VwGH 2011/22/0021

VwGH2011/22/00215.5.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Merl und Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Henk, über die Beschwerde der V P in W, vertreten durch Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 19. Juli 2010, Zl. 155.994/2- III/4/10, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §71 Abs1 Z1;
NAG 2005 §24 Abs1;
NAG 2005 §24 Abs2 idF 2009/I/029;
VwRallg;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2011:2011220021.X00

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführerin, einer ukrainischen Staatsangehörigen, wurde am 17. Oktober 2008 eine bis zum 17. Oktober 2009 gültige Niederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "Angehöriger" erteilt. Am 6. November 2009 beantragte sie im Inland die Verlängerung dieses Aufenthaltstitels und stellte gleichzeitig einen Antrag gemäß § 24 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG. Sie brachte darin im Wesentlichen vor, dass bisher ihr Schwager G. als ihr Vertreter alle ihre Behördenwege - fristgerecht und ordnungsgemäß - erledigt habe. Er sei Inhaber zweier "Firmen", einer näher bezeichneten KEG sowie einer ebenfalls näher bezeichneten GmbH. In der GmbH beschäftige er drei Mitarbeiter. Am 9. Oktober 2009 habe er seinen leitenden Angestellten fristlos entlassen. Auf Grund der guten Auftragslage im Oktober und des Verlusts des leitenden Angestellten habe er täglich bis zu 16 Stunden arbeiten müssen. In dieser Phase der extremen Arbeitsbelastung und Überbeanspruchung habe es G. versäumt, binnen offener und intern vorgemerkter Frist den Verlängerungsantrag bis spätestens 16. Oktober 2009 zu stellen. Weder geschäftlich noch privat sei ihm jemals zuvor ein derartiger Fehler unterlaufen. Angesichts der psychischen Ausnahmesituation auf Grund des unvorhersehbar hohen Arbeitsanfalls und der Entlassung des leitenden Angestellten sei aber zuzubilligen, dass auch einem sonst sorgfältigen Menschen wie G. ein solcher Fehler passieren könne. Am 1. November 2009 habe er die Fristversäumnis bemerkt.

Dem Antrag lag eine eidesstattliche Erklärung des G. bei, in der dieser bestätigte, von der Beschwerdeführerin beauftragt und bevollmächtigt zu sein, für sie sämtliche Dokumente und Schriftstücke für alle österreichischen Behördenverfahren ordnungsgemäß zusammenzustellen sowie für die fristgerechte Einreichung von Anträgen zu sorgen.

Am 11. Jänner 2010 stellte die Beschwerdeführerin - nach entsprechender Belehrung durch die erstinstanzliche Behörde (Landeshauptmann von Wien) - einen Antrag auf Zulassung der Inlandsantragstellung gemäß § 21 Abs. 3 NAG. Die Ausreise aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung sei ihr nicht möglich bzw. nicht zumutbar. Sie lebe im gemeinsamen Haushalt mit ihrer Schwester und ihrem Schwager, einem österreichischen Staatsbürger. Sie habe in der Ukraine eine Ausbildung als Krankenschwester abgeschlossen und beabsichtige, diese nunmehr in Österreich nostrifizieren zu lassen. Zu diesem Zweck habe sie das erste Jahr ihres Aufenthaltes genützt, um sich sehr gute Deutschkenntnisse anzueignen, und insgesamt acht Deutschkurse abgelegt. Nach Besuch des letzten Deutschkurses habe sie mit ihrer Vorbereitung auf den Eignungstest zur Erlangung eines Ausbildungsplatzes im Nostrifikationslehrgang an der Schule für allgemeine Gesundheits- und Krankenpflege im allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien begonnen. Die Prüfung werde am 5. März 2010 stattfinden. Eine Ausreise zum Zweck der Antragstellung und des Abwartens der Entscheidung im Ausland hätte zur Folge, dass sie die Prüfungsvorbereitung nicht wie geplant fortführen könnte. Auf Grund der durchschnittlichen Dauer eines Niederlassungsbewilligungsverfahrens sei es auch nicht auszuschließen, dass sie den Prüfungstermin nicht wahrnehmen könnte. Ein weiterer Prüfungstermin stehe aber erst rund ein halbes Jahr später zur Verfügung. Die daraus resultierende Verschiebung des Beginns des Nostrifikationslehrganges könnte der Beschwerdeführerin nicht zugemutet werden. Darüber hinaus käme es zu einer Trennung von ihrem Schwager und ihrer Schwester, mit denen sie ein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK führe.

Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 22. März 2010 wurde der Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 21 Abs. 1 iVm § 24 Abs. 2 NAG wegen unzulässiger Inlandsantragstellung abgewiesen.

In der dagegen erhobenen Berufung wiederholte die Beschwerdeführerin ihr Vorbringen zum Antrag gemäß § 24 Abs. 2 NAG und wies außerdem darauf hin, dass sie anlässlich der Erteilung der ersten Niederlassungsbewilligung dahingehend belehrt worden sei, dass der Verlängerungsantrag spätestens innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels gestellt werden müsse. Schon aus diesem Grund sei der Beschwerdeführerin die Fristversäumnis nicht vorzuwerfen. Jedenfalls sei die Ausreise zum Zweck der Antragstellung der Beschwerdeführerin nicht zumutbar. Sie habe in der Zwischenzeit den Eignungstest bestanden und sich für den nächstfolgenden Nostrifikationslehrgang beworben. Die Aufnahmekommission trete am 22. Juni 2010 zusammen; die Beschwerdeführerin müsse daher an diesem Tag um 11 Uhr in der Schule in Wien anwesend sein, andernfalls sei eine Aufnahme in den Lehrgang nicht möglich. Weiters müssten danach noch zusätzliche Unterlagen eingebracht werden, um die Teilnahme definitiv zu fixieren. Eine Ausreise zum Zweck der Antragstellung würde bedeuten, dass die Beschwerdeführerin den Lehrgang nicht im September beginnen könnte, wodurch sie in ihrem Fortkommen nachhaltig gehindert wäre. Darüber hinaus käme es zu einer Trennung von ihrem Schwager und ihrer Schwester, mit denen sei im gemeinsamen Haushalt lebe und von denen sie finanziell unterstützt werde.

In einer Stellungnahme vom 30. Juni 2010 erklärte die Beschwerdeführerin, in den Nostrifikationslehrgang bedingt aufgenommen worden zu sein. Um definitiv aufgenommen zu werden, müsse sie weitere (formale) Aufnahmebedingungen erfüllen und am 2. September 2010 Unterlagen, die nur in Österreich erhältlich seien, (insbesondere ein in Österreich ausgestelltes ärztliches Attest) persönlich abgeben. Nach der definitiven Aufnahme in den Lehrgang sei ihre lückenlose Anwesenheit im Bundesgebiet unabdingbar, weil der Lehrgangsplan keine längeren Unterbrechungen zulasse.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 19. Juli 2010 wurde die Berufung gemäß § 21 Abs. 1 und 3 sowie § 24 Abs. 2 NAG abgewiesen. Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass § 24 Abs. 2 Z 1 NAG nicht herangezogen werden könne, weil das Übersehen der Frist durch den bevollmächtigten Schwager der Beschwerdeführerin, dessen Verschulden ihr zuzurechnen sei, kein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis darstelle, das sie an der rechtzeitigen Einbringung eines Verlängerungsantrages gehindert hätte. Die Verantwortung bei der Einhaltung einer Antragsfrist liege allein bei der Beschwerdeführerin, und sie bzw. ihr bevollmächtigter Vertreter hätte "der gebotenen Sorgfaltspflicht nachkommen" müssen. Hinweise, dass die Beschwerdeführerin kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens getroffen hätte, ergäben sich aus ihren diesbezüglichen Darstellungen nicht. Auch von einer zur Vertretung in Verfahren bevollmächtigten Privatperson seien - wenn auch nicht im Ausmaß und der Professionalität wie bei einem Rechtsanwalt - Maßnahmen zu fordern, um ein Übersehen von Fristen zu unterbinden. Dies gelte vor allem auch für den Schwager der Beschwerdeführerin, der bereits seit mehreren Jahren Erfahrung im Umgang mit Behörden habe und dem auch in seiner langjährigen Tätigkeit als Unternehmer die Einhaltung von Fristen und Terminen nicht fremd sei. Es könne daher nicht von einem Versehen minderen Grades oder gar keinem Verschulden ausgegangen werden. Auch das Vorbringen betreffend die falsche Belehrung durch die erstinstanzliche Behörde anlässlich der Ausfolgung des letzten Aufenthaltstitels gehe ins Leere, weil sich seither die Rechtslage geändert habe.

Hinsichtlich der Zulassung der Inlandsantragstellung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass sich die Beschwerdeführerin seit dem 2. November 2008 im Bundesgebiet aufhalte. Es bestehe somit noch kein langjähriger Aufenthalt. Die Beschwerdeführerin sei zwar in den Nostrifizierungslehrgang an der Schule für Gesundheits- und Krankenpflege (bedingt) aufgenommen worden, stehe damit aber erst am Beginn ihrer Aus- bzw. Weiterbildung, sodass in ihrem Fall nicht von ausnahmsweise hoch angesetzten persönlichen Interessen an der Fortführung der Ausbildung und einer damit einhergehenden "Verfestigung Ihrer Person hier in Österreich" ausgegangen werden könne, die "einen unbedingten weiteren Verbleib im Bundesgebiet von Nöten machen würden". Auch im Hinblick auf ihre familiäre Situation komme den privaten Interessen der Beschwerdeführerin kein derart hoher Stellenwert zu. Das öffentliche Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften sei "aus der Sicht des Schutzes der öffentlichen Ordnung" höher zu bewerten gewesen als die nicht schwerwiegenden persönlichen Interessen der Beschwerdeführerin. Die Ausreise aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung sei ihr nach Abwägung der öffentlichen Interessen mit ihren privaten Interessen jedenfalls zumutbar.

Nachdem dem Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG nicht stattgegeben worden sei, sei der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "mangels rechtskonformer Antragstellung sowie des Vorliegens eines zwingenden Versagungsgrundes" abzuweisen gewesen.

 

Über die gegen diesen Bescheid erhobene, nach Ablehnung durch den Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 15. Dezember 2010, B 1235/10-5, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetretene Beschwerde, hat der Verwaltungsgerichtshof nach Beschwerdeergänzung und Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Die Beschwerdeführerin führt zunächst zum Antrag gemäß § 24 Abs. 2 NAG aus, dass diesem stattzugeben gewesen wäre, weil einerseits von der erstinstanzlichen Behörde eine Rechtsbelehrung erfolgt sei, die sich im Nachhinein auf Grund einer Gesetzesänderung als falsch herausgestellt habe, und andererseits das Vergessen ihres bevollmächtigten Schwagers ein unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis gewesen sei, wobei nur ein minderer Grad des Versehens vorliege.

§ 24 Abs. 2 NAG (in der Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009) lautet:

"(2) Anträge, die nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels gestellt werden, gelten nur dann als Verlängerungsanträge, wenn

1. der Antragsteller gleichzeitig mit dem Antrag glaubhaft macht, dass er durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis gehindert war, rechtzeitig den Verlängerungsantrag zu stellen, und ihn kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft, und

2. der Antrag binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses gestellt wird; § 71 Abs. 5 AVG gilt.

Der Zeitraum zwischen Ablauf der Gültigkeitsdauer des letzten Aufenthaltstitels und der Stellung des Antrages, der die Voraussetzungen der Z 1 und 2 erfüllt, gilt nach Maßgabe des bisher innegehabten Aufenthaltstitels als rechtmäßiger und ununterbrochener Aufenthalt."

Die Bestimmung ist § 71 Abs. 1 Z 1 AVG nachgebildet und soll der Sache nach eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Fall der Versäumung der materiellrechtlichen Frist des § 24 Abs. 1 NAG ermöglichen. Die Judikatur zu § 71 Abs. 1 Z 1 AVG kann daher auch für die Auslegung des § 24 Abs. 2 NAG herangezogen werden, worauf auch die Erläuterungen zur Regierungsvorlage (88 BlgNR 24. GP ) ausdrücklich hinweisen.

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist unter einem Ereignis im Sinn von § 71 Abs. 1 Z 1 AVG, das zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand führen kann, nicht nur ein von der Partei unbeeinflussbares Geschehen in der Außenwelt zu verstehen, sondern auch menschliche Unzulänglichkeiten und innere Vorgänge wie Vergessen, Versehen, Irrtum usw. (vgl. die bei Hengstschläger/Leeb, AVG, Rz 34 ff zu § 71 wiedergegebene hg. Judikatur). Der Begriff des minderen Grades des Versehens ist als leichte Fahrlässigkeit im Sinn von § 1332 ABGB zu verstehen. Der Wiedereinsetzungswerber bzw. sein Vertreter - dessen Verschulden der Partei zuzurechnen ist - darf also nicht auffallend sorglos gehandelt, somit die im Verkehr mit Behörden und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen haben (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 1. Juli 2010, Zl. 2009/04/0256). Die Partei ist grundsätzlich nicht gehalten, die Erfüllung eines an ihren Bevollmächtigten erteilten Auftrags zu überwachen; dies gilt nur dann nicht, wenn begründet damit gerechnet werden muss, der Vertreter werde untätig bleiben, etwa weil seine Zuverlässigkeit auf Grund konkreter Umstände in Zweifel zu ziehen ist (vgl. die bei Hengstschläger/Leeb, aaO, Rz 45 zu § 71wiedergegebene hg. Judikatur).

Im Beschwerdefall muss sich die Beschwerdeführerin das Verhalten ihres Schwagers, der nach ihren eigenen Angaben als ihr Vertreter gehandelt hat, zurechnen lassen. Es ist also zu beurteilen, ob diesen an der Fristversäumnis ein Verschulden trifft, das über den minderen Grad des Versehens hinausgeht. Dies ist fallbezogen zu verneinen: Zwar ist der belangten Behörde zuzugestehen, dass auch von einer zur Vertretung in Verfahren bevollmächtigten Privatperson Maßnahmen erwartet werden können, die das Versäumen von Fristen verhindern. Die Beschwerdeführerin hat aber ohnedies vorgebracht, dass die Frist ordnungsgemäß vorgemerkt worden sei. Nur infolge einer außerordentlichen, nicht vorhersehbaren beruflichen und psychischen Belastungssituation wurde die Frist dennoch übersehen. Der Verwaltungsgerichtshof vermag sich der Beurteilung der belangten Behörde, dass unter diesen besonderen Umständen die Fristversäumnis nicht auf einen bloß minderen Grad des Versehens (sondern auf eine auffallende Sorglosigkeit) zurückzuführen war, nicht anzuschließen. Auch die Beschwerdeführerin selbst trifft entgegen der Ansicht der belangten Behörde kein (grobes) Verschulden, weil sie darauf vertrauen durfte, dass ihr Bevollmächtigter, der sich in der Vergangenheit als zuverlässig erwiesen hatte, für die rechtzeitige Vorbereitung des Antrages sorgen würde.

Da die Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 NAG somit vorlagen, wäre der Antrag der Beschwerdeführerin als Verlängerungsantrag zu werten gewesen, der im Inland gestellt werden durfte.

Dadurch, dass die belangte Behörde dies verkannt hat, hat sie den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, sodass er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war. Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Wien, am 5. Mai 2011

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