Normen
32003R0343 Dublin-II;
AsylG 2005;
32003R0343 Dublin-II;
AsylG 2005;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den am 22. Oktober 2007 eingebrachten Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, erklärte für die Prüfung dieses Antrages gemäß Art. 10 Abs. 1 iVm Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung Polen für zuständig und wies die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen aus. Demzufolge sei die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig.
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, sei über die weißrussisch/polnische Grenze in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union eingereist und sie habe im Dezember 2005 in Polen um Asyl angesucht. In der Folge sei sie nach Österreich gelangt, wo sie am 17. Jänner 2006 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe. Dieser Antrag sei im Instanzenzug mit Bescheid der belangten Behörde vom 1. März 2006 wegen Unzuständigkeit zurückgewiesen, Polen für zuständig erklärt und die Beschwerdeführerin dorthin ausgewiesen worden. Eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde habe der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 12. Dezember 2007, 2006/19/1022, als unbegründet abgewiesen.
Am 22. Oktober 2007 habe die Beschwerdeführerin den gegenständlichen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz eingebracht. Zur Begründung habe sie unter anderem ausgeführt, seit 23. Oktober 2006 mit einem in Österreich anerkannten Flüchtling (aus Tschetschenien) verheiratet zu sein. Ihren nunmehrigen Ehemann habe sie bereits im Winter 1999 kennen gelernt. Auch eine Schwester der Beschwerdeführerin halte sich im Bundesgebiet auf. Deshalb wolle sie nicht nach Polen.
Trotz dieser familiären Beziehungen der Beschwerdeführerin zu in Österreich aufhältigen Personen verneinte die belangte Behörde ein Ausweisungshindernis. Wörtlich begründete sie diese Rechtsauffassung folgendermaßen:
"(Die Beschwerdeführerin) ist zwar seit 23.10.2006 mit Sch. M., einem anerkannten Flüchtling, verheiratet, jedoch hat das Bundesasylamt mängelfrei begründet, dass die (Beschwerdeführerin) mit ihrem jetzigen Ehemann kein Familienleben in ihrer Heimat geführt hat, sondern dass diese Bindung erst in Österreich eingegangen wurde. Auf Grund des Umstandes dieser kurzen Ehe und der Kinderlosigkeit erlaubt eine Interessenabwägung zu Recht einen Eingriff in das Familienleben. Es ist für die erkennende Behörde auch nicht ersichtlich, warum die (Beschwerdeführerin) entgegen den Angaben der Berufung ihr Familienleben in Polen nicht fortsetzen kann. Es besteht weder bei der (Beschwerdeführerin) noch bei ihrem Ehemann die Gefahr einer Verfolgung in Polen."
Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Die Beschwerde macht - zusammengefasst - geltend, die belangte Behörde sei im angefochtenen Bescheid "weder auf die Qualität des konkret gelebten Ehelebens sowie Privat- bzw. Familienlebens zur Schwester der Beschwerdeführerin" eingegangen, noch auf die Frage, "ob und inwieweit ein Familienleben in Polen rechtlich wie tatsächlich möglich" sei. Bei rechtsrichtiger Auslegung des Art. 8 EMRK hätte die belangte Behörde aber entsprechende Ermittlungen tätigen und darauf aufbauende Feststellungen treffen müssen. Hierbei wäre insbesondere "auf die (rechtlichen) Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeit ihres Ehemannes bedacht zu nehmen gewesen".
Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde zumindest im Ergebnis einen relevanten Begründungsmangel des angefochtenen Bescheides auf.
Gemäß § 10 Abs. 2 Z 2 Asylgesetz 2005 ist die Ausweisung eines Asylwerbers unzulässig, wenn diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würde.
Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts hat die Behörde in ihrer Ausweisungsentscheidung das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art. 8 EMRK abzuwägen. U.a. in seinem Erkenntnis vom 29. September 2007, B 328/07, hat der Verfassungsgerichtshof auch unterschiedliche - in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entwickelte - Kriterien aufgezeigt, die bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht.
Im Lichte dieser Kriterien erweist sich aber die von der belangten Behörde vorgenommene Abwägung im Sinne des Art. 8 EMRK als unzureichend:
Es ist für den Verwaltungsgerichtshof zwar nicht nachvollziehbar, welche Feststellungen die Beschwerde mit ihrem Hinweis auf "die Qualität des konkret gelebten Ehelebens sowie Privat- bzw. Familienlebens zur Schwester" anstrebt. Der Beschwerdeführerin wurde von der belangten Behörde aber jedenfalls das Bestehen eines Familienlebens zu ihrem Ehemann in Österreich zugestanden. Entgegen ihrem Vorbringen habe die Beschwerdeführerin mit ihrem jetzigen Ehemann aber in ihrer Heimat noch kein Familienleben geführt, sondern sie sei diese Bindung erst in Österreich eingegangen. Auf Grund der nur kurzen Ehe und der Kinderlosigkeit erlaube eine Interessenabwägung zu Recht den Eingriff in das Familienleben. Für die belangte Behörde sei auch nicht ersichtlich, warum die Beschwerdeführerin ihr Familienleben in Polen nicht fortsetzen könne, zumal dort weder für sie noch für ihren Ehemann die Gefahr einer Verfolgung bestünde.
Diese (kurze) Begründung vermag eine konkrete Auseinandersetzung der belangten Behörde mit den Auswirkungen der Ausweisung auf das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin nicht zu ersetzen.
Der angefochtene Bescheid enthält zunächst keine klaren Feststellungen über die als erwiesen angenommenen familiären Verhältnisse der Beschwerdeführerin. Die Begründung des Bescheides lässt lediglich erkennen, dass die belangte Behörde von einem Zusammenleben der Beschwerdeführerin mit ihrem nunmehrigen Ehemann im Herkunftsstaat nicht ausgegangen ist. Wann die Beschwerdeführerin nach den Sachverhaltsannahmen der belangten Behörde ihren jetzigen Ehemann kennen gelernt hat bzw. seit welchem Zeitpunkt sie danach tatsächlich zusammen leben, ist dem angefochtenen Bescheid hingegen nicht zu entnehmen.
Auch die "Interessenabwägung" der belangten Behörde ist unzureichend. So lässt sich dem angefochtenen Bescheid nicht einmal entnehmen, welches öffentliche Interesse die belangte Behörde dem Wunsch der Beschwerdeführerin auf Fortsetzung des Familienlebens mit ihrem Ehemann im Bundesgebiet gegenüberstellt. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass das öffentliche Interesse an der Durchsetzung des Dublin-Zuständigkeitssystems auch daran zu messen ist, ob durch die geplante Maßnahme dem Anliegen des Gemeinschaftsgesetzgebers, mit dem Zuständigkeitssystem nicht zuletzt einen "effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden" (vgl. dazu den 4. Erwägungsgrund zur Dublin-Verordnung) entsprochen wird. Derartige Überlegungen sind umso eher anzustellen, wenn zu erwarten ist, dass ein Asylwerber seine Fluchtgründe von jenen eines (national bereits als Flüchtling anerkannten) Familienangehörigen ableiten könnte, weshalb die bei den Asylbehörden in Österreich bereits vorhandene Kenntnis der für die Asylgewährung an den Familienangehörigen maßgeblichen Gründe auch für die zügige und inhaltlich korrekte Erledigung des offenen Asylantrags von wesentlicher Bedeutung sein kann.
Zu Recht weist die Beschwerde schließlich darauf hin, dass die belangte Behörde zwar davon ausgeht, die Beschwerdeführerin könne ihr Familienleben mit dem Ehemann auch in Polen fortführen, der angefochtene Bescheid aber keine Überlegungen dazu enthält, ob und unter welchen Voraussetzungen der Ehemann der Beschwerdeführerin mit dieser in Polen zusammen leben könnte und ob ihm Derartiges - auch unter Berücksichtigung seiner sozialen Verhältnisse in Österreich - zumutbar wäre.
Es lässt sich daher noch nicht abschließend beurteilen, ob die Asylbehörden unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK im gegenständlichen Fall von einer Ausweisung Abstand nehmen und demzufolge von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch machen hätten müssen.
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. I Nr. 455.
Wien, am 6. November 2009
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