VwGH 2010/22/0027

VwGH2010/22/002728.3.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des M, vertreten durch Mag. Josef Phillip Bischof, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Währinger Straße 26/1/3, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 8. Jänner 2010, Zl. 154.570/2-III/4/09, betreffend Nichtigerklärung eines Aufenthaltstitels, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §68 Abs4 Z4;
FremdenrechtsNov 2009;
FrPolG 2005 §53;
FrPolG 2005 §54;
FrPolG 2005 §55;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs1 Z2;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §3 Abs5 Z1;
NAG 2005 §3 Abs5;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
AVG §68 Abs4 Z4;
FremdenrechtsNov 2009;
FrPolG 2005 §53;
FrPolG 2005 §54;
FrPolG 2005 §55;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs1 Z2;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §3 Abs5 Z1;
NAG 2005 §3 Abs5;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid erklärte die belangte Behörde den dem Beschwerdeführer, einem tunesischen Staatsangehörigen, erteilten Aufenthaltstitel gemäß § 68 Abs. 4 Z 4 AVG iVm § 3 Abs. 5 Z 1 und § 11 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) für nichtig.

Dies begründete sie im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer am 3. April 2009 einen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 43 Abs. 2 NAG gestellt habe. Dabei sei nicht aufgefallen, dass gegen den Beschwerdeführer ein aufrechtes "Einreise-/Aufenthaltsverbot" der Bundesrepublik Deutschland bestehe. Deswegen sei eine Stellungnahme der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien eingeholt worden, derzufolge die Ausweisung des Beschwerdeführers dauerhaft unzulässig sei, weil sein ältester Sohn an einer seltenen Blutkrankheit leide und einer Behandlung bedürfe. Auf Grund dieser Stellungnahme sei dem Beschwerdeführer eine "Niederlassungsbewilligung unbeschränkt" gemäß § 43 Abs. 2 NAG mit Gültigkeit bis 24. August 2010 ausgestellt worden, die er am 3. September 2009 übernommen habe.

Nach Überprüfung des Falles sei festgestellt worden, dass von der Bundesrepublik Deutschland ein "Einreise-/Aufenthaltsverbot" am 17. Februar 1999 erlassen worden sei. Dies sei vom Beschwerdeführer nicht bestritten worden. Der Grund für diese Maßnahme sei darin gelegen, dass der Beschwerdeführer mit einem als gestohlen gemeldeten und nicht für ihn ausgestellten französischen Reisepass eingereist sei. Er sei wegen Urkundenfälschung rechtskräftig verurteilt worden. Somit sei gemäß § 11 Abs. 1 Z 2 iVm Abs. 3 NAG die Erteilung eines Aufenthaltstitels zwingend zu versagen. Für eine Bedachtnahme auf Art. 8 EMRK bestehe kein Raum, weil § 11 Abs. 3 NAG dies bei Vorliegen des zwingenden Versagungsgrundes nicht vorsehe. Gemäß § 3 Abs. 5 NAG könne der Bundesminister für Inneres die Erteilung eines Aufenthaltstitels und die Ausstellung einer Dokumentation des gemeinschaftsrechtlichen Aufenthalts- und Niederlassungsrechts in Ausübung seines Aufsichtsrechts nach § 68 Abs. 4 Z 4 AVG mit Bescheid als nichtig erklären, wenn die Erteilung oder Ausstellung trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG erfolgt sei.

Auf Grund der Gleichwertigkeit der Aufenthaltsverbote hätte nach § 11 Abs. 1 Z 2 NAG ein Aufenthaltstitel nicht erteilt werden dürfen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage samt Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Der belangten Behörde ist insofern Recht zu geben, dass bei aufrechtem Bestand eines Aufenthaltsverbotes eines anderen EWR-Staates die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 11 Abs. 1 Z 2 NAG zwingend zu versagen ist. Die Gründe für das ausländische Aufenthaltsverbot sind dabei nicht zu prüfen und es besteht für eine Vorgangsweise nach § 11 Abs. 3 NAG in Richtung einer Prüfung nach Art. 8 EMRK kein Raum (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 13. Oktober 2011, 2011/22/0145).

Es kann auch nicht als rechtswidrig erkannt werden, wenn in solchen Fällen die Behörde von dem ihr eingeräumten Ermessen nach § 3 Abs. 5 NAG Gebrauch macht und in Ausübung des Aufsichtsrechts einen ungeachtet des zwingenden Versagungsgrundes erteilten Aufenthaltstitel für nichtig erklärt.

Zur Klarstellung ist aber Folgendes anzumerken:

Zu § 3 Abs. 5 NAG (eingefügt durch BGBl. I Nr. 29/2009) halten die Gesetzesmaterialien (88 BlgNR 24. GP 7) fest:

"Der Bundesminister für Inneres erhält die Möglichkeit, die Erteilung eines Aufenthaltstitels und die Ausstellung einer Dokumentation des gemeinschaftsrechtlichen Aufenthalts- und Niederlassungsrechts bei Vorliegen eines absoluten Versagungsgrundes gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 und 4 (Aufenthalts- und Rückkehrverbot, Aufenthaltsehe und Aufenthaltsadoption) mit Bescheid als nichtig zu erklären (Z 1). Auch die Nichtbeachtung von im besonderen Teil (§§ 41 ff) für die einzelnen Aufenthaltstitel vorgesehenen spezifischen Erteilungsvoraussetzungen können zu einer Nichtigerklärung führen (Z 2). Dabei wird vornehmlich an gravierende Fehlentscheidungen, die der den Aufenthaltstiteln zugrunde liegenden Systematik des NAG widersprechen, zu denken sein (z.B. Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung für Studierende (§ 64), obwohl eine Studenteneigenschaft niemals vorlag). Weiters kann eine Nichtigerklärung erfolgen, wenn die Erteilung durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonst wie erschlichen worden ist (Z 3). Mit dieser Bestimmung wird von der in § 68 Abs. 4 Z 4 AVG vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht. Der Bundesminister für Inneres kann damit in seiner Eigenschaft als sachlich in Betracht kommende Oberbehörde grob rechtswidrige Bescheide aus dem Rechtsbestand entfernen. Die damit verbundene Durchbrechung der materiellen Rechtskraft soll somit nur in jenen Fällen ermöglicht werden, in denen ein klar nachvollziehbares öffentliches Interesse, wie insbesondere die öffentliche Ordnung und Sicherheit oder strafrechtlich relevantes Verhalten, vorliegt, und ist daher sachlich gerechtfertigt. In Anlehnung an die Frist des § 68 Abs. 5 AVG ist die Nichtigerklärung aus den Gründen der Z 1 und 2 nur binnen drei Jahren ab Entscheidung der Behörde zulässig."

In diese Beurteilung hat - um nicht zu Wertungswidersprüchen zu führen - die Frage einzufließen, ob dem Fremden bereits eine Aufenthaltsverfestigung, etwa nach § 55 FPG, zugute kommt. Könnte er nämlich wegen Aufenthaltsverfestigung nicht nach § 54 FPG ausgewiesen werden, stellte es einen Ermessensmissbrauch dar, in Anwendung des § 3 Abs. 5 NAG den Aufenthaltstitel für nichtig zu erklären und im Weg einer Ausweisung nach § 53 FPG die Konsequenzen einer Aufenthaltsverfestigung zu umgehen. In Fällen, in denen eine Ausweisung nur nach § 54 FPG zulässig wäre, ist somit bei Nichtigerklärung des Aufenthaltstitels nach § 3 Abs. 5 NAG auf eine Aufenthaltsverfestigung Bedacht zu nehmen.

Vorliegend kann sich der Beschwerdeführer aber auf eine Aufenthaltsverfestigung nicht berufen.

Dennoch ist der angefochtene Bescheid mit Rechtswidrigkeit behaftet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich bereits ausgesprochen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. Juli 2011, 2009/22/0128, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird), dass im Fall einer Unzulässigkeit einer Ausweisung auf Dauer - die sich im vorliegenden Fall aus der nach Einholung einer Stellungnahme der Fremdenpolizeibehörde erfolgten Erteilung eines Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen ergibt - die Wirkung des Aufenthaltsverbotsbescheides weggefallen ist und dem (inländischen) Aufenthaltsverbot somit auch seine Wirkung als Ausschlussgrund für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht mehr zukommt. Nichts anderes kann für die Beurteilung eines ausländischen Aufenthaltsverbotes als Versagungsgrund nach § 11 Abs. 1 Z 2 NAG gelten. Auch hier würde, sofern eine Ausweisung des Fremden auf Dauer unzulässig ist, die Versagung des Aufenthaltstitels im Widerspruch zur Intention des Gesetzgebers der Novelle zum NAG BGBl. I Nr. 29/2009 stehen.

Auf diese Unzulässigkeit einer Ausweisung hat die belangte Behörde selbst verwiesen und es befindet sich die von ihr zitierte Stellungnahme der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 21. Juli 2009 im Verwaltungsakt.

Wäre nun gestützt auf § 11 Abs. 1 Z 2 NAG die Versagung eines Aufenthaltstitels nicht rechtens, kann dieser Sachverhalt nicht zu einer auf § 3 Abs. 5 Z 1 NAG gestützten Nichtigerklärung des ausgestellten Aufenthaltstitels führen.

Da die belangte Behörde dies verkannt hat, war der angefochtene Bescheid wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG Abstand genommen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 28. März 2012

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