VwGH 2008/01/0527

VwGH2008/01/052728.6.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Blaschek, Dr. Kleiser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Jäger, über die Beschwerde des S S in W, geboren 1987, vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 19. Mai 2008, Zl. 301.625-2/4E-XVII/55/08, betreffend Zurückweisung eines Antrages auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache und Ausweisung (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres),

Normen

AsylG 1997 §8 Abs2;
MRK Art8;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2011:2008010527.X00

 

Spruch:

I. zu Recht erkannt:

Der angefochtene Bescheid wird insoweit, als damit Spruchpunkt II. des erstinstanzlichen Bescheides (Ausweisung des Beschwerdeführers in den Senegal) bestätigt wurde, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

II. den Beschluss gefasst:

Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger des Senegal, beantragte erstmals am 22. März 2005 die Gewährung von Asyl. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 27. April 2006 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) abgewiesen, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in den Senegal gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig erklärt und der Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in den Senegal ausgewiesen. Die dagegen gerichtete Berufung wies die belangte Behörde mit (rechtskräftigem) Bescheid vom 7. Juli 2006 als verspätet zurück.

Am 1. April 2008 stellte der Beschwerdeführer erneut einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 22. April 2008 diesen Antrag gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkt I.) und wies den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z. 1 Asylgesetz 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet "nach Senegal" aus (Spruchpunkt II.).

Zur Ausweisung führte das Bundesasylamt begründend im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer sei ledig und habe keine Familienangehörigen im Bundesgebiet. Er habe lediglich ins Treffen geführt, seit 2006 eine Beziehung zu einer Österreicherin zu führen, aber keine genaueren Angaben zu deren Person gemacht. Aus der Beziehung resultierten keine Kinder und es sei zu keiner Verehelichung als Zeichen der gegenseitigen Verbundenheit gekommen. Seitens der erstinstanzlichen Behörde werde nicht ausgeschlossen, dass der Beschwerdeführer im Haushalt seiner "Freundin" (Anführungszeichen im Original) lebe, die Beziehung sei aber zu einem Zeitpunkt begründet worden, zu dem sich der Beschwerdeführer bereits illegal im Bundesgebiet aufgehalten habe. Zwar möge die Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Freundin für den Moment bestehen, sie sei jedoch trotzdem "als lose und nicht derartig innig zu beurteilen", dass "damit die Kriterien des Art. 8 EMRK befriedigend abgedeckt" würden. Als junger arbeitsfähiger gesunder Mann stehe der Beschwerdeführer nicht in einem "außergewöhnlichen Pflege- oder Abhängigkeitsverhältnis zu seiner Freundin", umgekehrt verfüge diese über Angehörige im Bundesgebiet, die mit deren notwendiger Betreuung betraut werden könnten. Auf Grund des bestehenden "Sozialnetzes" könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass diese ohne den Beschwerdeführer in eine aussichtslose Lage geraten würde. Der durch die Ausweisung bewirkte Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers sei nach Durchführung einer Interessenabwägung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK zulässig.

Die dagegen erhobene Berufung wies die belangte Behörde mit Bescheid vom 19. Mai 2008 "in allen Spruchpunkten" ab. Begründend verwies sie (zur Abweisung der Berufung gegen Spruchpunkt II. des erstinstanzlichen Bescheides) auf die nicht zu beanstandende Interessenabwägung des Bundesasylamtes, in der dieses sowohl die Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner Lebensgefährtin als auch integrationsverfestigende Faktoren mit dem öffentlichen Interesse an der Beendigung seines illegalen Aufenthaltes in Beziehung gesetzt habe. Dem sei - auch unter Berücksichtigung des Berufungsinhaltes - nicht entgegenzutreten.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Zu I.:

Das Bundesasylamt, auf dessen Bescheid die belangte Behörde zur Begründung der Zulässigkeit der Ausweisung verwiesen hat, nahm eine Interessenabwägung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur hinsichtlich des Privatlebens des Beschwerdeführers in Österreich vor, nachdem es das Vorliegen eines Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK aufgrund der Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner österreichischen Lebensgefährtin verneint hatte.

Die zuletzt genannte Annahme wurde jedoch nicht fehlerfrei begründet.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) ist das nach Art. 8 EMRK geschützte Familienleben nicht auf durch Heirat rechtlich formalisierte Bindungen ("marriage-based relationships") beschränkt, sondern erfasst auch andere faktische Familienbindungen ("de facto family ties"), bei denen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 23. Februar 2011, Zl. 2011/23/0097, und vom 8. September 2010, Zl. 2008/01/0551, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR). Zur Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK begründet, stellt der EGMR auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen ab, die sich in einer Reihe von Umständen - etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder - äußern können (vgl. dazu etwa das Urteil des EGMR vom 2. November 2010, ?erife Yi?it gegen die Türkei (Große Kammer), Beschwerde Nr. 3976/05, Rdnr. 93 und 96).

Ausgehend davon hat die erstinstanzliche Behörde das Nichtvorliegen eines Familienlebens nicht ausreichend begründet, indem sie es nur als "nicht ausgeschlossen" erachtete, dass der Beschwerdeführer im Haushalt seiner "Freundin" lebe, ohne ausdrückliche Feststellungen über Art und Dauer dieses Zusammenlebens zu treffen, und die Beziehung ohne weitere Begründung als "lose und nicht derartig innig" beurteilte, dass dadurch ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK begründet würde. Bei seiner - im angefochtenen Bescheid wiedergegebenen - niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 8. April 2008 hatte der Beschwerdeführer dazu angegeben, er habe seine Lebensgefährtin Ende 2006 kennengelernt und (erkennbar gemeint: vor Verhängung der Schubhaft im Februar 2008) bei ihr gewohnt. Er habe ihr im Haushalt geholfen und sie habe für seinen Unterhalt gesorgt. Außerdem habe er ihr "geholfen", weil sie krank sei. Letzteres wurde auch von der Lebensgefährtin in einem der Berufung beigelegten Schreiben bestätigt. Soweit das Bundesasylamt auf das Fehlen näherer Angaben des Beschwerdeführers zur Person seiner Lebensgefährtin verweist, bleibt offen, welche Angaben es - in welchen Zusammenhängen - für erforderlich erachtet hätte, um von einem Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK ausgehen zu können.

Dieser Begründungsmangel schlägt infolge des Verweises der belangten Behörde auf den erstinstanzlichen Bescheid auch auf den angefochtenen Bescheid durch, weshalb dieser im Umfang der Bestätigung der erstinstanzlichen Ausweisung des Beschwerdeführers in den Senegal wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Zu II.:

Gemäß Art. 131 Abs. 3 B-VG und § 33a VwGG kann der Verwaltungsgerichtshof die Behandlung einer Beschwerde gegen einen Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates durch Beschluss ablehnen, wenn die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen wird, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Die Beschwerde wirft - soweit sie sich nicht auf die Ausweisung bezieht - keine für die Entscheidung dieses Falles maßgeblichen Rechtsfragen auf, denen im Sinne der zitierten Bestimmungen grundsätzliche Bedeutung zukäme. Gesichtspunkte, die dessen ungeachtet gegen eine Ablehnung der Beschwerdebehandlung sprechen würden, liegen nicht vor.

Der Verwaltungsgerichtshof hat daher beschlossen, die Behandlung der Beschwerde im Übrigen abzulehnen.

Wien, am 28. Juni 2011

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