VwGH 2008/23/0519

VwGH2008/23/051913.12.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall sowie die Hofräte Dr. Hofbauer und Mag. Feiel als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Stelzl, über die Beschwerden des VN , geboren 1970, vertreten durch Mag. Peterpaul Suntinger, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Pfarrplatz 17, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates vom 1. Oktober 2007, Zl. 304.313- C1/3E-XVII/55/06 (protokolliert zur hg. Zl. 2008/23/0519), vom 15. Oktober 2007, Zl. 304.313-C1/6E-XVII/55/06 (protokolliert zur hg. Zl. 2008/23/0532), sowie vom 18. Oktober 2007, Zl. 304.313- C1/7E-XVII/55/06 (protokolliert zur hg. Zl. 2008/23/0533), betreffend §§ 7, 8 Abs. 1 und 2 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §23 Abs1;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1;
AsylG 1997 §8 Abs2;
AVG §67b Z1;
AVG §67d;
AVG §68 Abs1;
EGVG 1991 Anlage Art2 Abs2 Z43a;
VwGG §42 Abs2 Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;
AsylG 1997 §23 Abs1;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1;
AsylG 1997 §8 Abs2;
AVG §67b Z1;
AVG §67d;
AVG §68 Abs1;
EGVG 1991 Anlage Art2 Abs2 Z43a;
VwGG §42 Abs2 Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;

 

Spruch:

Der erstangefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der zweit- und drittangefochtene Bescheid werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40, insgesamt daher EUR 3.319,20, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Nigeria, beantragte am 23. August 2005 Asyl. Zu seinen Fluchtgründen gab er im Wesentlichen an, dass er nach Übertritt von der katholischen zu einer protestantischen Kirche als Mitglied der "Prolife"-Bewegung an der Abhaltung eines Seminars vom 8. bis zum 10. Juli 2005 mitgearbeitet habe. Eine islamische, als "Taliban" bezeichnete Gruppe habe sich im Vorfeld gegen die Veranstaltung ausgesprochen. Die Polizei habe Hilfe von der Zahlung von 50.000,-- Naira abhängig gemacht. Während der Veranstaltung hätten Mitglieder der Gruppe die Kirche in Brand gesteckt und deren Organisatoren getötet. Auch in die Wohnung des Beschwerdeführers sei eingebrochen und seine Gegenstände geplündert und zerstört worden. Nach seiner Konversion habe er in seiner Familie keinen Rückhalt und von dieser keine Hilfe mehr zu erwarten. Bei einer Rückkehr befürchte er von radikalen Moslems, die ihn fälschlich überdies beschuldigten, den Koran verbrannt zu haben, getötet zu werden.

Mit Bescheid vom 3. August 2006 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab, erklärte seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Nigeria gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig und wies den Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria aus. Beweiswürdigend führte das Bundesasylamt aus, der Beschwerdeführer habe Dokumente bedenklicher Herkunft vorgelegt und bloß vage, in keinem Punkt verifizierbare Angaben zu seinem Reiseweg gemacht, den er offenbar zu verschleiern versuche. Das Vorbringen sei daher im Gesamten gesehen nicht glaubhaft.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung, in welcher er u.a. ausführte, dass der nicht rein religiös bedingte Angriff den Organisatoren des Seminars gegolten habe. Aus diesem Grund und wegen des Vorwurfs des Verbrennens des Korans sei sein "Leben zur Zielscheibe" geworden. Die moslemischen Jugendlichen hätten nicht nur nach ihm gesucht, damit er dafür büße, sondern auch jede Form des später vom Pastor angebotenen Ausgleichs abgelehnt, wenn er nicht ausgeliefert werde.

Mit dem erstangefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung "gemäß §§ 7, 8 Abs. 1 und 2 AsylG" ab.

Begründend führte die belangte Behörde aus, dass die Erstbehörde das Vorbringen lediglich mit einer Scheinbegründung als unglaubwürdig abgetan habe. Selbst bei Zugrundelegung der vorgebrachten fluchtkausalen Ereignisse komme man jedoch zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung.

Der erstangefochtene Bescheid vom 1. Oktober 2007 wurde dem Bundesasylamt am 2. Oktober 2007 und dem Beschwerdeführer (persönlich) am 5. Oktober 2007 zugestellt. Am 3. Oktober 2007 langte beim unabhängigen Bundesasylsenat die mit Beweisanträgen verbundene Vollmachtsanzeige des Beschwerdeführervertreters ein.

Mit dem zweitangefochtenen Bescheid vom 15. Oktober 2007 wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers (abermals) gemäß §§ 7, 8 Abs. 1 und 2 AsylG ab. In der Begründung dieses Bescheids ging die belangte Behörde - über den im erstangefochtenen Bescheid bereits enthaltenen Inhalt hinaus - auf die Beweisanträge des Beschwerdeführers ein. Der zweitangefochtene Bescheid wurde dem Bundesasylamt am 16. Oktober 2007 und dem Beschwerdeführer zu Handen seines Vertreters am 17. Oktober 2007 zugestellt.

Der drittangefochtene Bescheid vom 18. Oktober 2007, der in seinem Spruch und der Begründung dem zweitangefochtenen Bescheid entspricht, wurde dem Bundesasylamt am 19. Oktober 2007 und dem Beschwerdeführer zu Handen seines Vertreters am 22. Oktober 2007 zugestellt.

Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden - wegen des persönlichen und sachlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen - Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof in dem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Festzuhalten ist zunächst, dass der in Erledigung der Berufung ergangene erstangefochtene Bescheid der belangten Behörde vom 1. Oktober 2007 zwar nicht dem Beschwerdeführer zu Handen des bereits ausgewiesenen Vertreters zugestellt worden war; er war nach der Aktenlage jedoch bereits dem Bundesasylamt, dem im Verfahren vor dem unabhängigen Bundesasylsenat Parteistellung zukommt (§ 23 Abs. 1 AsylG iVm § 67b Z 1 AVG), rechtswirksam zugestellt worden. Damit erlangte der erstangefochtene Bescheid rechtliche Existenz (vgl. das hg. Erkenntnis vom 30. August 2007, Zl. 2006/19/0480, mwN). In einem Mehrparteienverfahren steht die Tatsache, dass der angefochtene Bescheid dem Beschwerdeführer noch nicht zugestellt wurde, der Beschwerdeerhebung nicht entgegen, wenn der Bescheid durch Zustellung oder Verkündung an zumindest eine Verfahrenspartei überhaupt erlassen ist (s das hg. Erkenntnis vom 6. November 1997, Zl. 96/20/0664).

Ausgehend von der dargestellten Rechtsprechung ist zum einen auch die Beschwerde gegen den erstangefochtenen Bescheid zulässig, zum anderen erweisen sich zweit- und drittangefochtener Bescheid schon deshalb als verfehlt, weil die belangte Behörde über ein und dieselbe Berufung - trotz rechtlicher Existenz des erstangefochtenen Bescheids - zwei weitere Male entschieden hat. Durch die mit den zweit- und drittangefochtenen Bescheiden getroffene neuerliche Entscheidung über die Berufung im selben Rechtsgang hat die belangte Behörde den Grundsatz des "ne bis in idem" verletzt und eine ihr nach dem Gesetz nicht zustehende Kompetenz in Anspruch genommen. Zweit- und drittangefochtener Bescheid sind daher mit (gemäß § 41 Abs. 1 VwGG amtswegig wahrzunehmender) Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde belastet (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 2. Juli 2009, Zl. 2008/12/0183, sowie vom 19. Juni 2008, Zl. 2007/21/0358, u.a.).

Nach dem Gesagten waren der zweit- und der drittangefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufzuheben.

Die Beschwerde gegen den erstangefochtenen Bescheid macht als Verfahrensmangel im Wesentlichen eine Verletzung der Verhandlungspflicht der belangten Behörde geltend und ist damit im Recht.

Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass die Voraussetzung eines aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärten Sachverhalts gemäß Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG, der eine Berufungsverhandlung entbehrlich macht, dann nicht erfüllt ist, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird, die Beweiswürdigung der Berufungsbehörde ergänzungsbedürftig oder in entscheidenden Punkten nicht richtig erscheint, wenn rechtlich relevante und zulässige Neuerungen vorgetragen werden oder die Berufungsbehörde ihre Entscheidung auf zusätzliche Ermittlungsergebnisse stützen will (vgl. etwa das - bereits zum AsylG 2005 ergangene - hg. Erkenntnis vom 11. Juni 2008, Zlen. 2008/19/0216, 0217, und die darin angegebene, zum AsylG ergangene Judikatur).

Die belangte Behörde führte zunächst selbst aus, dass die Beweiswürdigung der Erstbehörde einer Scheinbegründung gleichkomme und die Nichtglaubhaftmachung der Fluchtgründe nicht zu tragen geeignet sei. Entgegen der Auffassung der belangten Behörde hat der Beschwerdeführer in seiner Berufung konkret dargelegt, weshalb er in den Blickpunkt der ihn verfolgenden radikalen islamischen Gruppe gekommen sei. Wenn die belangte Behörde das Vorbringen des Beschwerdeführers als wahr unterstellte, hätte sie nicht abweichend von dessen Vorbringen von einer bloß (regional begrenzten) asylrelevanten Verfolgung ausgehen können. Darüber hinaus hätte die belangte Behörde ihre eigene Beweiswürdigung zur Möglichkeit und Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative (vgl. das hg. Erkenntnis vom 7. Oktober 2010, Zl. 2008/20/0409) nicht ohne Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung vornehmen dürfen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 9. September 2010, Zl. 2008/20/0357). Es kann somit nicht ausgeschlossen werden, dass bei Einhaltung der Verhandlungspflicht ein anderes Verfahrensergebnis erzielt worden wäre.

Der erstangefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 13. Dezember 2010

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