VwGH 2008/21/0224

VwGH2008/21/022417.7.2008

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher, Dr. Pfiel und Mag. Eder als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Plankensteiner, über die Beschwerde des S, vertreten durch Mag. Gabor Maraszto, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rosenbursenstraße 2/16, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 5. Februar 2008, Zl. Senat-FR-08-1031, betreffend Schubhaft, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §76 Abs2 Z4;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §76;
FrPolG 2005 §83 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §83 Abs4;
VwGG §30 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z4;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §76;
FrPolG 2005 §83 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §83 Abs4;
VwGG §30 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein aus Grosny stammender russischer Staatsbürger und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste am 8. Jänner 2008 gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinen 2004 bzw. 2007 geborenen Töchtern nach Österreich ein und stellte am 9. Jänner 2008 bei der Erstaufnahmestelle-Ost in Traiskirchen einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz. Dabei legte er u.a. einen "Protection Letter" des UNHCR vom 15. September 2005 vor, wonach er und seine Familienangehörigen Flüchtlinge "under the extended mandate of the UNHCR" seien und womit die Behörden Aserbaidschans - wo sich der Beschwerdeführer damals aufhielt - insbesondere ersucht wurden, den Aufenthalt zu gestatten.

Bei der noch am 9. Jänner 2008 durchgeführten Erstbefragung nach dem AsylG 2005 gab der Beschwerdeführer insbesondere an, Tschetschenien 2005 verlassen und sich dann bis Dezember 2007 in Baku, Aserbaidschan, aufgehalten zu haben. Am 20. Dezember 2007 sei er mit seiner Familie nach Kairo geflogen, wo sie bei Verwandten seiner Ehefrau bis zum 27. Dezember 2007 verblieben seien. Dann sei die Familie nach Paris geflogen, eigentliches Reiseziel sei jedoch Österreich gewesen, weil der Beschwerdeführer hier einen Bruder habe. Am Pariser Flughafen sei es zu einer polizeilichen Behandlung gekommen, nach fünf Tagen habe eine Gerichtsverhandlung stattgefunden, bei der der Beschwerdeführer und seine Familie aufgefordert worden seien, entweder einen Asylantrag zu stellen oder Frankreich innerhalb von acht Tagen zu verlassen. Am 7. Jänner 2008 hätten sie der letztgenannten Aufforderung Folge geleistet und seien mit dem Autobus über Nizza und Italien nach Wien gereist. Man sei "an einem großen Bahnhof" angekommen, wo der Bruder des Beschwerdeführers die Familie abgeholt habe. In seiner Wohnung habe man die Nacht verbracht, "weil wir alle sehr müde waren und meine Tochter Fieber hatte". Schließlich sei man am nächsten Tag mit der "Straßenbahn" nach Traiskirchen gefahren.

Unmittelbar nach dieser Befragung wurde der Beschwerdeführer in der Erstaufnahmestelle-Ost gemäß § 39 Abs. 3 Z 4 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG festgenommen und der Bezirkshauptmannschaft Baden vorgeführt. Bei der dort durchgeführten Einvernahme wiederholte er im Wesentlichen die bei der Erstbefragung erstatteten Angaben. Auf die Frage, warum er nach Österreich gekommen sei, antwortete er, weil hier sein Bruder lebe, außerdem seien die Gesetze "hier für mich akzeptabler als wo anders". Die weitere Frage, warum er sich dem Asylverfahren in Frankreich entzogen habe, beantwortete er dahingehend, dass er unbedingt zu seinem Bruder gewollt habe. Auf die Frage schließlich, warum er nicht nach Frankreich zurück wolle, gab er an, "einfach so, weil die Gesetze dort mir nicht passen"; er werde einen Anwalt beauftragen, freiwillig verlasse er Österreich nicht.

Mit dem gemäß § 57 Abs. 1 AVG erlassenen Bescheid vom 9. Jänner 2008 ordnete die Bezirkshauptmannschaft Baden sodann gegen den Beschwerdeführer zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung nach § 10 AsylG 2005 und zur Sicherung der Abschiebung die Schubhaft an. Als (wesentliche) Rechtsgrundlage wurde § 76 Abs. 2 Z 4 FPG angeführt.

Gegen die Verhängung der Schubhaft und die folgende Anhaltung ab dem 9. Jänner 2008 erhob der Beschwerdeführer in der Folge Schubhaftbeschwerde. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde dieser Beschwerde gemäß § 67 c Abs. 3 AVG iVm § 83 FPG keine Folge. Außerdem stellte sie gemäß § 83 Abs. 4 erster Satz FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

Nach zusammenfassender Darstellung des Schubhaftbescheides und kursorischer Wiedergabe der Schubhaftbeschwerde sowie Zitierung der maßgeblichen Rechtsvorschriften führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer die Möglichkeit gehabt habe, in Frankreich um Asyl anzusuchen. Diese Möglichkeit habe er mit der Begründung, dass ihm die Gesetze in Frankreich nicht zusagen würden, nicht wahrgenommen. Überdies dürfe nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Beschwerdeführer bei seiner Erstbefragung angegeben habe, dass er legal aus seinem Heimatland habe ausreisen können und dass er die Frage, ob er im Falle der Rückkehr mit Sanktionen zu rechnen hätte, mit einem "klaren Nein" beantwortet habe. Demnach dränge sich der Verdacht auf, dass sein nunmehriges Vorbringen, er wäre traumatisiert und hätte Nachteile zu erwarten, "nur eine allgemeine Floskel darstellt, die auf den Einschreiter nicht zutrifft". Die zurückgelegte Reiseroute (Baku, Kairo, Paris, Italien, Österreich) zeige, dass der Beschwerdeführer "bloß gustiert und sich eben seiner Meinung nach jenes Land als Asylland aussuchen möchte, welches ihm die besten wirtschaftlichen und sozialen Chancen eröffnet". Der Beschwerdeführer sei - so die belangte Behörde weiter - im Inland nicht sozial verankert, gehe keiner legalen Beschäftigung nach und verfüge über keine finanziellen Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes. Im Übrigen habe er selbst angegeben, nicht gewillt zu sein, für den Fall einer negativen Asylentscheidung Österreich zu verlassen bzw. nach Frankreich zurückkehren zu wollen. Eine Aufhebung der Schubhaft komme daher nicht in Betracht, weil davon auszugehen sei, dass sich der Beschwerdeführer der "Zurückschiebung" nach Frankreich "gemäß Dublin II" durch Untertauchen entziehen werde, sobald er sich auf freiem Fuß befinde.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift seitens der belangten Behörde erwogen:

Die Bezirkshauptmannschaft Baden hatte die Schubhaft des Beschwerdeführers auf § 76 Abs. 2 Z 4 FPG gestützt. Die belangte Behörde entschied über die in der Folge erhobene Schubhaftbeschwerde rund vier Wochen nach Schubhaftverhängung, setzte sich jedoch nicht näher mit dem mittlerweiligen Gang des Asylverfahrens auseinander. Insbesondere unterließ sie jegliche erkennbare Ermittlungen dahingehend, ob es zwischenzeitig zur Einleitung eines Ausweisungsverfahrens (etwa gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 iVm § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005) oder allenfalls auch zur Zulassung des Asylverfahrens (vgl. §28 Abs. 2 AsylG 2005) gekommen ist. Dem entspricht, dass der bekämpfte Bescheid nicht erkennen lässt, auf welchen Schubhaftgrund der Ausspruch nach § 83 Abs. 4 erster Satz FPG über die Zulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft gestützt wurde (zur dahingehenden Verpflichtung vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 7. Februar 2008, Zl. 2007/21/0446). Der bekämpfte Bescheid ist aber vor allem insoweit rechtswidrig, als er nicht ausreichend berücksichtigt, dass der mit Ehegattin und zwei Kleinkindern eingereiste Beschwerdeführer unmittelbar nach seiner Einreise nach Österreich einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz stellte, dabei von sich aus mit den österreichischen Behörden in Kontakt trat und schließlich bei seinen Einvernahmen offenkundig wahrheitsgemäße Angaben über seine Identität und den Ablauf seiner bisherigen Flucht erstattete. Außerdem bezieht er in die Überlegungen zum Sicherungsbedarf die fehlende soziale Verankerung des Beschwerdeführers in Österreich und seine Mittellosigkeit mit ein, was sich bei Asylwerbern in der Situation des Beschwerdeführers grundsätzlich als verfehlt erweist (vgl. im Einzelnen die hg. Erkenntnisse vom 30. August 2007, Zl. 2007/21/0043, und vom 28. Mai 2008, Zl. 2007/21/0233, auf deren Begründungen im Einzelnen gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird). Den Ausführungen aber, der Beschwerdeführer habe bei seiner Erstbefragung angegeben, er sei legal aus seinem Heimatland ausgereist, und er habe die Frage nach Sanktionen mit einem "klaren Nein" beantwortet, liegt eine grobe Verkennung der niederschriftlich festgehaltenen Angaben des Beschwerdeführers zugrunde. Diese konnten nämlich - zumal in Anbetracht der vorgelegten, eingangs erwähnten UNHCR-Bescheinigung - angesichts der unter einem erstatteten Angaben über eine Festnahme und Lebensgefährdung in Tschetschenien nur so verstanden werden, dass sich der Beschwerdeführer damit auf die Ausreise aus bzw. auf die Verhältnisse in Aserbaidschan, nicht jedoch auf das Verlassen seines Heimatlandes und die Verhältnisse in Tschetschenien beziehe. Dass die Annahme, das Vorbringen in der Schubhaftbeschwerde betreffend Traumatisierung stelle "nur eine allgemeine Floskel" dar, die auf den Beschwerdeführer nicht zutreffe, davon ausgehend nicht haltbar ist, versteht sich von selbst. Im Übrigen hätte die belangte Behörde angesichts der behaupteten Traumatisierung nicht von einem im Sinne des § 83 Abs. 2 Z 1 FPG "aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärten Sachverhalt" ausgehen und deshalb im vorliegenden Fall nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen (vgl. etwa das oben genannte Erkenntnis vom 28. Mai 2008).

Die dargestellten Bescheidmängel hafteten teilweise auch schon dem Schubhaftbescheid der Bezirkshauptmannschaft Baden an. Vor allem ist in Bezug auf diesen Bescheid aber festzuhalten, dass er in ähnlicher Weise wie jener, der im hg. Erkenntnis vom 19. Juni 2008, Zl. 2008/21/0075, wörtlich wiedergegeben wurde, am Thema vorbeigeht und über weite Strecken entbehrliche "soziologische Überlegungen" enthält. Soweit er eine "einzelfallbezogene Prüfung" vornehmen will, verschweigt er die oben genannten wesentlichen Gesichtspunkte des Falles und spricht demgegenüber etwa - aktenwidrig - von einem gegen den Beschwerdeführer erlassenen Aufenthaltsverbot oder von der Inanspruchnahme von Schleppern. Dass daher auch schon der genannte Schubhaftbescheid mit Rechtswidrigkeit belastet war, bedarf demnach keiner weiteren Erörterung. Der hier angefochtene Bescheid war daher zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

In der behördlichen Gegenschrift wird nichts vorgetragen, was daran etwas ändern könnte. Soweit darin aber moniert wird, der Verwaltungsgerichtshof habe der gegenständlichen Beschwerde ohne Weiteres und sofort die aufschiebende Wirkung zuerkannt, ist der Vollständigkeit halber zu ergänzen, dass im Falle von Schubhaft jedenfalls dann, wenn wie hier schon auf Grund der mit der Beschwerde vorgelegten Bescheidausfertigung klar die Rechtswidrigkeit des die Grundlage für die weitere Anhaltung bietenden Bescheides zutage tritt, die Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 VwGG regelmäßig als erfüllt angesehen werden müssen.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 6 VwGG abgesehen werden.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 17. Juli 2008

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