für die Prüfung des Asylantrages zuständig, über den der Asylwerber nachweislich eingereist sei, wenn er aus einem Drittstatt die Grenze eines Mitgliedsstaates illegal auf dem Land-, See- oder Luftweg überschritten habe. Der Beschwerdeführer habe von Slowenien kommend auf dem Landweg illegal die Grenze zu Italien überschritten und sei von dort nach Österreich eingereist, weshalb Art. 6 DÜ im vorliegenden Fall zur Anwendung komme. Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens sei die Zurückweisung des Asylantrages wegen vertraglicher Zuständigkeit eines anderen Staates, weshalb von der Prüfung des psychischen Zustandes des Asylwerbers abzusehen gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe auch keine familiäre Nahebeziehung zu Österreich geltend gemacht, weshalb eine Prüfung im Hinblick auf Art. 8 EMRK entbehrlich erschienen sei.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

Der Beschwerdeführer wiederholt in der Beschwerde seine bereits im Verwaltungsverfahren aufgestellte Behauptung, seine Abschiebung nach Italien sei aus medizinischen Gründen nicht durchführbar. Rechtswidrig sei der angefochtene Bescheid schon deshalb, weil es die belangte Behörde, in der Annahme, Gegenstand des Berufungsverfahrens sei alleine die Zurückweisung des Asylantrages wegen vertraglicher Zuständigkeit eines anderes Staates, unterlassen habe, Feststellungen über den psychischen Zustand des Beschwerdeführers zu treffen.

Mit diesen Ausführungen ist der Beschwerdeführer im Recht:

Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23. Jänner 2003, Zl. 2000/01/0498, in Abkehr von seiner bisherigen Judikatur, wonach § 5 AsylG keiner verfassungskonformen Auslegung im Sinne einer Bedachtnahme auf Art. 3 oder Art. 8 EMRK zugänglich sei und dem Asylwerber (Antragsteller) kein subjektiv-öffentliches Recht auf Eintritt eines nach dem Wortlaut des DÜ unzuständigen Mitgliedsstaates (Österreich) in die Prüfung des Asylantrages zustehe (von welchen Rechtssätzen im vorliegenden Fall offensichtlich auch die belangte Behörde ausgegangen ist) ausgesprochen, dass die Asylbehörde einen Asylantrag nur dann nach § 5 Asylgesetz zurückweisen dürfe, wenn dadurch vor dem Hintergrund des - fallbezogen - Art. 8 EMRK mit einer solchen Zurückweisung kein Eingriff in das Privat- und Familienleben des Asylwerbers verbunden wäre. Wie sich aus dem Verweis im genannten Erkenntnis eines verstärkten Senates - auf dessen nähere Begründung gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird - auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 8. März 2001, G 117/00 u.a., ergibt, gilt das zu Art. 8 EMRK Gesagte auch im Falle einer Verletzung von Art. 3 EMRK, nach welcher Bestimmung niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf. Behauptet demnach ein Asylwerber einen Sachverhalt in diese Richtung, hat die Asylbehörde nun zu prüfen, ob mit einer Zurückweisung nach § 5 Abs. 1 AsylG eine Verletzung des Art. 3 EMRK verbunden wäre. Bejahendenfalls bestünde - wie im Falle einer Verletzung von Art. 8 EMRK - eine Pflicht der Asylbehörde zum Selbsteintritt in die materielle Prüfung des Asylantrages (vgl. Art. 3 Abs. 4 DÜ).

Nach den Behauptungen des Beschwerdeführers und nach dem Inhalt des vorgelegten fachärztlichen Befundes, wonach der Beschwerdeführer an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide und von einer in Österreich aufhältigen Person psychisch abhängig sei, was im Falle der Abschiebung bis zum Selbstmord führen könnte, ist es (deren Zutreffen vorausgesetzt) nicht ausgeschlossen, dass bei einer Zurückweisung des Asylantrages des Beschwerdeführers und seiner damit verbundenen Abschiebung eine Verletzung der genannten Bestimmungen der EMRK vorläge. Die belangte Behörde wäre daher verhalten gewesen, zu den Behauptungen Feststellungen zu treffen und diese dann einer rechtlichen Beurteilung dahin zu unterziehen, ob die Abschiebung des Beschwerdeführers eine solche Verletzung mit sich brächte (vgl. zu Art. 3 EMRK etwa das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. August 2001, Zl. 2000/01/0443, wo unter anderem auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte verwiesen wird, nach dem die Außerlandesschaffung eines sich im fortgesetzten Stadium einer dauerhaften und unheilbaren Erkrankung (Aids) befindlichen Asylwerbers, für den - abgesehen von weiteren "außergewöhnlichen Umständen" - der abrupte Entzug der medizinischen und psychologischen Behandlung höchst dramatische Konsequenzen gehabt hätte, eine unmenschliche Behandlung darstellte).

Bei Bedachtnahme auf das erwähnte Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23. Jänner 2003, das der belangten Behörde im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides noch nicht vorlag, erweist sich der angefochtene Bescheid als inhaltlich rechtswidrig und war gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001.

Wien, am 18. Februar 2003

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