VwGH 2011/21/0092

VwGH2011/21/009219.4.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Pitsch, über die Beschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 17. März 2011, Zl. VwSen-401101/9/Gf/Mu, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: S, vertreten durch Dr. Bernhard Rosenkranz, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Plainstraße 23; weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §77 Abs1;
FrPolG 2005 §77 Abs3;
FrPolG 2005 §83 Abs4;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs1;
FrPolG 2005 §77 Abs1;
FrPolG 2005 §77 Abs3;
FrPolG 2005 §83 Abs4;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste am 19. Juli 2009 von Italien kommend illegal nach Österreich ein und beantragte am Tag darauf - nach seinem polizeilichen Aufgriff -

die Gewährung von internationalem Schutz. Ab 14. August 2009 wurde er im Rahmen der Grundversorgung in Salzburg untergebracht. Diese Unterkunft verließ er jedoch am 10. November 2009.

Mit unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem Bescheid vom 25. November 2009 wies das Bundesasylamt den Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz gemäß § 7 AsylG 2005 ab und stellte nach § 8 leg. cit. fest, dass dem Mitbeteiligten auch der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf sein Herkunftsland Afghanistan nicht zukomme. Zugleich wurde er gemäß § 10 leg. cit. aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ausgewiesen.

Mit Bescheid vom 18. Jänner 2011 ordnete die Bezirkshauptmannschaft Zell am See gegenüber dem Mitbeteiligten, der ab 23. Dezember 2009 in einem Haus der Caritas untergebracht war und über Ladung bei der genannten Behörde vorgesprochen hatte, zur Sicherung seiner Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 77 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG das gelindere Mittel an, dass er in einem näher bezeichneten Objekt Unterkunft zu nehmen und sich jeden zweiten Tag (ab dem 20. Jänner 2011) bei der Polizeiinspektion Mittersill zu melden habe. Dieser Meldeverpflichtung leistete der Mitbeteiligte kein einziges Mal Folge und verwendete auch nicht die ihm zugewiesene Unterkunft, sondern reiste zunächst nach Wien (wo er sich trotz der erwähnten Unterbringung bereits vom 23. Dezember 2009 bis zum 25. Jänner 2010 obdachlos gemeldet hatte) und dann nach Deutschland aus. Am 26. Jänner 2011 erteilte die Bezirkshauptmannschaft Zell am See gemäß § 74 Abs. 2 Z. 2 und 3 FPG den Auftrag zur Festnahme des Mitbeteiligten.

Nach seiner Rücküberstellung aus Deutschland am 22. Februar 2011 erfolgte diese Festnahme. Mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom 22. Februar 2011 ordnete die Bundespolizeidirektion Salzburg über ihn sodann gemäß § 76 Abs. 1 FPG die Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung an. Am 24. Februar 2011 übernahm der Mitbeteiligte ein Informationsblatt betreffend die Möglichkeit, auf freiwilliger Basis - unter Inanspruchnahme von Rückkehrhilfe der Caritas Salzburg - in den Herkunftsstaat auszureisen. Hierauf wurde er enthaftet.

Nach seiner - durch das Fehlen eines gültigen Fahrausweises veranlassten - Betretung in einem Reisezug nach Wien verhängte die Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom 25. Februar 2011 gemäß § 76 Abs. 1 FPG neuerlich die Schubhaft, uzw. zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes sowie der Abschiebung. Begründend führte sie aus, der Mitbeteiligte sei unsteten Aufenthaltes, weitgehend mittellos und habe in massiver und nachhaltiger Form gegen die österreichischen Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen verstoßen. Da er sich wiederholt, am 10. November 2009 und nach dem 18. Jänner 2011, einen Aufenthalt "in völliger Anonymität" verschafft habe, äußerst flexibel in der Lebensgestaltung und in keiner Weise an eine Örtlichkeit gebunden sei, sei von einem besonders hohen Sicherungsbedarf auszugehen, dem durch Anwendung bloß eines gelinderen Mittels nicht ausreichend begegnet werden könne.

Dagegen erhob der Mitbeteiligte am 14. März 2011 Schubhaftbeschwerde, in der er auszusprechen beantragte, dass seine Anhaltung in Schubhaft seit dem 11. März 2011 rechtswidrig sei. Er erachte es als zulässig, dass ihn die Behörde über die Rechtslage informiere und ihm deutlich mache, dass er "im Falle einer neuerlichen Ausreise" nach Entlassung aus der Haft mit einer längeren Haft rechnen müsse. Allerdings reiche dafür "die Anhaltung in der Dauer von einer Woche" aus, nicht jedoch eine Anhaltung, die bereits mehr als zwei Wochen andauere.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 17. März 2011 gab die belangte Behörde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung dieser Schubhaftbeschwerde gemäß § 83 FPG "insoweit" statt, als die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft seit dem 11. März 2011 als rechtswidrig sowie weiter festgestellt wurde, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen derzeit nicht vorlägen.

Begründend stellte die belangte Behörde - über die eingangs wiedergegebenen unstrittigen Tatsachen hinaus - fest, der Mitbeteiligte habe bei seinem ersten Aufgriff in Österreich einen Personalausweis, eine Heiratsurkunde und eine Geburtsurkunde seiner vermeintlichen Ehefrau bei sich gehabt, wobei es sich insgesamt "um Verfälschungen bzw. Fälschungen handeln dürfte". (Einem dem Verhandlungsprotokoll der belangten Behörde angeschlossenen Polizeibericht vom 15. März 2011 ist zu entnehmen, dass im Personalausweis des Mitbeteiligten eine Lichtbildauswechslung erfolgt sei. Bei der Geburtsurkunde seiner "Ehefrau" handle es sich um eine im Tonerverfahren hergestellte "Totalfälschung". Die weiters vorgelegte Heiratsurkunde nehme auf die genannte "Ehefrau" Bezug, sodass eine rechtmäßige Ausstellung bzw. Erlangung angezweifelt werden müsse.)

Die Staatsangehörigkeit des Mitbeteiligten sei, so argumentierte die belangte Behörde weiter, nicht sicher, diese müsse "erst von der afghanischen Botschaft im Zuge des beantragten Heimreisezertifikates überprüft werden". Der Mitbeteiligte habe am fremdenpolizeilichen Verfahren bisher nicht konstruktiv mitgewirkt. Er verfüge nicht über Bargeld oder sonstiges Vermögen, sei aber - von Verstößen gegen melde- und einreiserechtliche Vorschriften abgesehen - noch nicht straffällig geworden. Er habe in Wien einen Onkel, den er jedoch erst einmal (in Wien) persönlich getroffen habe.

Anlässlich des erwähnten, mit Bescheid vom 18. Jänner 2011 erteilten Auftrages der Bezirkshauptmannschaft Zell am See (Verpflichtung zur Unterkunftnahme und periodischen Meldung bei der Polizeiinspektion Mittersill) habe der Mitbeteiligte zugesagt, sich um 14.00 Uhr desselben Tages bei der Polizeiinspektion Mittersill die Fingerabdrücke abnehmen zu lassen, sei allerdings dort nicht erschienen. Insgesamt ergebe sich, dass der Mitbeteiligte "zwar verstanden haben dürfte", dass er dazu verpflichtet sei, an einem näher bestimmten Ort seine Unterkunft zu nehmen und sich in periodischen Abständen bei der Polizeiinspektion Mittersill zu melden. Allerdings ergebe sich kein Hinweis dafür, dass ihn die Sachbearbeiterin der Bezirkshauptmannschaft Zell am See oder der von ihr beigezogene Dolmetscher "auch konkret darüber aufgeklärt hätte, dass er für den Fall der Nichtbefolgung dieser Anordnungen mit der Verhängung der Schubhaft zu rechnen gehabt hätte". Auch das frühere Fehlverhalten des Mitbeteiligten sei bis zu der am 22. Februar 2011 aus Anlass der Rückübernahme aus der Bundesrepublik Deutschland erfolgten Festnahme schließlich völlig sanktionslos geblieben.

Rechtlich bejahte die belangte Behörde das Vorliegen der "Formalvoraussetzungen des § 76 Abs. 1 FPG" sowie - unter Berücksichtigung des dargestellten Verhaltens des Mitbeteiligten - auch eine Sicherungsnotwendigkeit. Hervorzuheben seien die "fortgesetzte Verwendung verfälschter Dokumente", nur gelegentliche Aufenthalte in der zugewiesenen Betreuungsstelle trotz fehlender beruflicher oder sozialer Integration in Österreich, die Nichtentsprechung angeordneter gelinderer Mittel sowie unvorhersehbares Untertauchen in die Anonymität und Verschleierung der jeweiligen aktuellen Aufenthaltsorte. Dies alles falle deshalb besonders ins Gewicht, weil sich der Mitbeteiligte bereits zu einem Zeitpunkt in dieser Weise verhalten habe, als ihm "die Aussichtslosigkeit seines Asylantrages noch in keiner Weise bewusst war", sodass ein insoweit kooperatives Verhalten gleichsam als selbstverständlich erscheinen müsste. Der Mitbeteiligte habe durch den Gebrauch verfälschter Dokumente die Klärung seiner Identität erheblich erschwert. Er habe im Asylverfahren unberechtigt einen Wiedereinsetzungsantrag primär dazu gestellt, um dieses Verfahren in die Länge zu ziehen und dadurch seinen faktischen Aufenthalt in Österreich zu verlängern. Dadurch sei das ihm grundsätzlich entgegenzubringende Vertrauen objektiv-abstrakt gesehen in einem solchen Grad erschüttert, der es nicht zulasse, mit gutem Grund annehmen zu können, dass er sich zum Zeitpunkt seiner Abschiebung sowohl freiwillig als auch tatsächlich der Fremdenpolizeibehörde zur Verfügung halten werde. Letzterer könne daher nicht entgegengetreten werden, wenn sie davon ausgegangen sei, dass es "solcher Sicherungsmaßnahmen" bedurfte, die der dargestellten Motivationslage des Mitbeteiligten effektiv entgegenwirkten.

Allerdings sei der Mitbeteiligte anlässlich der erwähnten, ihm behördlich am 18. Jänner 2011 erteilten Aufträge zur Unterkunftnahme und periodischen Meldung nicht konkret darüber aufgeklärt worden, dass er für den Fall der Nichtbefolgung dieser Anordnungen mit der Verhängung der Schubhaft zu rechnen gehabt hätte. Damit "eine Verfügung iSd § 77 Abs. 3 FPG gleichsam pro futuro verwirkt angesehen werden" könne, dürfe im Sinn eines weitest möglichen Schutzes der Freiheitsrechte des Fremden gemäß Art. 5 EMRK objektiv kein Zweifel daran bestehen, dass er sich derartigen Maßnahmen in bewusster Kenntnis des Umstandes, dass für den Fall der - auch bloß einmaligen - Zuwiderhandlung seine unmittelbare Inschubhaftnahme drohe, widersetzt habe. Auf diese Konsequenzen sei er im Vorhinein ausdrücklich in einer ihm verständlichen Sprache hinzuweisen. Da dies unterblieben sei, habe der Mitbeteiligte auch deshalb, weil die bisherige Nichtbefolgung behördlicher Anordnungen sanktionslos geblieben sei, berechtigterweise den Schluss ziehen dürfen, "dass es sich insoweit eher bloß um moralische denn um rechtlich verbindliche Verpflichtungen handelte". Da der Mitbeteiligte in der mündlichen Verhandlung vom 16. März 2011 ruhig und besonnen gewirkt und nicht den Eindruck hinterlassen habe, bewusst destruktiv zu agieren, wäre es "subjektiv-konkret betrachtet" nach Abwägung aller beteiligten Interessen geboten gewesen, ab dem 11. März 2011 an Stelle seiner Anhaltung in Schubhaft gelindere Mittel nach § 77 Abs. 3 FPG anzuordnen. Das grundsätzliche, durch die genannten Kriterien objektivierbare Vertrauen, dass sich der Fremde zum Zeitpunkt der Durchführung der Abschiebung der Behörde zur Verfügung halten und faktisch greifbar sein werde, erscheine insgesamt nämlich nicht in einem solchen Maße erschüttert, das es nicht mehr zulassen würde, mit gutem Grund zwingend das Gegenteil annehmen zu müssen.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Oberösterreich hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Einleitend ist festzuhalten, dass vorliegend die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft vom 11. März bis zum 16. März 2011 und der nach § 83 Abs. 4 FPG getroffene Ausspruch des angefochtenen Bescheides zu beurteilen sind. Maßgebend ist daher die in diesem Zeitraum geltende Rechtslage (vor Inkrafttreten des FrÄG 2011).

Der Verwaltungsgerichtshof teilt die - im vorliegenden Verfahren nicht beanstandete - Annahme einer Sicherungsnotwendigkeit im Sinn des § 76 Abs. 1 Satz 1 FPG, nicht aber die weitere These, dass dieser durch eine bloße Anwendung gelinderer Mittel nach § 77 Abs. 3 FPG begegnet werden könne.

Der Mitbeteiligte hat nämlich von Anfang an seine Identität, insbesondere sein Geburtsjahr, verschleiert. Er hat sich nach Beendigung seines Asylverfahrens - als seine Außerlandesschaffung drohte - entgegen der Anordnung gelinderer Mittel und selbst nach dem erstmaligen Verspüren der Schubhaft im Verborgenen aufgehalten. Auch hat er generell eine hohe Mobilität und die Bereitschaft, sogar das Bundesgebiet zu verlassen, an den Tag gelegt.

Das von der belangten Behörde demgegenüber hervorgehobene Unterbleiben einer behördlichen Belehrung über einzelne Rechtsfolgen der Verhängung gelinderer Mittel mit Bescheid vom 18. Jänner 2011 betrifft schon grundsätzlich nur einen Teilaspekt der - eingangs im Einzelnen dargestellten - für die Entscheidung maßgeblichen Gesamtsituation des Mitbeteiligten. Ein durch diese Unterlassung (allfällig) ausgelöster Irrtum kann überdies deshalb nicht relevant sein, weil schon nach der grundlegenden Definition eines Bescheides als normativer Individualanordnung keine gesetzliche Grundlage dafür bestehen kann, mit einem Bescheid über das Bestehen einer "moralischen Verpflichtung" abzusprechen. Dazu kommt, dass ein Irrtum des Mitbeteiligten nach den Feststellungen des angefochtenen Bescheides nicht die Pflicht zu dem normativ angeordneten und damit rechtlich gebotenen Handeln, sondern nur die Rechtsfolgen (nämlich einer möglichen Verhängung der Schubhaft) eines Zuwiderhandelns umfasste. Insoweit hat aber jedenfalls die Obliegenheit des Mitbeteiligten dazu bestanden, bei etwaigen Zweifeln oder Unklarheiten aus Eigenem nachzufragen (vgl. in diesem Sinn etwa die hg. Erkenntnisse vom 25. März 2010, Zl. 2009/21/0176, und vom 22. September 2011, Zl. 2007/18/0848).

Unter Berücksichtigung des bereits ausführlich dargestellten bisherigen Verhaltens des Mitbeteiligten, das die belangte Behörde ihrer Entscheidung zu Grunde gelegt hat, haftet somit der Aufrechterhaltung der nach § 76 Abs. 1 FPG angeordneten Schubhaft auch ab dem 11. März 2011 - vorbehaltlich der Abschiebbarkeit des Beschwerdeführers (vgl. dazu den Aktenvermerk der Bundespolizeidirektion Salzburg vom 22. Februar 2011) - keine Rechtswidrigkeit an.

Der Gegenteiliges aussprechende angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 19. April 2012

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