VwGH 95/19/0527

VwGH95/19/052719.9.1996

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pokorny und die Hofräte Dr. Holeschofsky, Dr. Bachler, Dr. Dolp und Dr. Zens als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Wildmann, über die Beschwerde der L in W, vertreten durch Dr. G, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 19. April 1995, Zl. 105.978/2-III/11/94, betreffend Zurückweisung einer Berufung i.A. Aufenthaltsbewilligung, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §63 Abs4;
AVG §63 Abs5;
AVG §66 Abs4;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
ZustG §4;
ZustG §7;
ZustG §8 Abs2;
AVG §63 Abs4;
AVG §63 Abs5;
AVG §66 Abs4;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
ZustG §4;
ZustG §7;
ZustG §8 Abs2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin beantragte am 21. April 1994 beim Landeshauptmann von Wien die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung. Im Zuge des erstinstanzlichen Verfahrens wurde ihr an der Adresse B-Gasse 10/6, W, am 26. Mai 1994 zu eigenen Handen eine Aufforderung der erstinstanzlichen Behörde zugestellt, persönlich unter Mitnahme von Unterlagen vorzusprechen (vgl. Seiten 20 und 23 des Verwaltungsaktes). Dieser Aufforderung kam die Beschwerdeführerin am 6. Juni 1994 nach (vgl. Seite 21 des Verwaltungsaktes). Aus einer am 24. Juni 1994 bei der erstinstanzlichen Behörde eingelangten Meldeauskunft ging hervor, daß die Beschwerdeführerin seit 19. Mai 1994 von der Adresse B-Gasse 10/1/6, W, abgemeldet war.

Mit Erledigung vom 1. Juli 1994 wies die erstinstanzliche Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung gemäß § 5 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufG) ab. Begründend führte der Landeshauptmann von Wien aus, eine ortsübliche Unterkunft der Beschwerdeführerin sei nicht gesichert, weil die Beschwerdeführerin sich an der in ihrem Antrag als ordentlichen Wohnsitz angegebenen Anschrift W, B-Gasse 10/1/6, nicht mehr aufhalte.

Die Zustellung dieses Bescheides erfolgte aufgrund einer Anordnung der erstinstanzlichen Behörde ohne vorausgehenden Zustellversuch durch postalische Hinterlegung. Beginn der Abholfrist war der 8. Juli 1994.

Gegen diese Erledigung erhob die Beschwerdeführerin am 9. August 1994 (Datum der Postaufgabe) Berufung und brachte vor, sie sei seit 27. Juni 1994 an der in Rede stehenden Adresse in W gemeldet und halte sich dort seither auf.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 19. April 1995 wies die belangte Behörde die Berufung ohne weiteres Verfahren als verspätet zurück. Die Zustellung des erstinstanzlichen Bescheides sei rechtswirksam am 8. Juli 1994 erfolgt. Die Berufung sei erst am 9. August 1994, folglich nach Ablauf der zweiwöchigen Frist des § 63 Abs. 5 AVG, erhoben worden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, nach Ablehnung ihrer Behandlung durch den Verfassungsgerichtshof dem Verwaltungsgerichtshof abgetretene Beschwerde. Die Beschwerdeführerin macht Rechtswidrigkeit des Bescheidinhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend und beantragt, den Bescheid aus diesen Gründen aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragt die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Beschwerdeführerin beruft sich im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auf die Unwirksamkeit der Zustellung durch Hinterlegung ohne vorausgehenden Zustellversuch vom 8. Juli 1994. § 8 Abs. 2 ZustellG sei nur anwendbar, falls eine Änderung der Abgabestelle erfolgt und die Partei es unterläßt, die Behörde hievon zu unterrichten. Tatsächlich habe die Beschwerdeführerin die Abgabestelle - ungeachtet der meldebehördlichen Abmeldung - nicht geändert. Der erstinstanzliche Bescheid sei ihr vorerst (vor dem 1. August 1994) nicht zugekommen (Seite 2 der ursprünglichen und Seite 2 der ergänzten Beschwerde).

Die Rechtsmittelbehörde hat das Risiko einer Bescheidaufhebung dann zu tragen, wenn sie von der Feststellung der Versäumung der Rechtsmittelfrist ausgeht, diese Feststellung dem Rechtsmittelwerber aber vor ihrer Entscheidung nicht vorgehalten hat (vgl. die bei Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens5, S. 561, wiedergegebene Judikatur).

Gemäß § 8 Abs. 1 ZustellG hat eine Partei, die während eines Verfahrens, von dem sie Kenntnis hat, ihre bisherige Abgabestelle ändert, dies der Behörde unverzüglich mitzuteilen. Wird diese Mitteilung unterlassen, so ist, soweit die Verfahrensvorschriften nicht anderes vorsehen, die Zustellung durch Hinterlegung ohne vorausgehenden Zustellversuch vorzunehmen, falls eine Abgabestelle nicht ohne Schwierigkeiten festgestellt werden kann (§ 8 Abs. 2 leg. cit.).

Bei der hier in Rede stehenden Abgabestelle handelt es sich nach der Aktenlage um eine Wohnung (vgl. Seite 9 des Verwaltungsaktes). Darunter ist jene Räumlichkeit zu verstehen, in der jemand seine ständige Unterkunft hat, wo sich also der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse befindet. Weder eine polizeiliche Abmeldung, noch eine kurzfristige Abwesenheit von der Wohnung nimmt dieser den Charakter einer Abgabestelle im Sinne des § 4 ZustellG (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. Dezember 1990, Zl. 90/11/0081).

Aus diesem Grunde durfte die belangte Behörde aus den Ausführungen der Beschwerdeführerin in ihrer Berufung, sie sei seit 27. Juni 1994 an der in Rede stehenden Adresse gemeldet und aufhältig, auch nicht auf eine vorangegangene (zwischenzeitige) Änderung der Abgabestelle schließen, die die erstinstanzliche Behörde berechtigt hätte, eine Zustellung ohne vorausgehenden Zustellversuch gemäß § 8 Abs. 2 ZustellG anzuordnen. Selbst wenn aus diesem Berufungsvorbringen geschlossen werden könnte, daß die Beschwerdeführerin vor dem 27. Juni 1994 an der gegenständlichen Adresse nicht gemeldet und für einen nicht näher bezeichneten Zeitraum auch nicht aufhältig war, ließe sich daraus aufgrund des Vorgesagten nicht zwingend ableiten, daß sie damit ihre bisherige Abgabestelle geändert (aufgegeben) hätte. Dies wäre nur dann der Fall gewesen, wenn die vorangegangene Abwesenheit von der Wohnung nicht bloß kurzfristig war. Eine solche Behauptung war aber dem Berufungsvorbringen der Beschwerdeführerin nicht zu entnehmen.

Aus diesem Grund bewirkt die Unterlassung des gebotenen Vorhaltes der Verspätung des Rechtsmittels, daß das Vorbringen der Beschwerdeführerin, sie habe die Abgabestelle ungeachtet ihrer meldebehördlichen Abmeldung nicht geändert, nicht dem Neuerungsverbot im verwaltungsgerichtlichen Verfahren unterliegt.

Dieses Vorbringen legt die Relevanz des aufgezeigten Verfahrensmangels dar, weil bei Zutreffen dieser Behauptung der Beschwerdeführerin die Voraussetzungen für eine Hinterlegung ohne vorausgehenden Zustellversuch gemäß § 8 Abs. 2 ZustellG nicht gegeben gewesen wären.

Aus dem Beschwerdevorbringen, der erstinstanzliche Bescheid sei der Beschwerdeführerin vorerst (vor dem 1. August 1994) nicht zugekommen, ist wohl zu entnehmen, daß ein tatsächliches Zukommen desselben nach diesem Zeitpunkt behauptet wird, sodaß der ursprüngliche Zustellmangel nach dem Beschwerdevorbringen gemäß § 7 ZustellG nach dem 31. Juli 1994 geheilt wäre. Hieraus ergäbe sich die Rechtzeitigkeit und Zulässigkeit der Berufung.

Selbst wenn man aber die Meinung vertreten wollte, dem wiedergegebenen Beschwerdevorbringen sei ein tatsächliches Zukommen des erstinstanzlichen Bescheides an die Beschwerdeführerin nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, wäre diese dennoch - auf Basis ihrer Behauptungen - durch den angefochtenen Bescheid in ihren Rechten verletzt. Die Zurückweisung einer Berufung wegen Verspätung ist ihrem normativen Gehalt nach nicht einer Zurückweisung der Berufung wegen des Fehlens einer anfechtbaren erstinstanzlichen Entscheidung gleichzuhalten. Aufgrund erstgenannter Zurückweisung stünde nämlich die Rechtskraft einer erstinstanzlichen Entscheidung fest (vgl. das hg. Erkenntnis vom 16. April 1984, Zl. 83/10/0254, 0255). Der Beschwerdeführerin wäre es daher auch dann gelungen, die Relevanz des aufgezeigten Verfahrensmangels darzulegen, wenn ihrem Beschwerdevorbringen eine Heilung des Zustellmangels durch tatsächliches Zukommen des erstinstanzlichen Bescheides nicht zu entnehmen wäre.

Aus diesen Erwägungen war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

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