VwGH 2009/15/0204

VwGH2009/15/02042.2.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Hargassner und die Hofräte Dr. Sulyok, Dr. Zorn, Dr. Büsser und Mag. Novak als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Zaunbauer, über die Beschwerde der RS in G, vertreten durch Dr. Michael Tröthandl, Rechtsanwalt in Mödling, dieser vertreten durch Schatz & Partner Rechtsanwälte OEG in 2340 Mödling, Enzersdorfer Straße 4, gegen den Bescheid des unabhängigen Finanzsenates, Außenstelle Wien, vom 30. Juni 2005, GZ. RV/0728-W/05, betreffend Rückforderung von Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag für den Zeitraum 1. Jänner 1998 bis 31. Oktober 2003, zu Recht erkannt:

Normen

31971R1408 WanderarbeitnehmerV idF 31997R0118;
31997R0118 Nov-31971R1408/31972R0574;
62008CJ0363 Slanina VORAB;
FamLAG 1967 §2 Abs1;
FamLAG 1967 §2 Abs8;
FamLAG 1967 §26 Abs1;
31971R1408 WanderarbeitnehmerV idF 31997R0118;
31997R0118 Nov-31971R1408/31972R0574;
62008CJ0363 Slanina VORAB;
FamLAG 1967 §2 Abs1;
FamLAG 1967 §2 Abs8;
FamLAG 1967 §26 Abs1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Das Finanzamt forderte mit Bescheid vom 22. Oktober 2003 von der Beschwerdeführerin die für ihre Tochter Nina, geboren am 23. Juni 1991, im Streitzeitraum gewährte Familienbeihilfe im Betrag von EUR 7.824,79 und den in diesem Zeitraum gewährten Kinderabsetzbetrag im Betrag von EUR 3.060,16, insgesamt EUR 10.884,95, gemäß § 26 Abs. 1 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (kurz: FLAG) in Verbindung mit § 33 Abs. 4 Z. 3 lit. a, c EStG 1988 zurück. In der Begründung wurde dazu ausgeführt, die Beschwerdeführerin halte sich seit 1997 mit ihrer Tochter Nina ständig in Griechenland auf. Der Anspruch auf Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag sei daher nicht mehr gegeben gewesen.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung führte die Beschwerdeführerin aus, § 2 Abs. 1 und 8 FLAG stellten zwar auf den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Anspruchsberechtigten und des Kindes ab. In mehreren Entscheidungen betreffend Familienleistungen im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der konsolidierten Fassung ABlEG Nr. L 28 vom 30. Jänner 1997 (kurz: VO) sei der EuGH davon ausgegangen, dass der Wohnsitz in bestimmten Fällen zu fingieren sei, wenn sich der Anspruchsberechtigte und das Kind im EU-Ausland aufhielten. Unter Hinweis auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-255/99 , Anna Humer, führte die Beschwerdeführerin weiters aus, der Anspruch auf Familienbeihilfe müsse bejaht werden, wenn die allein obsorgeberechtigte Mutter mit dem Kind im EU-Ausland wohne, aber der unterhaltsverpflichtete Vater in Österreich lebe und arbeite oder arbeitslos sei. Darüber hinaus berufe sie sich auf ihre Unionsbürgerschaft und ihr Recht auf Freizügigkeit und freie Niederlassung.

Das Finanzamt wies mit Berufungsvorentscheidung vom 9. Dezember 2004 die Berufung als unbegründet ab. Während der Zeit, in der sich die Beschwerdeführerin mit ihrer Tochter Nina in Griechenland aufgehalten habe und weder Arbeitnehmer, Selbständige, noch Arbeitslose gewesen sei, sei das nationale Recht anzuwenden. Es könne kein Zweifel darüber bestehen, dass bei einem seit Jahren bestehenden Aufenthalt in Griechenland und darüber hinaus auch bei Ausübung einer Erwerbstätigkeit und der Tatsache, dass die Tochter seit Jahren ihrer Schulpflicht in Griechenland nachkomme, sich der Mittelpunkt der Lebensinteressen dort befinde. Liege aber der Mittelpunkt der Lebensinteressen der Beschwerdeführerin und des sich stets bei ihr befindlichen Kindes in Griechenland, bestehe kein Anspruch auf Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag.

Seit Sommer 2001 sei die Beschwerdeführerin in Griechenland "tätig". Ab dem Beginn ihrer Beschäftigung sei die VO auf sie anwendbar. Danach bestehe der Anspruch auf Familienbeihilfe im Beschäftigungsland. Da die Beschwerdeführerin in Griechenland einer Erwerbstätigkeit nachgehe, bestehe auch dort der Anspruch auf Familienleistungen. Das Recht auf Freizügigkeit und freie Niederlassung sei weder verletzt, noch liege eine Diskriminierung vor. Es sei vielmehr das Recht und der eigene Wille eines jeden Unionsbürgers, sich dort niederzulassen, wo er es für richtig befinde. Er müsse sodann die daraus folgenden Konsequenzen tragen.

Die Beschwerdeführerin stellte den Vorlageantrag.

Mit dem nunmehr vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung als unbegründet ab. Nach ausführlicher Wiedergabe des Verwaltungsgeschehens stellte sie im Erwägungsteil zunächst folgenden Sachverhalt fest:

Die Beschwerdeführerin sei österreichische Staatsbürgerin und Mutter zweier Töchter, Nina, geboren am 23. Juni 1991, und Melina, geboren am 1. März 2003. Die Beschwerdeführerin wohne seit Sommer 1997 ständig in Griechenland. Der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen befinde sich seit diesem Zeitpunkt in Griechenland, wo sie mit ihren Kindern einen Wohnsitz unterhalte. Die Tochter Nina besuche seit Herbst 1997 in Griechenland die Schule und halte sich seitdem ständig in Griechenland auf. In den Ferien (Sommer und Weihnachten) habe sich Nina überwiegend in Österreich bei Verwandten der Beschwerdeführerin aufgehalten und habe dabei auch ihren unterhaltspflichtigen Vater, der österreichischer Staatsbürger sei, hier lebe und arbeite, besucht. Die Beschwerdeführerin unterhalte zwar im Inland einen weiteren Wohnsitz, der von ihr aber kaum benutzt werde.

Die Tochter Melina sei in Griechenland geboren, ihr Vater sei griechischer Staatsbürger.

Bis 2001 sei die Beschwerdeführerin in Griechenland weder in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden noch sei sie arbeitslos gemeldet gewesen. Sie habe ihren Lebensunterhalt durch Zuwendungen von Verwandten und aus Ersparnissen bestritten. Seit Sommer 2001 sei sie als Reiseleiterin eines griechischen Unternehmens von Mai bis Anfang Oktober jeden Jahres beschäftigt.

Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung führte die belangte Behörde aus, der Lebensmittelpunkt der Beschwerdeführerin befinde sich in Griechenland. Ihre Tochter Nina besuche in Griechenland die Schule und lebe dort bei der Beschwerdeführerin. Die Voraussetzungen für die Gewährung der Familienbeihilfe im Sinne des § 2 Abs. 8 FLAG, nämlich Mittelpunkt der Lebensinteressen der Beschwerdeführerin im Inland und ständiger Aufenthalt des Kindes im Inland, seien daher nicht gegeben.

Ein Anspruch auf Familienbeihilfe für Kinder, die sich ständig im Ausland aufhalten, bestehe nur insoweit, als "EU-EWR-Recht" hiezu einen solchen Anspruch vorsehe. Die VO sei bis zum Beschäftigungsbeginn der Beschwerdeführerin im Sommer 2001 jedenfalls nicht anwendbar. Nach innerstaatlichem Recht sei der Anspruch auf Familienbeihilfe ausgeschlossen.

Ab Beschäftigungsbeginn sei die VO grundsätzlich anwendbar. Hinsichtlich der Gewährung von Familienleistungen gelte nach der VO das Beschäftigungslandprinzip. Dieses Kriterium solle die Gleichbehandlung sämtlicher Arbeitnehmer, die denselben Rechtsvorschriften unterliegen, gewährleisten. Das Recht auf Freizügigkeit und freie Niederlassung werde dadurch nicht verletzt, es liege auch keine Diskriminierung vor.

Das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-255/99 , Anna Humer, sei nicht anwendbar, weil im vorliegenden Fall ein Inlandsbezug fehle. Die Beschwerdeführerin und das Kind wohnten im Ausland. Für die Gewährung der Familienbeihilfe sei die Person maßgebend, zu deren Haushalt das Kind gehöre.

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 25. Juni 2008 dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) gemäß § 234 EG folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

"1. Ergibt sich aus der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (kurz: Verordnung), dass die nicht berufstätige geschiedene Ehefrau eines in Österreich wohnhaften und nichtselbständig tätigen Mannes ihren Anspruch auf Familienbeihilfe (für ein Kind) gegenüber Österreich beibehält, wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat einen Wohnsitz begründet und dorthin den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen verlegt, und wenn sie dort weiterhin nicht berufstätig ist ?

2. Kommt für die Beantwortung der Frage 1. dem Umstand Bedeutung zu, dass Österreich, wo der geschiedene Ehemann verbleibt und er ausschließlich wohnhaft und berufstätig ist, diesem Mann unter bestimmten Voraussetzungen den Anspruch auf Familienbeihilfe (für das Kind) einräumt, wenn der Anspruch der geschiedenen Ehefrau nicht mehr besteht ?

3. Ergibt sich aus der Verordnung ein Anspruch der geschiedenen Ehefrau auf Familienbeihilfe (für das Kind) gegenüber Österreich, wo der geschiedene Mann und Kindesvater wohnhaft und berufstätig ist, wenn gegenüber den in der Frage 1. angegebenen Verhältnissen dadurch eine Änderung eintritt, dass die Ehefrau im neuen Mitgliedstaat eine Berufstätigkeit aufnimmt ?"

Der EuGH hat in seinem Urteil vom 26. November 2009, C- 363/08 , darüber für Recht erkannt:

1. Art. 73 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine geschiedene Person, die von dem zuständigen Träger des Mietgliedstaats, in dem sie gewohnt hat und in dem ihr früherer Ehegatte weiterhin lebt und arbeitet, Familienbeihilfe erhalten hat, für ihr Kind, sofern es als Familienangehöriger des früheren Ehegatten im Sinne von Art. 1 Buchstabe f Z. i dieser Verordnung anerkannt ist, den Anspruch auf diese Beihilfe beibehält, obwohl sie diesen Staat verlässt, um sich mit ihrem Kind in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, in dem sie nicht berufstätig ist, und obwohl der frühere Ehegatte die betreffende Beihilfe in seinem Wohnmitgliedstaat beziehen könnte.

2. Übt eine Person, die sich in einer Situation wie derjenigen der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens befindet, im Mitgliedstaat ihres Wohnsitzes eine Berufstätigkeit aus, die tatsächlich einen Anspruch auf Familienleistungen begründet, so ruht gemäß Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung der Anspruch auf die nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dem ihr früherer Ehegatte berufstätig ist, geschuldeten Familienleistungen bis zur Höhe des in den Rechtsvorschriften ihres Wohnmitgliedstaates vorgesehenen Betrags.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

Der Beschwerdeführerin wurde für ihre Tochter Nina im Streitzeitraum die Familienbeihilfe gewährt. Ihr früherer Ehemann wohnt in Österreich, ist hier berufstätig, ist als Vater Ninas zu deren Unterhalt verpflichtet und ist dieser Unterhaltspflicht nicht nachgekommen. Das Kind, für welches die Leistung gewährt wurde, ist auch im Sinne der VO Familienangehöriger des geschiedenen Ehemannes der Beschwerdeführerin. Der Beschwerdefall fällt somit in den Anwendungsbereich der VO. Nach Punkt 1 des Tenors des Urteiles des EuGH hat die Beschwerdeführerin unter den hier gegebenen Umständen den Anspruch auf die Beihilfe beibehalten, solange sie in Griechenland nicht berufstätig ist. Bis zur Aufnahme einer Berufstätigkeit der Beschwerdeführerin in Griechenland bestand ihr Anspruch zu Recht mit der Folge, dass die Rückforderung der Leistung rechtswidrig ist.

Nach Punkt 2 des Tenors des Urteils des EuGH ist ab dem Zeitpunkt der Aufnahme einer Berufstätigkeit der Beschwerdeführerin in Griechenland zunächst zu prüfen, ob diese Tätigkeit in Griechenland einen Anspruch auf Familienleistungen nach dem Recht Griechenlands begründet. Begründet diese Tätigkeit in Griechenland keinen Anspruch auf Familienleistungen nach griechischem Recht, so hat diese Tätigkeit keinen Einfluss auf den Anspruch der Beschwerdeführerin auf die österreichische Familienleistung und wäre auch in diesem Fall die Rückforderung der gegenständlichen Leistung für diesen Zeitraum rechtswidrig. Würde die Berufstätigkeit der Beschwerdeführerin in Griechenland einen Anspruch auf Familienleistungen nach griechischem Recht begründen, würde dies zu einem Ruhen des Anspruches auf Familienbeihilfe bis zur Höhe des nach den griechischen Vorschriften vorgesehenen Betrages führen. Erreichte die Familienleistung nach den griechischen Vorschriften die Höhe der gegenständlichen Familienleistung, würde diese zur Gänze geruht haben und wäre in diesem Zeitraum der Rückforderungsanspruch begründet. Wäre die griechische Familienleistung niedriger als die tatsächlich von Österreich gewährte Familienleistung, würde nur in diesem Ausmaß die Familienbeihilfe samt Kinderabsetzbetrag ruhen und in diesem Ausmaß rückforderbar sein.

Nach dem Gesagten erweist sich der die Rückforderung der geleisteten Familienbeihilfe zur Gänze aussprechende angefochtene Bescheid als inhaltlich rechtswidrig und war gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG i. V.m. der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 2. Februar 2010

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