VwGH 2011/23/0365

VwGH2011/23/036531.1.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Pitsch, über die Beschwerde des D in W, vertreten durch Mag. Wilfried Embacher, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 20. Juli 2010, Zl. E1/248.013/2010, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
FrPolG 2005 §66 Abs3;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
FrPolG 2005 §66 Abs3;
EMRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer reiste am 27. Mai 2000 mit einem gültigen georgischen Reisepass in das Bundesgebiet ein, wo er Asyl beantragte. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 25. August 2000 abgewiesen und gleichzeitig festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Georgien zulässig sei. Der dagegen erhobenen Berufung gab der unabhängige Bundesasylsenat mit Bescheid vom 29. April 2008 keine Folge. Der Verwaltungsgerichtshof lehnte die Behandlung der Beschwerde, nachdem ihr zuvor aufschiebende Wirkung zuerkannt worden war, mit Beschluss vom 8. September 2009 ab.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 20. Juli 2010 wies die belangte Behörde den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) aus dem Bundesgebiet aus.

Begründend führte sie dazu aus, dass der Beschwerdeführer nach "Widerruf" seiner vorläufigen Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz im September 2009 unrechtmäßig im Bundesgebiet verblieben sei. Ein Verfahren über seinen Antrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - unbeschränkt" (§ 43 Abs. 2 NAG) vom 13. Oktober 2009 sei beim Landeshauptmann von Wien noch anhängig.

Da sich der Beschwerdeführer seit rechtskräftig negativem Abschluss seines Asylverfahrens unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, sah die belangte Behörde die Voraussetzungen zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 53 Abs. 1 FPG - vorbehaltlich der Bestimmung des § 66 FPG - als gegeben an.

Der Beschwerdeführer sei ledig und habe keine Sorgepflichten. Seine Eltern und zwei Schwestern lebten in seinem Heimatland. In Österreich würden weder familiäre noch berufliche Bindungen bestehen. Der Beschwerdeführer habe jedoch geltend gemacht, dass er vollständig sozial integriert sei, was sich in einem dichten Netz enger Freundschaften und Bekanntschaften manifestiere. Die in diesem Zusammenhang vorgelegten sieben Schreiben diverser Personen würden ihn zusammengefasst als zuvorkommenden, aufrechten, freundlichen, sympathischen und liebenswerten Menschen beschreiben. Der Beschwerdeführer verfüge über keine arbeitsmarktrechtliche Bewilligung und dürfe mangels Aufenthaltstitels weder selbständig noch unselbstständig erwerbstätig sein. Nach einem von ihm vorgelegten "Arbeitsvorvertrag" würde er bei Erteilung einer Niederlassungsbewilligung als Hilfskraft eingestellt werden. Nach einem weiters übermittelten "Sprachzertifikat Deutsch" habe er am 7. November 2009 einen Test auf Niveaustufe A2 des Europarats mit 61 von 64 Punkten bestanden.

Vor dem Hintergrund eines "langjährigen und rechtmäßigen" inländischen Aufenthalts bejahte die belangte Behörde einen mit der Ausweisung verbundenen Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers. Dieser Eingriff erweise sich jedoch zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele, nämlich zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens, als dringend geboten, komme doch gerade den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften und deren Befolgung aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung ein besonders hoher Stellenwert zu. Gegen dieses Interesse verstoße der fast einjährige illegale Aufenthalt des Beschwerdeführers im Anschluss an sein negativ beendetes Asylverfahren gravierend. Der Beschwerdeführer sei überdies nicht selbsterhaltungsfähig. Trotz seines offenbar erfolgreichen Versuchs, sich die deutsche Sprache anzueignen, und der "Einstellungszusage" sei er wegen fehlender arbeitsmarktrechtlicher Bewilligung gegenwärtig im Arbeitsmarkt nicht integriert. Er habe auch keine Sozialversicherungszeiten aus eigener Erwerbstätigkeit vorzuweisen. Obgleich diverse soziale Kontakte gegeben seien, bestehe kein in einem gemeinsamen Haushalt geführtes Familienleben. Sein bisheriger Aufenthalt habe sich nur auf einen Asylantrag gestützt, der sich in der Folge als unbegründet erwiesen habe. Der Beschwerdeführer habe sich daher seines unsicheren aufenthaltsrechtlichen Status bewusst sein müssen und habe nicht darauf vertrauen dürfen, sich im Bundesgebiet niederlassen zu können. Der Beschwerdeführer habe zwar behauptet, sein Kontakt zu Georgien sei "weitgehend" bzw. "völlig" abgebrochen, jedoch nicht dargelegt, dass ein Wiederaufbau der sozialen Kontakte nicht möglich wäre. Sein zeitlich nicht näher präzisiertes Vorbringen zum Verlust der georgischen Staatsbürgerschaft sei unbelegt geblieben.

Da außer der strafgerichtlichen Unbescholtenheit keine besonderen Umstände zugunsten des Beschwerdeführers sprechen würden, sei auch nicht im Rahmen des Ermessens von der Ausweisung Abstand zu nehmen gewesen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG Bezug genommen, so handelt es sich dabei um die im Juli 2010 geltende Fassung.

Unter der Überschrift "Ausweisung Fremder ohne Aufenthaltstitel" ordnet § 53 Abs. 1 FPG an, dass Fremde mit Bescheid ausgewiesen werden können, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist sie gemäß § 66 Abs. 1 FPG nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 66 Abs. 2 FPG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 66 Abs. 3 FPG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Bei einer Entscheidung über eine Ausweisung ist der Behörde Ermessen eingeräumt (vgl. etwa das Erkenntnis vom 17. September 2012, Zl. 2011/23/0471, mwN).

In der Beschwerde wird nicht bestritten, dass das Asylverfahren des Beschwerdeführers rechtskräftig negativ beendet ist und ihm kein Aufenthaltstitel erteilt wurde. Die behördliche Annahme, der Tatbestand des § 53 Abs. 1 FPG sei erfüllt, erweist sich daher nicht als rechtswidrig. Die Beschwerde wendet sich aber u. a. gegen das Ergebnis der behördlichen Interessenabwägung nach § 66 FPG und ist damit im Recht.

Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt ausgesprochen, dass ein über zehnjähriger, überwiegend rechtmäßiger inländischer Aufenthalt - mag dieser auch auf asylrechtliche Bestimmungen zurückzuführen sein - den persönlichen Interessen eines Fremden an einem Verbleib im Bundesgebiet ein großes Gewicht verleihen kann. Bei einer solchen, dermaßen langen Aufenthaltsdauer wird regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich und damit der Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung auszugehen sein (vgl. zu alldem etwa das Erkenntnis vom 20. März 2012, Zl. 2011/18/0256, mwN). Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden ausnahmsweise Ausweisungen auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. etwa das Erkenntnis vom 30. August 2011, Zl. 2008/21/0605, mwN).

Von einem Fehlen jeglicher Integration kann aber im gegenständlichen Beschwerdefall nicht die Rede sein. So stellte bereits die belangte Behörde die nachgewiesenen Deutschkenntnisse des - unbescholtenen - Beschwerdeführers fest, der sich bei Erlassung des angefochtenen Bescheides bereits etwa zehn Jahre und zwei Monate in Österreich aufhielt. Den Feststellungen zufolge erwarb der Beschwerdeführer zuletzt das "Sprachzertifikat Deutsch" auf Niveaustufe A2 mit 61 von 64 Punkten. Der Beschwerdeführer belegte weiters die von ihm vorgebrachte soziale Integration durch Empfehlungsschreiben von mehreren mit ihm befreundeten Personen, die - wie im angefochtenen Bescheid dargelegt - ein überaus positives Bild vom Beschwerdeführer zeichnen. Auf den bereits in der Stellungnahme vom 3. Mai 2010 vorgebrachten Umstand, dass eine Lebensgemeinschaft mit einer rechtmäßig im Inland aufhältigen weißrussischen Staatsangehörigen bestehe, ging die belangte Behörde außerdem im angefochtenen Bescheid nicht näher ein. Der Beschwerdeführer setzte überdies bereits konkrete Schritte zu einer beruflichen Integration. Im Hinblick auf das Vorliegen des Arbeitsvorvertrages ist daher auch eine (zukünftige) Selbsterhaltungsfähigkeit des Beschwerdeführers in Österreich nicht von Vornherein auszuschließen. Auch der - ebenfalls bereits im Verwaltungsverfahren vorgebrachte - Erwerb des Führerscheins in Österreich spricht einerseits für die Integration des Beschwerdeführers im Inland und rechtfertigt andererseits die Annahme eines besseren Fortkommens am Arbeitsmarkt. Dies hat die belangte Behörde in ihre Überlegungen im Rahmen der Interessenabwägung nicht miteinbezogen.

Vor diesem Hintergrund ist daher das während der Dauer des Aufenthalts in Österreich aufgebaute Privatleben des Beschwerdeführers von maßgebenden Umständen gekennzeichnet, die seine Ausweisung unverhältnismäßig erscheinen lassen.

Das hat die belangte Behörde, die auf die Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls nicht ausreichend Bedacht genommen hat, verkannt und ihren Bescheid dadurch mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, sodass er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 31. Jänner 2013

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