Normen
ASVG §357 Abs1;
ASVG §415;
AVG §63 Abs5 idF 1995/471;
ASVG §357 Abs1;
ASVG §415;
AVG §63 Abs5 idF 1995/471;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der beschwerdeführenden Partei Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit Bescheid vom 17. August 1994 lehnte die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Mitbeteiligten auf Selbstversicherung in der Pensionsversicherung gemäß § 16a Abs. 2 lit. 2 ASVG ab.
Der Mitbeteiligte erhob Einspruch.
Mit Bescheid vom 4. Dezember 1995 gab der Landeshauptmann von Wien dem Einspruch Folge und stellte fest, daß der Mitbeteiligte ab 1. Mai 1993 zur Selbstversicherung in der Pensionsversicherung der Arbeiter berechtigt sei. Dieser Bescheid wurde der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt am 13. Dezember 1995 zugestellt. Nach der Rechtsmittelbelehrung könne gegen den Bescheid eine Berufung bei der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter, Landesstelle Wien, eingebracht werden.
Die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt erhob am 27. Dezember 1995 gegen den Bescheid des Landeshauptmannes eine an diesen adressierte Berufung, die dort am 28. Dezember 1995 einlangte. Mit einem Schreiben vom 29. Dezember 1995 übermittelte der Landeshauptmann die Berufung der belangten Behörde, wo sie am 8. Jänner 1996 einlangte.
Mit einem an den Landeshauptmann gerichteten Schreiben vom 4. Jänner 1996 ersuchte die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt diesen, die am 27. Dezember 1995 bei ihr eingelangte Berufung, die irrtümlich dem Landeshauptmann von Wien vorgelegt worden sei, an den Bundesminister für Arbeit und Soziales weiterzuleiten.
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde die Berufung der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt gemäß § 66 Abs. 4 iVm § 63 Abs. 5 AVG als verspätet zurückgewiesen. Nach der Begründung stehe fest, daß der Bescheid des Landeshauptmannes der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt am 13. Dezember 1995 zugestellt worden sei. Die zweiwöchige Berufungsfrist habe daher am 27. Dezember 1995 geendet. Die Berufung sei allerdings nicht bei der Pensionsversicherungsanstalt eingebracht worden. Eine Einbringung (eines Rechtsmittels) einer Behörde bei ihr selbst sei zwar zulässig, doch müßten Organisationsvorschriften die Dokumentation des Einganges von Geschäftsstücken regeln, damit ein Nachweis des Zeitpunktes der Einbringung in unzweifelhafter Weise (z.B. durch Datums-Eingangsstempel) feststünde. Da eine Einbringung der Berufung der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt bei ihr selbst nicht erfolgt sei, müßte im Sinne des § 63 Abs. 5 AVG auf die Weiterleitung an die belangte Behörde abgestellt werden. Werde ein Rechtsmittel bei der unzuständigen Behörde eingebracht, so erfolge die Weiterleitung auf Gefahr des Einschreiters. Da gemäß § 33 Abs. 3 AVG die Tage des Postlaufes nur zur zuständigen Behörde nicht eingerechnet würden, sei die Berufungsfrist nur gewahrt, wenn die unzuständige Behörde das Rechtsmittel zur Weiterleitung an die zuständige Stelle am letzten Tag der Frist zur Post gebe. Der Landeshauptmann von Wien hätte daher die Berufung der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt spätestens am 27. Dezember 1995 mit der Post an die belangte Behörde schicken oder an diesem Tag persönlich überbringen müssen. Die beim Landeshauptmann am 28. Dezember 1995 eingelangte Berufung sei jedoch erst mit Schreiben des Landeshauptmannes vom 29. Dezember 1995 der belangten Behörde vorgelegt worden, wo sie am 8. Jänner 1996 eingelangt sei. Die Berufung der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt erweise sich daher als verspätet.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde.
Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und in einer Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt. Auch der Mitbeteiligte hat eine Gegenschrift erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Für die nach dem 30. Juni 1995 erlassenen Bescheide gilt § 63 Abs. 5 AVG idF BGBl. Nr. 471/1995 (vgl. Z. 22 des genannten Bundesgesetzes). Diese Bestimmung lautet auszugsweise:
"Die Berufung ist von der Partei binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Die Frist beginnt für jede Partei mit der an sie erfolgten Zustellung der schriftlichen Ausfertigung des Bescheides ..."
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 1. Dezember 1992, Zl. 91/08/0022, die Auffassung vertreten, daß "Behörde ..., die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat" im Sinne des § 63 Abs. 5 AVG in jenen Fällen, in denen ein Versicherter als Partei des Verfahrens gegen den Bescheid des Landeshauptmannes Berufung erhebt, der VERSICHERUNGSTRÄGER ist, der den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen.
Erhebt jedoch der Versicherungsträger, der den Bescheid in erster Instanz erlassen hat, als Partei (die er ab Erhebung des Einspruches gegen seinen Bescheid geworden ist) Berufung gegen den Einspruchsbescheid, so kann er diese Berufung aufgrund der Identität von Partei und Behörde erster Instanz nicht bei sich selbst "einbringen": § 63 Abs. 5 AVG geht zweifelsfrei davon aus, daß ein Rechtsmittel beim Vorgang des "Einbringens" die Sphäre der Partei verläßt um in die Sphäre der Behörde zu gelangen, daß also erstere von letzterer verschieden ist. Nur durch das Verlassen der Sphäre des Rechtsmittelwerbers ist es nämlich möglich, daß das Rechtsmittel als prozessuale Willenserklärung einer von der Partei verschiedenen Behörde (nicht notwendigerweise der zur Entscheidung berufenen Behörde) zugeht und dadurch überhaupt erst existent wird.
Die Annahme der belangten Behörde, die eine Einbringung eines Rechtsmittels "bei sich selbst" für möglich hält, ist damit unvereinbar; sie würde auch im Ergebnis dazu führen, daß ein Rechtsmittel schon mit seiner Genehmigung durch das zuständige Organ des Sozialversicherungsträgers (oder mit einer zusätzlichen Beurkundung dieser Genehmigung, die aber der Sache nach keine weiterreichenden Wirkungen hätte) als "eingebracht" geltend würde, was nicht nur Manipulationen ermöglichen würde, sondern vor allem dazu führen könnte, daß Rechtsmittel als erhoben zu gelten hätten, von denen weder die andere Verfahrenspartei noch eine von der Rechtsmittelwerberin verschiedene Behörde Kenntnis hätte.
§ 63 Abs. 5 erster Satz AVG ist daher in jenen Fällen, in denen Rechtsmittelwerber und Behörde erster Instanz ident sind, nicht seinem strengen Wortlaut nach anwendbar. "Behörde ..., die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat", ist daher funktionell in diesem Fall für den Versicherungsträger die EINSPRUCHSBEHÖRDE, also der Landeshauptmann. Die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt weist zu Recht darauf hin, daß bei Mehrparteienverfahren, in denen die Behörde erster Instanz (und nicht nur deren Rechtsträger) im nachfolgenden (echten) Rechtsmittelverfahren Partei ist und ein Rechtsmittel gegen den "ersten" Rechtsmittelbescheid erhebt, für sie dieser Bescheid der erste ist, gegen den sie aufgrund ihrer Parteistellung Rechtsmittel erheben kann. Funktionell kommt somit hier der Einspruchsbehörde - aus dem Blickwinkel des Sozialversicherungsträgers ALS PARTEI - eine Stellung zu, die jener einer erstinstanzlichen Behörde gleicht.
Im Beschwerdefall ist unbestritten, daß der Bescheid des Landeshauptmannes von Wien der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt am 13. Dezember 1995 zugestellt worden ist. Die Berufungsfrist endete daher für sie am 27. Dezember 1995. Die von der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt an diesem Tag an den Landeshauptmann gerichtete Berufung erweist sich daher als rechtzeitig.
Aufgrund dieser Erwägungen belastete die belangte Behörde ihren Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit, weshalb dieser gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufgehoben werden mußte, ohne daß auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.
Die Entscheidung über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
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