VwGH 2007/19/0535

VwGH2007/19/053520.2.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl sowie die Hofräte Mag. Nedwed, Dr. N. Bachler, die Hofrätin Mag. Rehak und den Hofrat Dr. Fasching als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerde des I, vertreten durch Mag. Martin M. Gregor, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Kärntner Straße 26, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 4. Juli 2007, Zl. 220.212/0/12E-VII/43/00, betreffend §§ 7, 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §1 Z4;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1997 §1 Z4;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Asylantrag des Beschwerdeführers vom "17. Juli 2000" gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 8 Abs. 1 AsylG in die Ukraine für zulässig. Begründend führte sie dazu aus, der Beschwerdeführer sei am "10. Juli 2002" (richtig: 10. Juli 2000) illegal in das Bundesgebiet eingereist und habe am "17. Juli 2002" einen Asylantrag gestellt. Seinen Angaben zufolge sei er staatenlos, gehöre der russischen Volksgruppe an und sei zuletzt in der Ukraine wohnhaft gewesen, wo er vor seiner Flucht keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Zum Herkunftsstaat (Ukraine) stellte die belangte Behörde fest, "dass Staatenlosen in der Ukraine jedwede Lebensgrundlage" fehle. Nicht festgestellt werden könne, dass dem Asylwerber im Falle seiner Rückkehr in die Ukraine "Eingriffe in die gemäß Art. 2 und 3 EMRK hantierten Rechten" drohe. Festgestellt werden könne, "dass Staatenlose in der Ukraine grundsätzlich asylrelevant verfolgt" würden. Rechtlich folgerte die belangte Behörde, es sei dem Beschwerdeführer während des gesamten Verfahrens nicht gelungen glaubhaft darzustellen, dass ihm in seinem Herkunftsland Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention (FlKonv.) drohe. Auch habe sich kein Anhaltspunkt dafür gefunden, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat im Lichte des Art. 3 EMRK unzulässig sei.

Mit Bescheid vom 26. Juli 2007 berichtigte die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid dahingehend, dass es in ihren Feststellungen zu lauten habe:

"Nicht festgestellt werden kann, dass Staatenlosen in der Ukraine jedwede Lebensgrundlage fehlt."

Dagegen wendet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

1. Der angefochtene Bescheid weist - ungeachtet der vorgenommenen Berichtigung - Begründungsmängel auf. Vor allem die Feststellung, Staatenlose in der Ukraine würden grundsätzlich asylrelevant verfolgt, ist mit der Abweisung des Asylantrages des Beschwerdeführers (den die belangte Behörde an anderer Stelle als Staatenlosen bezeichnet) nicht in Einklang zu bringen.

2. Selbst wenn die belangte Behörde - entgegen dem Wortlaut ihrer Feststellungen - beabsichtigt haben sollte, eine asylrelevante Verfolgung von Staatenlosen in der Ukraine zu verneinen, vermag der angefochtene Bescheid aber keinen Bestand zu haben. Die belangte Behörde hat sich mit der Frage des Herkunftsstaates des Beschwerdeführers, die einer Prüfung seiner Asyl- und Non-Refoulementgründe vorgelagert ist, nicht ausreichend auseinandergesetzt.

2.1. Unerwähnt blieb im angefochtenen Bescheid zunächst, dass das Bundesasylamt in der erstinstanzlichen Entscheidung "Russland" als Herkunftsstaat angenommen und Asyl bzw. Abschiebeschutz hinsichtlich dieses Herkunftsstaat geprüft hat. Auch im Kopf des angefochtenen Bescheides wird die Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers mit "Russland" angegeben.

2.2. Ungeachtet dessen geht die belangte Behörde an anderer Stelle ihrer Begründung davon aus, dass der Beschwerdeführer staatenlos sei und nimmt - offenbar unter Zugrundelegung der Rechtsansicht, die Ukraine sei der Staat seines früheren gewöhnlichen Aufenthalts im Sinn des § 1 Z 4 AsylG - die Prüfung von Asyl- und Abschiebeschutz in Bezug auf die Ukraine vor. Dazu wird ausgeführt, der Beschwerdeführer sei "nach eigenen Angaben staatenlos" und "in der Ukraine wohnhaft" gewesen.

2.3. Eine Überprüfung der Verwaltungsakten zeigt allerdings, dass die Beweisergebnisse diese sehr vereinfachte Würdigung der Angaben des Beschwerdeführers nicht ohne Weiteres zulassen. Der Beschwerdeführer hatte im Asylverfahren zusammengefasst ausgesagt, 1971 in Turkmenistan (damalige UdSSR) geboren worden zu sein. Da sein Vater Offizier gewesen und als solcher immer wieder an andere Einsatzorte beordert worden sei, habe die Familie öfter übersiedeln müssen. Die Aufenthaltsorte bis in das Jahr 1990 lassen sich nach den Angaben des Beschwerdeführers nur lückenhaft erkennen. So habe er die Grundschule in der Nähe von Moskau absolviert und anschließend als Förster in einem Ort namens "Tschitta" gearbeitet. 1990 sei der Beschwerdeführer erstmals für einige Monate nach Tschetschenien gekommen. Anschließend habe er sich bis 1993 bei seiner Großmutter in der Ukraine aufgehalten, während seine Eltern in Tschetschenien verblieben seien. 1993 habe er vom Tod seiner Mutter erfahren und sei nach Tschetschenien gereist, wo er sich im Folgenden bis Ende 1995 aufgehalten habe. Ab 1994 sei er von "tschetschenischen Kämpfern angehalten und zum Mitmachen" gezwungen worden. Gegen Ende seines Aufenthaltes in Tschetschenien sei er in russische Gefangenschaft geraten, habe aber flüchten können. Von 1996 bis 2000 (Tod der Großmutter) habe er grundsätzlich wieder in der Ukraine gelebt. Zwischendurch sei er 1999 aber nach Tschetschenien zurückgekehrt, um seinen Vater (der in Gefangenschaft tschetschenischer Widerstandskämpfer geraten sei) zu suchen. Dabei habe er der russischen Polizei jene Mittelsmänner verraten, die ihn gegen eine hohe Geldsumme mit seinem Vater in Kontakt bringen hätten wollen. "Die Leute" seien anschließend auch verhaftet worden. Bei Rückkehr nach Russland fürchte der Beschwerdeführer deshalb "Probleme mit den Tschetschenen", die wüssten, dass er sie verraten habe. Aber auch "die Russen" wüssten, dass er seinerzeit aus ihrer Gefangenschaft geflohen sei und glaubten, dass er "den Tschetschenen" geholfen habe. In der Ukraine hätte er Probleme, weil er "keine Dokumente" habe und (seit dem Tod seiner Großmutter) nicht wüsste, wo er dort hin solle.

Die Angaben des Beschwerdeführers zur Staatsangehörigkeit waren nicht konsistent. Im Protokoll der erstinstanzlichen Einvernahme vom 17. Juli 2000 wurde als Staatsangehörigkeit "Russland" vermerkt. In der mündlichen Berufungsverhandlung vom 3. Juli 2007 sagte der Beschwerdeführer zunächst aus, russischer Staatsangehöriger zu sein, um etwas später genau das Gegenteil zu behaupten ("Ich habe auch keine russische Staatsbürgerschaft da ich in der Sowjetunion geboren bin. Ich weiß nicht, was ich für eine Staatsbürgerschaft habe, das Land ist ja geteilt worden.").

3. Daraus lassen sich folgende Schlüsse ziehen:

3.1. Das AsylG 1997 in der im vorliegenden Fall maßgeblichen Fassung vor der AsylG-Novelle 2003, BGBl. I Nr. 101, sieht in seinem § 7 vor, dass einem Asylwerber Asyl zu gewähren ist, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 FlKonv. droht und keiner die in Art. 1 Abschnitt C oder F FlKonv. genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt. Bei Abweisung des Asylantrages ist gemäß § 8 AsylG festzustellen, ob die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den Herkunftsstaat zulässig ist.

"Herkunftsstaat" im Sinne dieser Bestimmungen ist gemäß § 1 Z 4 AsylG jener Staat, dessen Staatsangehörigkeit Fremde besitzen oder - im Falle der Staatenlosigkeit - der Staat ihres früheren gewöhnlichen Aufenthaltes.

3.2. Entgegen der Ansicht der belangten Behörde lässt sich allein auf die Aussage des Beschwerdeführers eine Feststellung des Inhaltes, der Beschwerdeführer sei staatenlos, nicht stützen. Der Beschwerdeführer gab vielmehr zuletzt ausdrücklich zu Protokoll, nicht zu wissen, ob und welche Staatsangehörigkeit er besitze. Ausgehend davon hätte es einer Klärung der Frage bedurft, ob der Beschwerdeführer unter Berücksichtigung seiner Lebensgeschichte einerseits und der (notorischen) politischen Veränderungen in den Staaten der ehemaligen UdSSR andererseits die Staatsangehörigkeit eines der Nachfolgestaaten der UdSSR erlangt hat. Derartige Erwägungen lässt der angefochtene Bescheid aber vermissen.

3.3. Sollte die unter Punkt 3.2. angesprochene Prüfung ergeben, dass der Beschwerdeführer tatsächlich keine Staatsangehörigkeit besitzt und somit staatenlos ist, so wäre weiter zu klären, in welchem Staat er am Beginn seiner Flucht den "gewöhnlichen Aufenthalt" im Sinne des § 1 Z 4 letzter Halbsatz hatte.

Diese gesetzliche Definition erfolgte in Anlehnung an Art. 1 Abschnitt A Z 2 FlKonv. ("...oder wer staatenlos ist, sich ... außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthalts befindet ..."). Der UNHCR erläutert in seinem Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft (1993), es müsse zur Festlegung des maßgeblichen Herkunftsstaates geprüft werden, ob eine Wechselbeziehung zwischen den angegebenen Fluchtgründen und dem Land, in dem der bisherige Wohnsitz lag, und im Verhältnis zu dem Furcht vor Verfolgung geltend gemacht wird, bestehe. Er bezieht sich dabei (wie auch Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law I (1966), 160 f) auf die Materialien zur Genfer Flüchtlingskonvention, wonach es sich um das Land handle, "in dem er (der Asylwerber) seinen Wohnsitz hatte und wo er Verfolgung erlitten hatte bzw. fürchtete, verfolgt zu werden, wenn er dahin zurückkehrte" (UNHCR-Handbuch, Rz 103). Gefordert wird eine 'feste Bindung' zu diesem Staat im Sinne einer zumindest für eine gewisse Dauer erfolgten Verlagerung der Interessen dorthin (vgl. Grahl-Madsen, a.a.O., 160; Rohrböck, Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (1999(, Rz 158, und ihm folgend das hg. Erkenntnis vom 22. Oktober 2002, Zl. 2001/01/0089, sowie Schmidt/Frank, AsylG 1997, K 22 zu § 1).

Wendet man diese Rechtsgrundsätze auf den vorliegenden Fall an, so wäre zunächst festzustellen, wann der Beschwerdeführer seine Flucht aus welchen Gründen begann und auf welchen Staat zu diesem Zeitpunkt die obgenannten Voraussetzungen zutrafen. Auch derartige Überlegungen lässt der angefochtene Bescheid aber vermissen.

Er war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 20. Februar 2009

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