VwGH 86/01/0004

VwGH86/01/000425.11.1987

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Simon und die Hofräte Dr. Hoffmann, Dr. Herberth, Dr. Kremla und Dr. Steiner als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Hadaier, über die Beschwerde des LA in W, vertreten durch Dr. Felix Spreitzhofer, Rechtsanwalt in Wien VI, Gumpendorfer Straße 22, gegen den Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 22. November 1985, Zl. I-357.507- FrB/85, betreffend Versagung eines Sichtvermerkes, zu Recht erkannt:

Normen

FürsorgeAbk BRD 1969 Jugendwohlfahrtspflege Art8 Abs1;
FürsorgeAbk BRD 1969 Jugendwohlfahrtspflege Art9 Abs2;
FürsorgeAbk BRD 1969 Jugendwohlfahrtspflege Art9 Abs3;
PaßG 1969 §25 Abs3 lite;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 9.270,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde dem Antrag des Beschwerdeführers vom 2. Mai 1985, eines Staatsbürgers der Bundesrepublik Deutschland, auf Erteilung eines befristeten Sichtvermerkes für die mehrmalige Wiedereinreise nach Österreich gemäß § 25 Abs. 1 und 3 lit. e des Paßgesetzes 1969, BGBl. Nr. 422 in der Fassung BGBl. Nr. 510/1974, keine Folge gegeben. Dies begründete die belangte Behörde im wesentlichen damit, daß der Beschwerdeführer, der keinerlei Einkommen, Vermögen oder sonstige Barmittel besitze und auch nicht krankenversichert sei, nicht in der Lage wäre, entsprechende Mittel zum Nachweis seines Unterhaltes "zu belegen". Der Beschwerdeführer stütze seinen Anspruch auf Fürsorgeleistungen nach dem Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege, BGBl. Nr. 258/1969; in Wahrheit beziehe der Beschwerdeführer jedoch keine solchen Leistungen; es sei lediglich eine Verwaltungsgerichtshofbeschwerde gegen einen abweislichen Bescheid der Wiener Landesregierung vom 3. Juni 1985 bezüglich Sozialhilfe anhängig.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes. Der Beschwerdeführer erachtet sich in seinem Recht auf Erteilung eines Sichtvermerkes gemäß § 23 ff Paßgesetz 1969 sowie in seinem Recht, daß auf ihn der Art. 8 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege angewendet werde, verletzt.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 25 Abs. 3 lit. e Paßgesetz 1969, BGBl. Nr. 422, ist die Erteilung eines Sichtvermerkes zu versagen, wenn die Annahme gerechtfertigt ist, daß ein Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet zu einer finanziellen Belastung der Republik Österreich führen könnte.

Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 und 3 des Abkommens zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege (in der Folge: Abkommen), BGBl. Nr. 258/1969, normieren:

"Art. 8 Abs. 1: Der Aufenthaltsstaat darf einem Staatsangehörigen der anderen Vertragspartei nicht allein aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit den weiteren Aufenthalt versagen oder ihn rückschaffen, es sei denn, daß er sich noch nicht ein Jahr ununterbrochen erlaubt in seinem Hoheitsgebiet aufhält. Sprechen Gründe der Menschlichkeit gegen eine solche Maßnahme, so hat sie ohne Rücksicht auf die Dauer der Anwesenheit im Aufenthaltsstaat zu unterbleiben.

Art. 9 Abs. 2: Der Aufenthalt im Sinne des Art. 8 Abs. 1 gilt bei Abwesenheit bis zur Dauer eines Monates nicht als unterbrochen.

Art. 9 Abs. 3: Bei Berechnung der Aufenthaltsdauer nach Art. 8 Abs. 1 werden Zeiträume, in denen der Lebensunterhalt ganz oder teilweise aus Mitteln der Fürsorge des Aufenthaltsstaates gewährt worden ist, nicht berücksichtigt."

Im Beschwerdefall steht unbestritten fest, daß der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides über keinerlei Einkommen, Vermögen oder sonstige Barmittel verfügte und somit als hilfsbedürftig anzusehen war.

Dieser Sachverhalt wäre bei isolierter Betrachtung zunächst einer Subsumtion unter den Versagungstatbestand des § 25 Abs. 3 lit. e Paßgesetz zugänglich. Auf den vorliegenden Fall ist aber - was die Beschwerde berechtigt ins Treffen führt - auch das oben zitierte Abkommen anzuwenden, welches im Wege seiner dargestellten Bestimmungen den erwähnten Versagungstatbestand des Paßgesetzes in einer für den Beschwerdefall relevanten Weise modifiziert. Danach kommt es darauf an, ob sich der Beschwerdeführer einerseits bereits 1 Jahr lang ununterbrochen in Österreich aufgehalten hat und weiters darauf, ob und allenfalls wie lange dem Beschwerdeführer der Lebensunterhalt ganz oder teilweise aus Fürsorgemitteln gewährt worden ist bzw. wie lange allfällige Aufenthaltsunterbrechungen jeweils gedauert haben.

Die belangte Behörde hat bei ihrer Entscheidung die aufgezeigten Kriterien der zitierten Bestimmungen des Abkommens inhaltlich zum überwiegenden Teil nicht berücksichtigt, weil sie lediglich die Frage für relevant erachtete, daß der Beschwerdeführer keine Fürsorgeleistungen bezieht. Gerade dies würde aber gemäß Art. 9 Abs. 3 des Abkommens - entsprechend erlaubte Aufenthaltsdauer vorausgesetzt - nur für den Standpunkt des Beschwerdeführers sprechen.

Insofern die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift den Standpunkt vertritt, das Privileg des Art. 8 Abs. 1 des Abkommens komme erst bei Erlassung eines Aufenthaltsverbots zum Tragen, ist darauf zu verweisen, daß die zitierte Bestimmung nach dem ausdrücklichen Willen der vertragschließenden Teile (vgl. 1024 der Beilagen zu den stenopraphischen Protokollen des Nationalrates, XI. Gesetzgebungsperiode, Seite 18) den Zweck hat, nicht nur zu verhindern, daß gegen einen Hilfsbedürftigen mit einem Aufenthaltsverbot vorgegangen wird, sondern auch sicherzustellen, daß einer solchen Person die begehrte Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung nicht aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit versagt wird. Gerade den letztgenannten Zweck strebt der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall aber an.

Durch die Außerachtlassung der Kriterien des Art. 8 Abs. 1 und des Art. 9 Abs. 2 und 3 des Abkommens hat die belangte Behörde somit ihren Bescheid mit einer inhaltlichen Rechtswidrigkeit belastet, weshalb der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers vom 30. Mai 1985, BGBl. Nr. 243/1985.

Wien, am 25. November 1987

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