VwGH 2007/21/0069

VwGH2007/21/006919.6.2008

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Robl, Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Plankensteiner, über die Beschwerde des A, vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom 7. Februar 2007, Zl. Senat-FR-07-0014, betreffend Schubhaft, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §76 Abs2 Z4;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §77;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §76 Abs2 Z4;
FrPolG 2005 §76 Abs2;
FrPolG 2005 §77;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der am 10. August 1989 geborene Beschwerdeführer, ein russischer Staatsbürger und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste, nachdem er bereits davor in Polen die Gewährung von Asyl beantragt hatte, am 29. Oktober 2006 von der Slowakei kommend illegal nach Österreich ein und stellte am Tag darauf einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz. Er wurde daraufhin bis zum 28. Dezember 2006 in Wien in Schubhaft angehalten. An diesem Tag wurde er auf Grund seiner Haftunfähigkeit, die von der Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr. H. am 28. Dezember 2006 festgestellt worden war, entlassen. Er begab sich zum Flüchtlingslager Traiskirchen, wo sich - seiner Information nach - sein Vater aufhielt und wo er einen zweiten Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz stellte.

Mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom 29. Dezember 2006 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Baden daraufhin über den Beschwerdeführer neuerlich gemäß § 76 Abs. 2 Z. 4 und Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG die Schubhaft, um das Verfahren zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 Asylgesetz 2005 und um seine Abschiebung zu sichern.

Begründend stellte sie fest, der Beschwerdeführer sei am 29. Dezember 2006 in Traiskirchen "durch die Exekutive" festgenommen worden. Erhebungen hätten ergeben, dass gegen den Beschwerdeführer "durch die EAST-Ost am 22.11.2006 gemäß § 10 AsylG eine Ausweisung erlassen worden" sei. Sein Antrag auf internationalen Schutz sei "zurück- bzw. abgewiesen" worden. Eine dagegen erhobene Berufung sei mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates (UBAS) vom 19. Dezember 2006 abgewiesen worden.

Vor der illegalen Einreise nach Österreich habe sich der Beschwerdeführer in Polen aufgehalten, wohin er am 28. Dezember 2006 abgeschoben werden sollte. Am 29. Dezember 2006 habe er neuerlich einen Asylantrag gestellt. Es sei daher davon auszugehen, dass der Antrag auf internationalen Schutz mangels Zuständigkeit Österreichs zurückgewiesen werde. Da der Beschwerdeführer die Abschiebung verweigert habe, werde zur Sicherung derselben die Schubhaft verhängt.

Das Verhalten des Beschwerdeführers habe gezeigt, dass er sich nicht an die polnischen und österreichischen Einreise-, Aufenthalts- und Ausreisebestimmungen gehalten habe. Da er angegeben habe, auf keinen Fall nach Polen zurückzukehren, gehe die Behörde davon aus, dass er nicht gewillt sei, die österreichischen Gesetze zu respektieren und dass davon auszugehen sei, er werde im Fall einer (neuerlichen) negativen Asylentscheidung umgehend untertauchen, um sich dem behördlichen Zugriff zu entziehen.

Der Beschwerdeführer sei in Österreich nicht sozial integriert, habe keine Wohnung, kein Einkommen und "keine Familie". Dass er sich nicht einmal um ein Visum bemüht habe, zeige, dass er nicht gewillt sei, sich an die Gesetze der Republik Österreich zu halten. Es sei daher davon auszugehen, dass er sich auch an weitere negative Entscheidungen bezüglich seines Aufenthaltes nicht halten werde, um sein "Ziel des Aufenthaltes zu erreichen und längstmöglich hinauszuzögern".

Der Beschwerdeführer verfüge auch nicht über ausreichende Barmittel. Eine rechtmäßige Beschäftigung könne er nicht ausüben, weil er weder im Besitz einer arbeitsmarkt- noch aufenthaltsrechtlichen Bewilligung sei. Es müssten daher für seinen weiteren Aufenthalt öffentliche Mittel aufgewendet werden bzw. sei der Schluss zulässig, dass er versuchen könnte, durch Begehung strafbarer Handlungen seinen Unterhalt zu fristen.

Die Anwendung gelinderer Mittel gemäß § 77 Abs. 1 FPG sei - ungeachtet der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers - auszuschließen: Dieser könne nämlich seinen Aufenthalt in Österreich nicht legalisieren. Es sei daher die Annahme gerechtfertigt, dass er sich dem behördlichen Zugriff entziehen werde, um die Vollstreckung der fremdenpolizeilichen Maßnahmen gegen seine Person zu verhindern oder zumindest erheblich zu erschweren.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 7. Februar 2007 wies die belangte Behörde eine vom Beschwerdeführer am 1. Februar 2007 erhobene Schubhaftbeschwerde gemäß den §§ 82 und 83 FPG ab und stellte gemäß § 83 Abs. 4 erster Satz FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

In ihrer Begründung teilte die belangte Behörde die Argumentation der Bezirkshauptmannschaft Baden. Sie hob hervor, dass sich der Beschwerdeführer dem asylrechtlichen Verfahren in Polen entzogen habe und am 29. Oktober 2006 über die Slowakei illegal und schlepperunterstützt ohne Dokumente in das österreichische Staatsgebiet eingereist sei. Hier habe er keine Wohnmöglichkeit, keine gesicherten sozialen Anknüpfungspunkte sowie keine Möglichkeit zu einer legalen Beschäftigung am Arbeitsmarkt. Über seinen ersten Asylantrag vom 30. Oktober 2006 sei bereits "negativ entschieden" worden, auch sei seine Ausweisung verfügt worden. Nach Stellung des neuerlichen Asylantrages am 29. Dezember 2006 sei die Schubhaft gemäß § 76 Abs. 2 Z. 4 und Abs. 3 FPG angeordnet worden, um das Verfahren zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 Asylgesetz 2005 und um die Abschiebung zu sichern. Auch der Vater des Beschwerdeführers, über dessen Asylantrag mit Bescheid vom 29. Jänner 2007 "negativ entschieden" worden sei, befinde sich in Österreich in Schubhaft.

Am 2. Jänner 2007 sei zum zweiten Asylantrag des Beschwerdeführers die Mitteilung gemäß § 29 Abs. 3 Asylgesetz 2005 ergangen, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, weil seit 9. November 2006 die Zustimmung der slowakischen (richtig: polnischen) Republik für die Führung seines Asylverfahrens vorliege. Gleichzeitig sei das Ausweisungsverfahren eingeleitet worden. Am 1. Februar 2007 sei die fremdenpolizeiliche Information des Bundesasylamtes ergangen, dass dessen Bescheid gemäß § 5 Asylgesetz 2005 "mit 31.01.2007 erlassen" worden sei und dass dieser Bescheid durchsetzbar wäre.

Rechtlich erachtete die belangte Behörde den "Anlassfall nach § 76 Abs. 2 Z. 4 FPG" für verwirklicht. Der Beschwerdeführer habe sich "in einem anderen EU-Mitgliedstaat und Unterzeichner-Staat des Dublin-II-Abkommens einem dort anhängigen asylrechtlichen Verfahren entzogen", sei illegal und schlepperunterstützt ohne Reisedokumente und Personalausweis nach Österreich eingereist und habe neuerlich "ein asylrechtliches Verfahren" angestrengt. Er verfüge "nicht über gesicherte soziale Anknüpfungspunkte im Inland oder im Bereich der EU" und habe keine Möglichkeiten zu einer arbeitsmarktrechtlichen Integration im Inland bzw. zu einer sozialen und wirtschaftlichen Versorgung. Die Schubhaft sei daher notwendig, um ihn für weitere behördliche Zugriffe zur Verfügung zu halten.

Eine Besicherung könne, obwohl der Beschwerdeführer noch Jugendlicher sei, durch die Anwendung "des gelinderen Mittels" nicht erreicht werden, weil er sich "der bereits auf Grund der rechtskräftigen negativen letztinstanzlichen Entscheidung versuchten Abschiebung" widersetzt habe. Dazu kämen die Mittellosigkeit sowie das Fehlen sozialer und beruflicher Integration im Inland, sodass die Schubhaft das einzig mögliche Mittel sei, um der Fremdenpolizeibehörde im weiteren Verfahren die Möglichkeit eines behördlichen Zugriffs im Zusammenhang mit der bevorstehenden Abschiebung des Beschwerdeführers zu gewährleisten. Eine zur Haftunfähigkeit führende Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers, der laufend der Kontrolle durch den Anstaltsamtsarzt unterworfen sei, liege nicht vor. Die Schubhaftbeschwerde erweise sich somit als unbegründet. Auch sei, zumal die Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft nicht unverhältnismäßig lange - "seit 29.12.2006" - andauere, festzustellen, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Vorauszuschicken ist, dass die belangte Behörde ohne Begründung übergeht, dass der Beschwerdeführer aus der eingangs dargestellten, bereits im Oktober 2006 verhängten Schubhaft erst am 28. Dezember 2006 wegen Haftunfähigkeit entlassen worden war. Es wäre daher seine - für den Tag darauf im Ergebnis bejahte - Haftfähigkeit, die eine Voraussetzung der Rechtmäßigkeit seiner Anhaltung betrifft, einer inhaltlichen Prüfung zu unterziehen gewesen. Dies fällt umso mehr ins Gewicht, weil eine Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes, selbst wenn daraus keine fortdauernde Haftunfähigkeit resultieren sollte, im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Ergebnis führen kann, dass an Stelle der Anordnung der Schubhaft die Anwendung gelinderer Mittel ausreichend gewesen wäre (vgl. zum Ganzen zuletzt das hg. Erkenntnis vom 29. April 2008, Zl. 2006/21/0127 mwN.).

Zudem hat die belangte Behörde nicht ausreichend berücksichtigt, dass ungeachtet des Vorliegens eines Tatbestandes nach § 76 Abs. 2 FPG (hier wohl seiner Z. 3) die Schubhaftnahme eines Asylwerbers nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn besondere Umstände vorliegen, die ein Untertauchen des betreffenden Fremden befürchten lassen und daher einen Sicherungsbedarf ergeben (vgl. ausführlich das hg. Erkenntnis vom 30. August 2007, Zl. 2007/21/0043, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird). Dieser ist fallbezogen durch das Verhalten des minderjährigen Beschwerdeführers, der nach seiner Enthaftung erkennbar lediglich die Nähe seines in Traiskirchen aufhältigen Vaters suchte, nicht indiziert.

Ebenso blieb die belangte Behörde - selbst wenn man einen Sicherungsbedarf unterstellte - auch eine nachvollziehbare Begründung dafür schuldig, weshalb gelindere Mittel fallbezogen, ungeachtet der damaligen Minderjährigkeit des Beschwerdeführers, nicht in Betracht gekommen wären (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 24. Oktober 2007, Zl. 2007/21/0370).

Schließlich ist aus den vorgelegten Verwaltungsakten ersichtlich, dass sich (entgegen den eingangs wiedergegebenen Feststellungen) nicht nur der - in Schubhaft angehaltene - Vater des Beschwerdeführers, sondern auch seine erkrankte Stiefmutter und seine beiden Geschwister (im Alter von zwei und drei Jahren) in Österreich aufgehalten hatten. Auch insoweit lässt der angefochtene Bescheid eine nachvollziehbare Begründung dahingehend vermissen, weshalb einerseits eine Trennung des minderjährigen Beschwerdeführers von seiner Familie erforderlich war (vgl. dazu das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 28. September 2004, B 292/04 = VfSlg. 17.288) und andererseits ein Untertauchen des Beschwerdeführers trotz des Aufenthaltes seiner (jedenfalls zum Teil betreuungsbedürftigen) Angehörigen in Österreich angenommen werden müsste.

Der angefochtene Bescheid war daher schon aus diesen Gründen - ohne dass auf die weitere Rüge der Verletzung von Verfahrensvorschriften betreffend die oben wiedergegebene Feststellung zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers (unter Übergehung der die Haftfähigkeit des Beschwerdeführers verneinenden Äußerung der Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr. H. vom 28. Dezember 2006 sowie der fachärztlichen Stellungnahme des Dr. N. vom 17. Jänner 2007) eingegangen werden musste - gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen der prävalierenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 19. Juni 2008

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