VwGH 94/15/0003

VwGH94/15/000314.12.1995

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Meinl und die Hofräte Dr. Wetzel und Dr. Steiner als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Traudtner, über die Beschwerde des F in S, vertreten durch Dr. W, Rechtsanwalt in S, gegen den Bescheid der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland (Berufungssenat VIII) vom 15. November 1993, Zl. 6/4-4290/92-10, betreffend Wiederaufnahme der Umsatz-, Einkommen- und Gewerbesteuerverfahren für die Jahre 1988 bis 1990, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §69 Abs3;
BAO §114;
BAO §20;
BAO §303 Abs4;
B-VG Art130 Abs2;
AVG §69 Abs3;
BAO §114;
BAO §20;
BAO §303 Abs4;
B-VG Art130 Abs2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.950,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer erzielte in den Streitjahren aus seiner Tätigkeit als Malermeister Einkünfte aus Gewerbebetrieb.

Für diesen Zeitraum wurde er erklärungsgemäß zur Umsatz-, Einkommen- und Gewerbesteuer veranlagt.

Auf Grund der Ergebnisse einer die Streitjahre umfassenden abgabenbehördlichen Prüfung nahm das Finanzamt die Verfahren betreffend Umsatz-, Einkommen- und Gewerbesteuer für diese Jahre unter gleichzeitiger Erlassung neuer Sachbescheide von Amts wegen wiederauf.

Die Gründe für die Wiederaufnahme der Umsatzsteuerverfahren betrafen Vorsteuerberichtigungen für Pkw-Aufwand für den gesamten Streitzeitraum sowie eine Vorsteuerkürzung durch Nichtanerkennung von Fahrschulkosten für den im Betrieb beschäftigten Sohn des Beschwerdeführers als Betriebsausgabe und eine Vorsteuerkorrektur zu Gunsten des Beschwerdeführers auf Grund eines Reparaturaufwandes im Jahr 1988. Insgesamt betrug der Mehrbetrag an Umsatzsteuer 1988: S 611,--, 1989:

S 600,-- und 1990: S 628,--.

Im Bereich der Einkommensteuer wurden bei der Gewinnermittlung für das Jahr 1988 die og. Fahrschulkosten, Spenden und Gebühren in der Höhe von insgesamt S 12.494,33 als nichtabzugsfähige Aufwendungen ausgeschieden und zusätzlich Reparaturaufwendungen zu Gunsten des Beschwerdeführers in der Höhe von S 11.967,-- miteinbezogen. Weiters wurde bei der Gewinnermittlung für die Streitjahre der Privatanteil an den Pkw-Kosten um S 3.031,-- bzw. S 1.260,-- bzw. S 1.320,-- erhöht und aus dem Aufwand ausgeschieden; ferner wurde eine im Jahr 1987 gebildete Rückstellung "Pauschalvorsorge für Rechtsrisken" in der Höhe von S 20.000,-- als nicht betrieblich veranlaßt angesehen und im Jahr 1988 gewinnerhöhend aufgelöst. Die sonstigen - nicht auf Wiederaufnahmsgründen beruhenden - Änderungen bei der Gewinnermittlung betrugen 1988 und 1989 jeweils S 1.200,-- und 1990 insgesamt S 22.365,--, und zwar jeweils zu Lasten des Beschwerdeführers.

In Summe bewirkten alle diese Änderungen einen Mehrbetrag an Einkommensteuer in Höhe von S 11.542 (1988), S 798,-- (1989) und S 8.148,-- (1990).

Im Bereich der Gewerbesteuer führte das neu ermittelte Betriebsergebnis zu einem Mehrbetrag von S 3.403,-- (1988), S 82,-- (1989) und S 3.586,-- (1990).

In seiner sowohl gegen die Wiederaufnahmsbescheide als auch gegen die damit verbundenen Sachbescheide erhobenen Berufung brachte der Beschwerdeführer vor, die vom Prüfer getroffenen Feststellungen seien entweder keine neue hervorgekommenen Tatsachen oder in ihrer Auswirkung so geringfügig, daß von einer dem Gesetz entsprechenden Ermessensübung bei der amtswegigen Wiederaufnahme der Verfahren nicht gesprochen werden könne.

Nach Ergehen einer abweislichen Berufungsvorentscheidung beantragte der Beschwerdeführer die Entscheidung durch die Abgabenbehörde zweiter Instanz.

Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung wies die belangte Behörde die Berufung mit dem angefochtenen Bescheid ab. Begründend führte sie im wesentlichen aus, strittig sei, ob auch die Feststellungen Tz 15, 27 und 24 des Prüfberichts als taugliche Wiederaufnahmsgründe herangezogen werden könnten. Die anderen Wiederaufnahmsgründe seien in der mündlichen Berufungsverhandlung vom steuerlichen Vertreter des Beschwerdeführers als neu hervorgekommene Tatsachen anerkannt worden.

Zu dem in Tz 27 und 15 des Prüfberichtes angesprochenen Wiederaufnahmsgrund "Fahrschulkosten Sohn" führte die belangte Behörde aus, es liege ein Wiederaufnahmsgrund vor, da auf Grund der Darstellung in den Erläuterungen zur Bilanz 1988, 10 "Konto 6820 ... Fahrschule für Sohn und Arbeiter" unter Einbeziehung des § 119 BAO nicht davon gesprochen werden könne, daß die Offenlegung vollständig und wahrheitsgemäß erfolgt und damit der Abgabenbehörde ein richtiges, vollständiges und klares Bild von den für die Abgabenerhebung maßgeblichen Umständen verschafft worden sei.

Anders als zuvor das Finanzamt stützte sich die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid nicht mehr auf den Wiederaufnahmsgrund "Pauschalvorsorge für Rechtsrisken" (Tz 24 des Prüfberichtes).

Nach Ansicht der belangten Behörde verursachten die vorliegenden Wiederaufnahmsgründe selbst den Mehrbetrag an Steuer und es liege daher auch keine absolute Geringfügigkeit der neu hervorgekommenen Tatsachen vor.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Rechtswidrigkeit des Inhalts geltendmachende Beschwerde.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und in ihrer Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 303 Abs. 4 BAO ist die Wiederaufnahme des Verfahrens von Amts wegen unter den Voraussetzungen des Abs. 1 lit. a und c und in allen Fällen zulässig, in denen Tatsachen oder Beweismittel neu hervorkommen, die im Verfahren nicht geltend gemacht worden sind, und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätte.

Bei der amtswegigen Wiederaufnahme ist daher zwischen der Rechtsfrage, ob der Tatbestand einer Wiederaufnahme des Abgabenverfahrens gegeben ist, und der Frage der Durchführung der Wiederaufnahme, die im Ermessen der Behörde liegt, zu unterscheiden. Erst dann, wenn die Rechtsfrage dahingehend geklärt ist, daß ein Wiederaufnahmsgrund tatsächlich gegeben ist, hat die Abgabenbehörde in Ausübung ihres Ermessens zu entscheiden, ob die amtswegige Wiederaufnahme zu verfügen ist. Dabei sind der Sinn des Gesetzes (Art. 130 Abs. 2 B-VG) und § 20 BAO als Ermessensrichtlinien zu berücksichtigen. Die Wiederaufnahme des Verfahrens auf Grund neu hervorgekommener Tatsachen bietet die Möglichkeit, bisher unbekannten, aber entscheidungswesentlichen Sachverhaltselementen Rechnung zu tragen; sie dient aber nicht dazu, bloß die Folgen einer unzutreffenden rechtlichen Würdigung eines offengelegten Sachverhalts zu beseitigen (vgl. hiezu das hg. Erkenntnis vom 12. April 1994, Zl. 90/14/0044; sowie Stoll, BAO-Kommentar, 2921, 2929 f, 2938 f, m.w.N.).

Die Beschwerde rügt, die Abgabenbehörde stütze sich nur auf bestimmte Textziffern des abgabenbehördlichen Prüfberichts. Dieser lasse aber nicht erkennen, welche Tatumstände bzw. Beweismittel erst im Zuge der abgabenbehördlichen Prüfung neu hervorgekommen seien.

Wie der Verwaltungsgerichtshof u.a. in seinem Erkenntnis vom 19. September 1990, Zl. 89/13/0245, ausgeführt hat, ist eine amtswegige Wiederaufnahme des Verfahrens i.S. des § 303 Abs. 4 BAO nur dann zulässig, wenn AKTENMÄßIG erkennbar ist, daß dem Finanzamt nachträglich Tatumstände zugänglich gemacht wurden, von denen es nicht schon zuvor Kenntnis hatte.

Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung ausgeführt (vgl. hiezu beispielsweise das hg. Erkenntnis vom 8. März 1994, Zl. 90/14/0192), daß eine Wiederaufnahme eines mit Bescheid abgeschlossenen Verfahrens nur dann ausgeschlossen ist, wenn der Abgabenbehörde in dem wiederaufzunehmenden Verfahren der Sachverhalt so vollständig bekannt gewesen ist, daß sie schon in diesem Verfahren bei richtiger rechtlicher Subsumtion zu der nach Wiederaufnahme erlassenen Sachentscheidung hätte gelangen können.

Im gegenständlichen Beschwerdefall ist der belangten Behörde hinsichtlich des Wiederaufnahmsgrunds "Fahrschule Sohn" (Tz 15 und 27 des Prüfberichtes) zu folgen, daß der Beschwerdeführer im Erstverfahren nicht alle für eine richtige rechtliche Subsumtion maßgeblichen Umstände des Sachverhalts bekanntgegeben hatte und - wie aus den Verwaltungsakten ersichtlich - der Abgabenbehörde der Umstand, daß diese Ausgaben nicht betrieblich bedingt waren, erst durch die abgabenbehördliche Prüfung vollständig bekannt wurde. Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers ergibt sich aus den Verwaltungsakten weiters, daß auch die anderen von der belangten Behörde herangezogenen Wiederaufnahmsgründe der Abgabenbehörde nicht schon im Erstverfahren, sondern erst im Zuge der abgabenbehördlichen Prüfung bekannt wurden. Denn aus den im Erstverfahren allein vorliegenden Abgabenerklärungen des Beschwerdeführers (inklusive der Bilanzen) war die betriebliche bzw. private Bedingtheit der Positionen, die zur amtswegigen Wiederaufnahme führten, nicht erkennbar.

Die von der belangten Behörde herangezogenen Wiederaufnahmsgründe liegen daher vor.

Der zweite vom Beschwerdeführer gerügte Mangel des angefochtenen Bescheids betrifft die bei der Beurteilung der Zulässigkeit der amtswegigen Wiederaufnahme eines Abgabenverfahrens vorzunehmende Ermessensentscheidung und ihre Begründung für den Fall der Wiederaufnahme des Verfahrens bei Vorliegen bloß geringfügiger Auswirkungen der neu hervorgekommenen Tatsachen (vgl. hiezu Stoll, a.a.O., 2938 ff, m. w.N.).

Die Rechtmäßigkeit dieser Ermessensentscheidung ist unter Bedachtnahme auf § 20 BAO zu beurteilen. Gemäß § 20 BAO sind Ermessensentscheidungen innerhalb der vom Gesetz gezogenen Grenzen des Ermessens nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu treffen. Dabei ist dem Gesetzesbegriff "Billigkeit" die Bedeutung von Angemessenheit in bezug auf berechtigte Interessen der Partei und dem Begriff "Zweckmäßigkeit" das öffentliche Interesse, insbesondere an der Einhebung der Abgaben, beizumessen. Eine derartige Interessenabwägung verbietet bei Geringfügigkeit der neu hervorgekommenen Tatsachen in der Regel den Gebrauch der Wiederaufnahmemöglichkeit. Die Geringfügigkeit ist dabei anhand der steuerlichen Auswirkungen der konkreten Wiederaufnahmsgründe und nicht auf Grund der steuerlichen Gesamtauswirkungen zu beurteilen, die infolge Änderungen auf Grund anderer rechtlicher Beurteilungen im Sachbescheid vorzunehmen wären (vgl. hiezu beispielsweise das hg. Erkenntnis vom 12. April 1994, Zl. 90/14/0044).

Da die im angefochtenen Bescheid herangezogenen Wiederaufnahmsgründe im Beschwerdefall nur geringfügige Auswirkungen haben, wäre die belangte Behörde - in Anbetracht des Umstandes, daß die vom Beschwerdeführer in den Streitjahren erzielten Umsätze zwischen rund S 4,5 und S 6 Mio bzw. Gewinne zwischen rund S 470.000,-- und S 700.000,-- lagen - verpflichtet gewesen, darzutun, weswegen sie bei derart geringen Änderungen in dem Eingriff in die Rechtskraft durch Wiederaufnahme der Umsatz-, Einkommen- und Gewerbesteuerverfahren für die Streitjahre KEINE UNBILLIGKEIT gegenüber dem Beschwerdeführer erblickt hat, die die Zweckmäßigkeit überwiegt (vgl. hiezu das hg. Erkenntnis vom 21. Dezember 1989, Zl. 86/14/0180).

Der angefochtene Bescheid enthält zwar Ausführungen zur Frage, ob die Auswirkungen der Wiederaufnahmsgründe zum Ergebnis der neuen Sachbescheide außer Verhältnis stehen bzw. zur Rechtfertigung eines solchen "Außer-Verhältnis-Stehens". Zur Frage, warum trotz Geringfügigkeit der Auswirkungen der Wiederaufnahmsgründe im Beschwerdefall dem Prinzip der Rechtsrichtigkeit gegenüber dem Prinzip der Rechtssicherheit der Vorrang zukomme, verwies die belangte Behörde aber formelhaft nur auf das Interesse an der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (§ 114 BAO) und auf diesbezügliche Ausführungen von Ellinger, ÖStZ 1986, 69, was zur Begründung der Interessensabwägung indes nicht ausreicht (vgl. hiezu das hg. Erkenntis vom 21. Dezember 1989, Zl. 86/14/0180). Die Ermessensübung anstelle der belangten Behörde steht dem Verwaltungsgerichtshof aber in Bescheidbeschwerdefällen nicht zu.

Da nicht auszuschließen ist, daß die belangte Behörde bei Vermeidung des Begründungsmangels zu einem anderen Bescheid hätte kommen können, mußte der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben werden. Diese Entscheidung konnte im Hinblick auf beide Tatbestände des § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG im Dreiersenat getroffen werden.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 416/1994, insbesondere deren Art. III Abs. 2.

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