Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund (Bundesministerium für Inneres) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Türkei, reiste gemeinsam mit ihrem 1985 geborenen Sohn am 18. September 1995 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 20. September 1995 Asyl. Bei ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 26. September 1995 beschrieb sie ihre Fluchtgründe wie folgt:
"Ich bin Kurdin und Alewitin. Ich lebte in M, Provinz Tunceli, und herrscht in dieser Provinz der Ausnahmezustand. Mein Ehegatte, ÖM, 1.3.1960 geb., arbeitete in meiner Heimatstadt als Kellner. Mein Ehegatte und ich hatten eigentlich nie Probleme mit den türkischen Behörden. Am 28.8.1994 ereignete sich dann folgender Vorfall: Mein Ehegatte befand sich mit 2 anderen Kellnern nach Dienstschluß auf dem Nachhauseweg, als er von türk. Soldaten erschossen wurde. Die Soldaten eröffneten ohne Vorwarnung das Feuer. Mein Gatte konnte noch den Soldaten zurufen, daß sie das Feuer einstellen sollen, trotzdem haben sie weitergeschossen und ihn getötet. Die beiden anderen wurden getroffen und haben den Vorfall schwer verletzt überlebt. Zu diesem Zeitpunkt hielt ich mich mit meinem Sohn in unserem Haus auf und konnte ich die Schüsse hören. Mein Sohn lief auf die Straße und wollte zu seinem sterbenden Vater laufen. Dabei wurde er von den Soldaten mit dem Gewehrkolben auf den Kopf geschlagen und wurde bewußtlos.
Über den Vorfall wurde in der Zeitung Özgür Ülke, vom 3.9.1994 berichtet und kann ich die Zeitung als Beweis vorlegen.
In der Provinz Tunceli gibt es nach 20.30 Uhr eine Ausgangssperre. Normalerweise verständigten mein Gatte und seine Kollegen vor dem Verlassen des Lokales den zuständigen Polizeiposten und gaben die Polizisten die Meldung an die Soldaten weiter. Dadurch war gewährleistet, daß ihnen auf dem Nachhauseweg nichts passiert. An diesem einen Tag haben sie ebenfalls die Polizisten verständigt, nur haben diese die Meldung an die Soldaten nicht weitergegeben.
Ich vermute, daß die Polizisten nicht nur an diesem einen Tag die Weitermeldung unterlassen haben, sondern es kam dies öfters vor. Auf diese Art und Weise soll gegen die kurdische Zivilbevölkerung vorgegangen werden und diese zum Verlassen des Gebietes aufgefordert werden.
Ich habe mich wegen des Mordes an meinem Mann an die Staatsanwaltschaft gewandt und wurde ein Verfahren gegen einen unbekannten Soldaten eingeleitet. Das Verfahren ist bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen.
Laut einer ursprünglichen Sachverhaltsfeststellung der Staatsanwaltschaft hätten die Gendarmen erst das Feuer erwidert. In der Nähe des Tatortes wurde ein Gewehr sichergestellt. Diese Schußwaffe wurde mit Sicherheit von den Soldaten im nachhinein dort hingelegt.
Die beiden Überlebenden wurden bei der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachtes von Terrorismus bei Gericht angezeigt und beide wurden am 28.2.1995 jedoch freigesprochen.
Damit wurde bestätigt, daß mein Ehegatte und die beiden anderen Kellner als unschuldige Personen von den Soldaten angegriffen worden waren.
Nach dem Vorfall wurde ich öfters von den Soldaten belästigt und haben sie auch die Fensterscheiben meines Hauses eingeschlagen. Ca. 1 Monat nach dem Vorfall übersiedelte ich ein anderes Haus in das Zentrum von M.
Bis zu meiner Ausreise gab es dann keine Vorfälle. Vor 3 Tagen wurde mir von meiner Schwiegermutter telef. mitgeteilt, daß unser mittlerweile leerstehendes Haus von den Soldaten unter Beschuß genommen wurde.
Ich konnte auch nicht in einem anderen Teil in der Türkei Aufenthalt nehmen, da dort für mich keine Lebensgrundlage gegeben wäre. In meinem Heimatort lebte ich von der Landwirtschaft. Von einem Abgeordneten wurde gegenüber dem Innenminister und der Ministerpräsidentin eine Entschädigung für mich gefordert, erhalten habe ich jedoch nichts. Diesen Brief kann ich als Beweis vorlegen und werde ich eine Übersetzung veranlassen.
Bei einer Rückkehr in die Türkei habe ich Angst um das Leben meines Kindes.
Bezüglich dem Vorfall vom 28.8.1994 kann ich als Zeugin meine in Wien lebende Nichte AF, 1.9.1966 geb., anführen. Sie hielt sich zum damaligen Zeitpunkt in ihrer Heimat auf.
Anmerkung: Genannte ist während der Vernehmung als Vertrauensperson anwesend und bestätigt den Vorfall."
Zum Vorfall am 28. August 1994 legte die Beschwerdeführerin einen Zeitungsartikel und das Schreiben des Abgeordneten Kamer Genc (je mit Übersetzung vom 2. Oktober 1995 in den erstinstanzlichen Akten erliegend) sowie vier weitere Urkunden in türkischer Sprache vor, die sich nur mit den deutschsprachigen Bezeichnungen "Anzeige an Staatsanwaltschaft gegen unbekannte Täter", "Gendarmeriebericht", "Sachverhaltsdarstellung der Staatsanwaltschaft" und "Gerichtsurteil über Freispruch der beiden verletzten Personen" versehen in den erstinstanzlichen Verwaltungsakten befinden.
Mit Bescheid vom 28. September 1995, der Beschwerdeführerin zugestellt am 2. Oktober 1995, wies das Bundesasylamt den Asylantrag ab.
Die von der Beschwerdeführerin dagegen erhobene Berufung
wurde von der belangten Behörde mit Bescheid vom 19. Oktober 1995 abgewiesen.
Hiegegen erhob die Beschwerdeführerin die zur hg.
Zl. 95/20/0748 protokollierte Beschwerde.
Mit Schriftsatz vom 22. Jänner 1997, beim Bundesasylamt eingelangt am 23. Jänner 1997, beantragte die Beschwerdeführerin die Wiederaufnahme des Verfahrens mit der Begründung, "nunmehr" sei in M auch ihre Schwiegermutter von der Gendarmeriewache erschossen worden, wobei die Behörden versucht hätten, den Mord zu vertuschen, indem sie behauptet hätten, die Schwiegermutter der Beschwerdeführerin sei durch Schüsse von PKK-Terroristen und nicht der Gendarmeriewache ums Leben gekommen. Die Beschwerdeführerin habe von dem Vorfall am 9. Jänner 1997 durch Übermittlung eines von ihr in Kopie und Übersetzung vorgelegten Zeitungsartikels erfahren.
Gestützt auf den neuen Sachverhalt stellte die Beschwerdeführerin in diesem Schriftsatz in eventu auch einen neuen Asylantrag.
Der Wiederaufnahmeantrag der Beschwerdeführerin wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom 13. März 1997 mit der Begründung abgewiesen, der geltend gemachte Wiederaufnahmegrund sei ein "novum productum". Gegen diese Entscheidung wurde keine Beschwerde erhoben.
Zu ihrem neuerlichen Asylantrag wurde die Beschwerdeführerin am 28. April 1997 vor dem Bundesasylamt einvernommen. Die Niederschrift hierüber lautet im wesentlichen wie folgt:
"Frage: Wie begründen Sie Ihren neuerlichen Asylantrag?
R.: Für mich kommt eine Rückkehr in die Türkei nicht in Frage. Ich möchte darauf hinweisen, daß in der Türkei meine Schwiegermutter von Soldaten getötet wurde. Meine Schwiegermutter lebte in M, mein Schwiegervater H gehört der DYP (Partei des rechten Weges) an und ist er Bezirksvorsteher. Er erhoffte sich durch seine Kandidatur für dieses Amt und seine politische Tätigkeit, daß er und seine Familie verschont bleiben. Dem war nicht so, sein Sohn (mein Gatte) und seine Frau kamen bei einer Schießerei ums Leben.
Zum Beweis dafür, daß meine Schwiegermutter von Soldaten erschossen wurde, legte ich einen Artikel aus der Zeitung Türkiye vom 19.11.1996 vor. Weiters eine Kopie aus einer mir vorerst nicht bekannten Zeitung aus der Türkei, worin über den gleichen Vorfall berichtet wird.
Die erstgenannte Zeitung kaufte mein Schwager in Wien.
Frage: Können Sie sonst noch etwas zur Begründung Ihres Asylantrages angeben?
R.: Nein, ich möchte sie ersuchen, daß sie meinen Asylantrag positiv erledigen.
Frage: Können Sie das Original der türkischen Zeitung hier vorlegen?
R.: Ich werde versuchen das Original dieser Zeitung innerhalb von vier Wochen hier vorzulegen:"
Der Artikel aus "Türkiye" befindet sich unübersetzt in den erstinstanzlichen Akten. Zu dem schon im neuerlichen Asylantrag mit Übersetzung vorgelegten Artikel gab die Beschwerdeführerin am 22. Mai 1997 bekannt, er stamme aus der Zeitung "Radikal".
Mit Bescheid vom 10. September 1997 wies das Bundesasylamt den neuerlichen Asylantrag der Beschwerdeführerin gemäß § 3 AsylG 1991 ab.
Die von der Beschwerdeführerin dagegen erhobene Berufung wurde von der belangten Behörde mit Bescheid vom 17. Oktober 1997 abgewiesen. Dagegen richtet sich die vorliegende, am 9. Dezember 1997 zur Post gegebene Beschwerde.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Beschwerde erwogen:
Das Verfahren über den ersten Asylantrag der Beschwerdeführerin ist aufgrund der von ihr erhobenen Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof gemäß § 44 Abs. 2 AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76, am 1. Jänner 1998 in das Stadium vor Erlassung des Berufungsbescheides zurückgetreten (vgl. dazu den Beschluß vom heutigen Tag über die Zurückweisung der zur Zl. 95/20/0748 protokollierten Beschwerde gemäß § 44 Abs. 3 AsylG 1997).
Im vorliegenden Verfahren erfolgte die Anfechtung nicht vor Kundmachung des AsylG 1997 am 14. Juli 1997. Da die Voraussetzungen des § 44 Abs. 2 AsylG 1997 in bezug auf dieses Verfahren somit nicht erfüllt sind, hat der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf der Grundlage des von der belangten Behörde (im Zeitpunkt ihrer Entscheidung: zu Recht) angewendeten AsylG 1991 zu überprüfen.
Diese Überprüfung führt schon deshalb zur Aufhebung des angefochtenen Bescheides, weil die belangte Behörde sich in ihrer Entscheidung zwar allgemein auf Ergebnisse des "gesamten Verwaltungsverfahrens" bezogen hat, konkret aber nur - im letzten Absatz der angefochtenen Entscheidung - mit folgenden Worten auf den Sachverhalt eingegangen ist:
"Dem von Ihnen vorgelegten Zeitungsausschnitt ist lediglich zu entnehmen, daß Ihre Schwiegermutter durch von der Hauptgendarmeriewache wahllos abgefeuerte Schüsse am Kopf getroffen wurde, während sie in ihrer Wohnung saß. Daß und warum Ihre Schwiegermutter vorsätzlich getötet werden sollte, ergibt sich schlüssig weder aus dem Zeitungsartikel noch aus Ihrem Vorbringen. Enthalten Ihre Angaben doch lediglich Mutmaßungen und Behauptungen, die von Ihnen nicht näher durch objektive Fakten untermauert werden konnten. Da sich somit Ihren Ausführungen weder entnehmen läßt, daß Ihre Schwiegermutter Opfer gegen sie persönlich gerichteten asylrelevanten Handelns der türkischen Behörden geworden ist noch daß diese Behörden Verfolgungsmaßnahmen gegen Sie selbst gerichtet oder in Zukunft geplant hätten, war spruchgemäß zu entscheiden."
Diese Ausführungen sind in zweifacher Hinsicht unzureichend:
Einerseits fehlt jede argumentative Auseinandersetzung mit den in der Berufung erhobenen Einwänden gegen die schon vom Bundesasylamt seinem Bescheid vom 10. September 1997 zugrunde gelegte Beweiswürdigung, "aus dem vorgelegten Zeitungsartikel" (gemeint wohl in beiden Instanzen: der mit Übersetzung vorgelegte Artikel) gehe hervor, daß die Schwiegermutter der Beschwerdeführerin nur "zufällig" getroffen und "keinesfalls vorsätzlich in Verfolgungsabsicht erschossen" worden sei. Einer Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen die Schlüssigkeit dieser Beweiswürdigung - im besonderen mit dem in der Berufung gebrauchten Argument, die Erwähnung eines Zufalls in dem mit Übersetzung vorgelegten Artikel gebe nur das Eingeständnis der Behörden wieder - hätte es bedurft, um die Gründe nachvollziehbar darzustellen, aus denen die belangte Behörde der Antragsbehauptung der Beschwerdeführerin, es habe sich um einen weiteren "Anschlag" auf ihre Familie gehandelt, nicht folgte.
Die belangte Behörde hat es andererseits aber auch unterlassen, den neuen Sachverhalt zu den schon im ersten Asylverfahren vorgebrachten Tatsachen in Beziehung zu setzen und der Entscheidung auf der Grundlage einer Feststellung des gesamten entscheidungserheblichen Sachverhaltes den von der belangten Behörde selbst erwähnten Maßstab der "Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorherigen Aufenthaltes" unter dem Gesichtspunkt drohender Eingriffe von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zugrunde zu legen.
Da es angesichts der von der Beschwerdeführerin behaupteten Tatsachen nicht auszuschließen ist, daß die Behörde bei Vermeidung dieser Fehler zu einem anderen Bescheid gekommen wäre, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
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