VwGH 96/19/0679

VwGH96/19/067919.9.1997

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Puck und die Hofräte Dr. Zens und Dr. Bayjones als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Böheimer, über den Antrag der R G in Wien, geboren 1969, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4/II/23, auf Wiedereinsetzung in der vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einbringung einer Beschwerde und über die Beschwerde der Genannten gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 11. Oktober 1994, Zl. 102.986/2-III/11/94, betreffend Aufenthaltsbewilligung, den Beschluß gefaßt:

Normen

AVG §71 Abs1 Z1;
VwGG §46 Abs1;
AVG §71 Abs1 Z1;
VwGG §46 Abs1;

 

Spruch:

1. Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird nicht stattgegeben.

2. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid wies der Bundesminister für Inneres (die belangte Behörde) die Berufung der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 30. April 1994 gemäß § 66 Abs. 4 AVG iVm § 9 Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes (AufG) ab. Mit diesem Bescheid war der Antrag der Beschwerdeführerin auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung abgewiesen worden.

Die Beschwerdeführerin bekämpfte den angefochtenen Bescheid mit Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 144 B-VG. Der an den Verfassungsgerichtshof gerichtete Schriftsatz enthält auch den Antrag auf "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung der Bescheidbeschwerde gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 11. Oktober 1994, Zl. 102.986/2-III/11/94".

Der Verfassungsgerichtshof lehnte mit Beschluß vom 11. Oktober 1995, B 3018/95-3, die Behandlung der gegenständlichen Beschwerde ab. In diesem Beschluß findet der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand insoweit Erwähnung, als (im Hinblick auf die Ablehnung der Beschwerde) eine Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unterbleiben könne.

Über entsprechenden Antrag der Beschwerdeführerin wurde in weiterer Folge die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

Der Verwaltungsgerichtshof hat bei einer Sukzessivbeschwerde auch über einen im (Verfassungsgerichtshofbeschwerde-)Schriftsatz gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu entscheiden, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Ablehnung der Behandlung der Beschwerde durch den Verfassungsgerichtshof unter Verzicht auf die Prüfung der Rechtzeitigkeit erfolgt, dem Beschluß des Verfassungsgerichtshofes im Grunde des Art. 144 Abs. 2 B-VG somit kein Abspruch über die Frage der Zulässigkeit der Beschwerde unter dem Gesichtspunkt der Einhaltung der Beschwerdefrist zu entnehmen ist und der Verfassungsgerichtshof auch keine Entscheidung über den (an ihn gerichteten) Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist getroffen hat (vgl. den hg. Beschluß vom 26. Juni 1992, Zl. 88/17/0207).

Die Beschwerdeführerin begründet ihren Wiedereinsetzungsantrag wie folgt: Der Bescheid, mit dem ihr Verfahrenshelfer bestellt worden sei, sei diesem am 22. Mai 1995 samt einer Ablichtung des in Beschwerde zu ziehenden Bescheides, des Beschlusses des Verfassungsgerichtshofes über die Bewilligung der Verfahrenshilfe und Belehrung über die binnen sechs Wochen einzubringende Beschwerde zugestellt worden. Die zu wahrende Frist sei ordnungsgemäß mit sechs Wochen auf dem Bescheid der Rechtsanwaltskammer Wien rot angemerkt und auch im Kanzleikalender entsprechend mit 3. Juli 1995 eingetragen worden. In der Kanzlei des Verfahrenshelfers dürften Fristen nur über ausdrückliche Anweisung des verantwortlichen Rechtsanwalts gestrichen werden. Obwohl an sich ausreichende Sach- und Fachkenntnisse gegeben seien, dürfe eine Streichung einer Frist nicht einmal von dem der Kanzlei des Verfahrenshelfers angehörigen Rechtsanwaltsanwärter vorgenommen werden. Trotz dieser klaren Anweisungen habe die Kanzleileiterin des Verfahrenshelfers die Frist gestrichen. Sie sei davon ausgegangen, daß die Beschwerde bereits ausgeführt sei, dies aufgrund zweier beim Verfassungsgerichtshof in einer Aufenthaltsbewilligungsangelegenheit protokollierter Beschwerden. Der Verfahrenshelfer habe von der Fristversäumnis am 19. September 1995 aufgrund eines Telefonantes mit einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Verfassungsgerichtshofes erfahren. Bei der Durchsicht des Aktes habe sich herausgestellt, daß die Ausführung der Beschwerde aufgrund der oben dargestellten Streichung der Frist durch die Kanzleileiterin unterblieben sei. Diese verfüge über ausgezeichnete Kenntnisse des Fristenwesens, insbesondere hinsichtlich der durch Verfahrenshilfe in Gang gesetzten Fristen. Da der Verfahrenshelfer, der wiederholt Verfahrenshilfen auch außerhalb des Zuteilungsrythmus der Rechtsanwaltskammer übernehme, auch schon nachträglich, d.h. nach Einbringung der Beschwerde, zum Verfahrenshelfer beigegeben worden sei, habe sich die Kanzleileiterin offenbar aufgrund von einen anderen Bescheid betreffende Beschwerden beirren lassen und vermeint, abgehend von der aufgetragenen Vorgangsweise selbst eine Streichung der Frist vornehmen zu können. Der Kanzleileiterin könne kein schwereres Verschulden als ein minderer Grad des Versehens zum Vorwurf gemacht werden. Ihr sei noch niemals ein derartiger Fehler unterlaufen.

Gemäß § 46 Abs. 1 VwGG ist einer Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis eine Frist versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet. Ein minderer Grad des Versehens hindert die Wiedereinsetzung nicht.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes trifft das Verschulden des Parteienvertreters die von diesem vertretene Partei (vgl. den hg. Beschluß vom 23. Februar 1995, ZL. 95/18/0176, mwH). Dabei stellt ein einem Rechtsanwalt wiederfahrenes Ereignis (dazu vgl. den hg. Beschluß eines verstärkten Senates vom 25. März 1976, Slg. Nr. 9024/A) einen Wiedereinsetzungsgrund für die Partei nur dann dar, wenn dieses Ereignis für den Rechtsanwalt selbst unvorhergesehen oder unabwendbar war und es sich hiebei höchstens um einen minderen Grad des Versehens handelt. Ein Verschulden des Rechtsanwaltes, das über einen minderen Grad des Versehens hinausgeht, schließt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus. Der Begriff des minderen Grades des Versehens ist als leichte Fahrlässigkeit im Sinne des § 1332 ABGB zu verstehen (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes den Beschluß vom 8. August 1996, Zlen. 96/14/0072, 0078). Zu beurteilen ist somit das Verhalten des Rechtsanwaltes selbst (vgl. den hg. Beschluß vom 19. Jänner 1990, Zlen. 89/18/0202, 0203). Der Wiedereinsetzungswerber bzw. dessen Vertreter darf also nicht auffallend sorglos gehandelt, somit die im Verkehr mit Gerichten und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt nicht außer acht gelassen haben. Insbesondere muß der Rechtsanwalt die Organisation seines Kanzleibetriebes so einrichten, daß auch die richtige Vormerkung von Terminen und damit die fristgerechte Setzung von Prozeßhandlungen sichergestellt wird. Dabei ist durch entsprechende Kontrollen u.a. dafür vorzusorgen, daß Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen sind. Ein Rechtsanwalt verstößt danach auch dann gegen seine anwaltliche Sorgfaltspflicht, wenn er weder im allgemeinen noch im besonderen (wirksame) Kontrollsysteme vorgesehen hat, die im Falle des Versagens eines Mitarbeiters Fristversäumung auszuschließen geeignet sind (vgl. die in Hauer-Leukauf, Handbuch des Österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts5, 676, E. 37, zitierte

hg. Judikatur).

Für die richtige Beachtung der Rechtsmittelfristen ist in einer Rechtsanwaltskanzlei stets der Rechtsanwalt verantwortlich, denn er selbst hat die Fristen zu setzen, ihre Vormerkung anzuordnen sowie die richtige Eintragung im Kalender im Rahmen der gebotenen Aufsichtspflicht zu überwachen, und zwar auch dann, wenn die Kanzleiangestellte überdurchschnittlich qualifiziert und deshalb mit der selbständigen Besorgung bestimmter Kanzleiarbeiten, so auch der Führung des Fristenvormerks, betraut worden ist und es bisher nicht zu Beanstandungen gekommen sein sollte. Selbst die bloß stichprobenartige Überprüfung der Eintragungen wäre nicht ausreichend (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 27. Jänner 1995, Zl. 94/17/0486, und vom 26. Juli 1995, Zlen. 95/20/0242, 0243).

Ausgehend vom Vorbringen des Wiedereinsetzungswerbers, daß der Rechtsanwalt seiner Pflicht, die Frist selbst zu berechnen, offenbar nachgekommen ist und die Kanzleiangestellte lediglich diese Frist einzutragen hatte, mußte er daher nicht nur die richtige Eintragung im Kalender, sondern auch im Falle der Streichung die Berechtigung dieser Vorgangsweise im Rahmen der gebotenen Aufsichtspflicht überwachen. Der Antragsteller hat seinen Antrag in Hinsicht auf die Erfüllung der nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht seiner Büroangestellen zu substantiieren. Allgemeine Behauptungen genügen nicht (vgl. die in Hauer - Leukauf, aaO, 678, E. 48, zitierte

hg. Judikatur). Aus dem im Sachverhalt dargestellten Vorbringen sind jedoch keinerlei Angaben hinsichtlich der Überwachung zu entnehmen. Es ist nicht erkennbar ob, allenfalls in welcher Art und Weise und in welchen Zeitabständen der Rechtsanwalt seine Überwachungspflicht konkret nachkommt.

Dem Antrag auf Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand konnte somit gemäß § 46 VwGG nicht stattgegeben werden.

Bei diesem Ergebnis war die am 3. Oktober 1995 zur Post gegebene Beschwerde wegen Versäumung der Beschwerdefrist gemäß § 34 Abs. 1 VwGG durch Beschluß in nichtöffentlicher Sitzung zurückzuweisen.

Soweit Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zitiert wurden, die in der Amtlichen Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofes nicht veröffentlicht sind, wird auf Art. 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Verwaltungsgerichtshofes, BGBl. Nr. 45/1965, hingewiesen.

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