VwGH 2012/08/0047

VwGH2012/08/004728.3.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Müller und die Hofräte Dr. Strohmayer, Dr. Lehofer und MMag. Maislinger sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Peck, über die Beschwerde des G U in B, vertreten durch Dr. Franz Hitzenberger, Dr. Otto Urban, Mag. Andreas Meissner, Mag. Thomas Laherstorfer, Dr. Robert Gamsjäger und Mag. Bertram Fischer, Rechtsanwälte in 4840 Vöcklabruck, Feldgasse 6, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Oberösterreich vom 29. Dezember 2011, Zl. Ges-180551/2-2011-Sax/Ws, betreffend Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG (mitbeteiligte Partei:

Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Landesstelle Linz, in 4017 Linz, Garnisonstraße 5), zu Recht erkannt:

Normen

ASVG §101;
ASVG §101;

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

Aus der vorliegenden Beschwerde und dem ihr beigeschlossenen, angefochtenen Bescheid (samt den weiteren der Beschwerde beigelegten Urkunden) ergibt sich folgender Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer erlitt am 12. Juni 2002 einen Arbeitsunfall, über dessen Folgen beim Landesgericht W als Arbeits- und Sozialgericht ein Verfahren anhängig war. Dieses Verfahren wurde am 9. Februar 2005 mit Abschluss eines Vergleiches beendet, wobei festgelegt wurde, dass dem Beschwerdeführer für die Zeit vom 30. September 2002 bis 31. Mai 2004 eine vorläufige Versehrtenrente gebühre. Im Anschluss gebühre keine Rente mehr.

Am 9. Oktober 2006 beantragte der Beschwerdeführer wegen Verschlimmerung der Folgen nach dem Arbeitsunfall die Zuerkennung einer Rente. Dieser Antrag wurde mit Bescheid der mitbeteiligten Versicherungsanstalt vom 20. Dezember 2006 abgewiesen. Das dagegen geführte sozialgerichtliche Verfahren wurde mit Zurückziehung der Klage beendet (Landesgericht W).

Am 31. März 2009 beantragte der Beschwerdeführer neuerlich die Zuerkennung einer Rente wegen Verschlimmerung der Unfallfolgen. Die mitbeteiligte Versicherungsanstalt wies diesen Antrag gemäß § 183 ASVG ab, da im Zustand der Unfallfolgen keine wesentliche Änderung eingetreten sei.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Klage. Mit Urteil des Landesgerichtes W als Arbeits- und Sozialgericht vom 12. November 2010 wurde das Klagebegehren, dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 12. Juni 2002 eine Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß zu bezahlen, rechtskräftig abgewiesen.

Mit Schriftsatz vom 30. März 2011 beantragte der Beschwerdeführer die rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG.

Mit Bescheid der mitbeteiligten Versicherungsanstalt vom 1. Juni 2011 wurde dieser Antrag zurückgewiesen. Die mitbeteiligte Versicherungsanstalt führte begründend aus, mit Vergleich vom 9. Februar 2005 sei eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente ab 30. September 2002 bis 31. Mai 2004 zuerkannt worden. Ab 1. Juni 2004 habe eine Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht mehr bestanden. Ein neuerlicher Antrag auf Gewährung einer Versehrtenrente vom 31. März 2009 wegen Verschlimmerung der Unfallfolgen sei mit Urteil des Landesgerichtes W als Arbeits- und Sozialgericht vom 12. November 2010 abgewiesen worden. Aus dem Gutachten der gerichtlichen Sachverständigen habe sich keine Änderung der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit ergeben; es lägen somit unveränderte Verhältnisse vor. Dem Bescheid vom 15. Juli 2009 sei hinsichtlich der Ablehnung einer Versehrtenrente mangels wesentlicher Änderung der Verhältnisse weder ein wesentlicher Irrtum noch ein offensichtliches Versehen zugrunde gelegen.

Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid Einspruch und wandte ein, er habe für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 12. Juni 2002 zunächst eine vorläufige Versehrtenrente von 20 % für die Zeit vom 30. September 2002 bis 31. Mai 2004 bezogen. Zu diesem Zeitpunkt wäre bereits eine Dauerrente zu bilden gewesen. Im Gutachten, das im mit Vergleich vom 9. Februar 2005 beendeten Verfahren des Landesgerichtes W eingeholt worden sei, sei festgestellt worden, dass im rein unfallchirurgischen Bereich ab 1. Juni 2004 keine messbare Minderung der Erwerbsfähigkeit mehr bestehe. Der Augenfacharzt habe in seinem Bereich eine Minderung von 10 % und der Neurologe und Psychiater eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 5 % eingeschätzt. Im neuerlichen Verfahren des Landesgerichtes W habe sich jedoch herausgestellt, dass aufgrund genauerer Messtechnik die bestehenden Beschwerden aus augenfachärztlicher Sicht mit 15 % Minderung der Erwerbsfähigkeit zu bewerten gewesen wären. Unter Berücksichtigung der neurologischen Gutachten bestehe seit 1. Juni 2004 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 %. Die nunmehr genauere Messtechnik habe es ermöglicht, einen Irrtum in der Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit aufzudecken. Es handle sich hiebei um einen wesentlichen Irrtum iSd Gesetzes, da dadurch der Sachverhalt völlig anders zu beurteilen sei. Beim Kläger liege seit 1. Juni 2004 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % vor. Es werde daher beantragt, dem Antragsteller eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 % ab 1. Juni 2004 zuzusprechen.

Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde dem Einspruch keine Folge. Begründend führte sie nach Wiedergabe des Verfahrensverlaufes und Darlegung des - bereits oben wiedergegebenen - Sachverhaltes aus, § 101 ASVG sei nur anwendbar auf Bescheide eines Versicherungsträgers, nicht auch auf Leistungsfeststellungen, die zuletzt von einem Gericht ergangen seien, da mit der Erhebung der Klage beim Gericht der Bescheid des Versicherungsträgers im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft trete und daher insoweit jede Entscheidungsbefugnis des Versicherungsträgers wegfalle. Durch den Vergleich vom 9. Februar 2005 bestehe somit keine Entscheidungsbefugnis des Versicherungsträgers gemäß § 101 ASVG. Der Antrag des Beschwerdeführers sei daher von der mitbeteiligten Versicherungsanstalt zu Recht zurückgewiesen worden. Informativ sei darauf zu verweisen, dass auch in den im neuerlichen Verfahren eingeholten gerichtlichen Sachverständigengutachten sich keine Änderung der Einschätzung gegenüber den maßgeblichen Vorgutachten ergeben habe und demgemäß die Klage auch mit Urteil abgewiesen worden sei.

Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

1. Der Beschwerdeführer macht geltend, bereits im mit Vergleich beendeten Verfahren habe die Minderung der Erwerbsfähigkeit mehr als 20 % betragen; es wäre daher eine Dauerrente zu bilden gewesen. Die im neuerlichen Verfahren angewandte genauere Messtechnik habe nämlich ergeben, dass im Bereich der Augenfunktion bestehende Fehler im Ausmaß von 15 % vorlägen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit sei daher tatsächlich um 5 % höher als im ersten Verfahren angenommen. Der Sachverständige habe jedoch in seinem damaligen Ergänzungsgutachten festgehalten, dass eine Dauerrente ab dem 1. Juni 2004 nicht mehr argumentierbar sei. Es sei daher schon damals ein Irrtum in der Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit vorgelegen. Die im neuerlich abgeführten sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten Gutachten gingen davon aus, dass eine Dauerrente auf Grund der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % seit dem 1. Juni 2004 zu bilden sei. Dem stehe jedoch die Rechtskraft der Vorentscheidung entgegen. Der Vergleich aus dem Jahr 2004 stehe einer Entscheidung nach § 101 ASVG nicht entgegen; es sei hier von einem Irrtum der Behörde auszugehen. Wäre die genauere Messtechnik bereits im ersten Verfahren zur Verfügung gestanden, so wäre der Vergleich nicht in der vorliegenden Form zustande gekommen. Es sei daher bereits im ersten Verfahren ein Irrtum der "erkennenden Behörde" (gemeint wohl: mitbeteiligten Versicherungsanstalt) vorgelegen, als sie den Antrag des Beschwerdeführers auf Versehrtenrente abgewiesen habe.

2. Gemäß § 203 Abs. 1 ASVG besteht Anspruch auf Versehrtenrente, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch die Folgen eines Arbeitsunfalles oder eine Berufskrankheit über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 v.H. vermindert ist; die Versehrtenrente gebührt für die Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v.H.

Ergibt sich nachträglich, dass eine Geldleistung bescheidmäßig infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde, so ist gemäß § 101 ASVG mit Wirkung vom Tage der Auswirkung des Irrtums oder Versehens der gesetzliche Zustand herzustellen.

Schon aus dem Gesetzeswortlaut ergibt sich, dass es sich bei der Herstellung des gesetzlichen Zustandes um Geldleistungen aus der Sozialversicherung handeln muss, über die bescheidmäßig abgesprochen worden ist. § 101 ASVG ist nur auf Bescheide anwendbar, nicht auch auf Leistungsfeststellungen, die zuletzt von einem Gericht ergangen sind, da mit der Erhebung der Klage bei Gericht der Bescheid des Versicherungsträgers im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft tritt und daher insoweit jede Entscheidungsbefugnis des Versicherungsträgers wegfällt (vgl. das hg. Erkenntnis vom 14. Oktober 2009, Zl. 2007/08/0171, mwN).

Im hier zu beurteilenden Fall trat der dem mit Vergleich beendeten Verfahren vor dem Landesgericht W zu Grunde liegende Bescheid der mitbeteiligten Versicherungsanstalt mit der (rechtzeitigen) Erhebung der Klage außer Kraft (§ 71 Abs. 1 ASGG). Auch später von der mitbeteiligten Versicherungsanstalt erlassene Bescheide betreffend Versehrtengeld aus dem Arbeitsunfall vom 12. Juni 2002 traten jeweils durch Klagserhebung außer Kraft. Der Nicht-Zuerkennung von Versehrtengeld ab dem 1. Juni 2004 liegt sohin kein Bescheid der mitbeteiligten Versicherungsanstalt zu Grunde, sodass schon deswegen kein Anwendungsfall des § 101 ASVG gegeben ist.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass ein Irrtum über den Sachverhalt (nur) dann vorliegt, wenn der Sozialversicherungsträger Sachverhaltselemente angenommen hat, die mit der Wirklichkeit zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung nicht übereinstimmten. Der Irrtum ist dann als wesentlich iSd § 101 ASVG anzusehen, wenn er für die rechtliche Beurteilung des den Gegenstand des Verwaltungsverfahrens bildenden Leistungsanspruchs Bedeutung erlangt (vgl. das hg. Erkenntnis vom 29. Juni 1999, Zl. 97/08/0588).

Ist - wie hier - das Ergebnis des Verfahrens von medizinischen Fragen und damit von Sachverständigengutachten abhängig, dann kann zwar in der Außerachtlassung einer gesicherten Erkenntnis des Faches ein offenkundiges Versehen liegen.

§ 101 ASVG bietet aber keine Handhabe dafür, jede Fehleinschätzung im Tatsachenbereich, insbesondere auch die Beweiswürdigung im Nachhinein neuerlich aufzurollen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. Mai 2004, Zl. 2001/08/0030, mwN). Insbesondere liegt ein wesentlicher Sachverhaltsirrtum dann nicht vor, wenn sich bloß die medizinische Einschätzung - etwa aufgrund neuerer medizinischer Erkenntnisse - geändert hat (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. März 1997, Zl. 96/08/0079).

Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, dass ein Sachverständiger eine gesicherte Erkenntnis seines Faches außer Acht gelassen hätte. Auch trägt er nicht vor, dass die Sachverständigen einen konkreten Leidenszustand unbeachtet gelassen hätten (vgl. das hg. Erkenntnis vom 27. Juli 2001, Zl. 2001/08/0040). Dass sich durch eine nunmehr genauere Messtechnik eine Änderung der Beurteilung hinsichtlich der Minderung der Erwerbsfähigkeit ergibt, begründet aber keinen wesentlichen Sachverhaltsirrtum.

Da somit bereits aus der vorliegenden Beschwerde zu erkennen ist, dass die behauptete Rechtsverletzung nicht vorliegt, war sie ohne weiteres Verfahren gemäß § 35 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Wien, am 28. März 2012

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