VwGH 2007/18/0743

VwGH2007/18/074319.3.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höfinger und die Hofräte Dr. Enzenhofer und Dr. Strohmayer, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Lukasser als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des V D I in W, vertreten durch Mag. Wolfgang Kleinhappel, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Rabensteig 8/3A, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 6. August 2007, Zl. UVS-FRG/53/759/2006-29, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §60 Abs1 Z1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §66;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §60 Abs1 Z1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z1;
FrPolG 2005 §66;
FrPolG 2005 §86 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien (der belangten Behörde) vom 6. August 2007 wurde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß "§ 36 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z. 1 des Fremdengesetzes 1997" - FrG, BGBl. I Nr. 75, ein für die Dauer von zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen.

Der Beschwerdeführer habe im erstinstanzlichen Verfahren vorgebracht, erwerbstätig zu sein und "mit meinem Sohn N." in Österreich zu leben. In der mündlichen Verhandlung vom 29. Jänner 2007 habe er angegeben, zwei Kinder in Österreich zu haben. Er habe seine Frau nach Österreich gebracht, die seit zweieinhalb Jahren hier lebe. Sein Sohn sei mit einer in Österreich geborenen Türkin verheiratet und habe ein Kind.

Der Beschwerdeführer sei "zum Tatzeitpunkt bereits mehr als zehn Jahre in Österreich wohnhaft" gewesen. (Aus dem im angefochtenen Bescheid zitierten erstinstanzlichen Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 3. November 1998 ergibt sich, dass der Beschwerdeführer mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 19. August 1998 wegen § 83 Abs. 1 und § 84 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist, weil er am 2. Mai 1998 dem G. mit einem Messer mit einer Klingenlänge von vierzehn Zentimetern Schnitte von mehreren Zentimetern Tiefe versetzt hatte, und am 30. April 1998 dem M. aus einer Entfernung von etwa einem Meter ein Glas ins Gesicht geworfen hatte.)

Zur "zweiten Verurteilung", die dem Vertreter des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht bekannt gewesen sei, habe dieser folgende Stellungnahme abgegeben:

"Der Vorfall liegt schon fast 8 Jahre zurück, der Unrechtsgehalt der Tat war auf Grund der leichten Körperverletzung der Sylvia N. geringfügig, der Einschreiter hat sich seit diesem Zeitpunkt wohlverhalten, ist nicht mehr straffällig geworden und auf Grund seiner massiven Inlandsbeziehung würde die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsverbotes und Ausweisung aus Österreich auch gegen die MRK verstoßen."

(Aus dem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 6. April 2000 ergibt sich, dass der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt worden ist, weil er die geistig behinderte Silvia N. durch Würgen und Versetzen von Schlägen gegen den Kopf vorsätzlich leicht am Körper verletzt hat, als diese ihn am 29. August 1999 verärgert und traurig davon abbringen wollte, aus einer Wohnung, in der sich beide regelmäßig getroffen hatten, auszuziehen. Die zum erstgenannten Urteil gewährte bedingte Strafnachsicht wurde widerrufen.)

Da er vor der Begehung seiner strafbaren Handlungen bzw. vor seiner diesbezüglichen Verurteilung ununterbrochen zehn Jahre im Bundesgebiet aufhältig gewesen sei, würden iSd fünften Satzes des § 86 Abs. 1 FPG die erschwerten Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes zur Anwendung gelangen. Dennoch habe dieser Umstand nicht zu Gunsten des Beschwerdeführers durchschlagen können, weil auf Grund seines persönlichen Verhaltens davon ausgegangen werden könne, dass die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Im Hinblick darauf könnten auch die familiären Bindungen des Beschwerdeführers in Österreich zu keinem anderen Ergebnis führen.

Der Beschwerdeführer habe schon bei seiner ersten Gewalttat mit äußerster Rücksichtslosigkeit gehandelt, indem er - ohne sich in einer rechtlich anerkannten Notwehr- oder Nothilfesituation zu befinden - ein Glas in das Gesicht seines Kontrahenten geschlagen und diesem das Nasenbein gebrochen habe. Mit noch größerer Brutalität sei er anschließend vorgegangen, als er bei einem Lokalbesuch mit den Söhnen des Opfers von sich aus ein Messer verwendet habe und ohne Vorliegen einer Nothilfe- oder Notwehrsituation zweimal auf sein Opfer eingestochen habe. Zu dem seiner zweiten strafgerichtlichen Verurteilung zu Grunde liegenden Sachverhalt der Körperverletzung, begangen an Sylvia N., werde auf das dazu ergangene Urteil des Straflandesgerichtes Wien verwiesen. Dieses neuerliche straffällige Verhalten des Beschwerdeführers zeige, dass er trotz des Wissens um die noch offene Berufung gegen das gegen ihn gerichtete Aufenthaltsverbot nicht in der Lage sei, seine Emotionen in einer Weise zu kontrollieren, die ihn von weiteren strafbaren Handlungen abgehalten hätte. Er habe seine Gewaltbereitschaft ein weiteres Mal dokumentiert. Besonders verwerflich sei, dass sich die Gewalt gegen eine geistig behinderte Frau gerichtet habe, die seinem Angriff keine adäquate Gegenwehr habe entgegensetzen können. Selbst in der mündlichen Verhandlung sei der Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen, "sich in einer für den Senat erkennbaren Weise von seinen Taten zu distanzieren, wobei er den Eindruck erweckte, seinen Taten weitgehend kritiklos gegenüber zu stehen". Zwar könne auf Grund eines Auszuges der Personendatenbank des Magistrats der Stadt Wien davon ausgegangen werden, dass sich der Beschwerdeführer "zumindest seit 1995, somit zum Zeitpunkt seiner ersten Tat länger als 10 Jahre" in Österreich aufgehalten habe, "woraus jedoch in Anbetracht der Schwere der Übertretungen und des Verhaltens des (Beschwerdeführers) in der Vergangenheit sowie in der Gegenwart für diesen nichts gewonnen werden kann". Auch nach dem gemäß § 86 Abs. 1 FPG für über zehn Jahre in Österreich aufhältige Personen anzuwendenden strengeren Prüfungsmaßstab erfülle der Beschwerdeführer jedenfalls jene Kriterien, wonach die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.

2. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 25. September 2007, B 1748/07, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

3. In der auftragsgemäß ergänzten Beschwerde beantragt der Beschwerdeführer, den Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes oder Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

4. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1.1. Gegen den Beschwerdeführer als türkischen Staatsangehörigen, dem die Rechtsstellung nach Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des - durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten - Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: ARB) zukommt, ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nur zulässig (vgl. § 86 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG, mit dem die gemeinschaftsrechtlichen Beschränkungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots innerstaatlich umgesetzt wurden), wenn auf Grund seines persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.

Für die Beantwortung der Frage, ob diese Annahme gerechtfertigt ist, ist demnach zu prüfen, ob sich aus dem gesamten Fehlverhalten des Fremden ableiten lässt, dass sein weiterer Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährde. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der Beurteilung der genannten Gefährdung kann auf den Katalog des § 60 Abs. 2 FPG als "Orientierungsmaßstab" zurückgegriffen werden.

Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen türkische Staatsangehörige, denen die genannte Rechtsstellung zukommt und die vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes ihren Hauptwohnsitz ununterbrochen seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist überdies nur dann zulässig (vgl. § 86 Abs. 1 fünfter Satz FPG), wenn auf Grund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Unter dem Zeitpunkt "vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes" im Sinn des fünften Satzes des § 86 Abs. 1 FPG ist der Zeitpunkt vor Eintritt des ersten der von der Behörde zulässigerweise zur Begründung des Aufenthaltsverbots herangezogenen Umstände, die in ihrer Gesamtheit die Maßnahme tragen, zu verstehen. Der "maßgebliche Sachverhalt" im Fall eines auf strafbare Handlungen gegründeten Aufenthaltsverbots umfasst das den Verurteilungen zu Grunde liegende Fehlverhalten (vgl. das hg. Erkenntnis vom 2. September 2008, Zl. 2006/18/0333).

Die belangte Behörde hat dem Aufenthaltsverbot die seit dem 30. April 1998 begangenen Straftaten zu Grunde gelegt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Beschwerdeführer möglicherweise (die dazu getroffenen Feststellungen sind widersprüchlich) seinen Hauptwohnsitz bereits zehn Jahre im Bundesgebiet.

1.2. Der Beschwerdeführer bringt vor, er halte sich seit 1989 im Bundesgebiet auf. Er habe in der Türkei keinerlei familiäre Beziehungen. In Österreich lebten seine Ehefrau, sein mit einer österreichischen Staatsangehörigen verheirateter Sohn und seine ebenfalls verheiratete Tochter. Der angefochtene Bescheid verletze ihn in seinem Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens durch Unterlassung einer der EMRK entsprechenden Interessenabwägung. Er lebe schon seit fast 20 Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet, sei hier integriert, gehe einer Erwerbstätigkeit nach und verfüge ausschließlich über familiäre und soziale Bindungen zu Familienangehörigen in Österreich. Zur zweiten strafgerichtlichen Verurteilung sei es gekommen, weil er mit der verletzten Sylvia N. befreundet gewesen sei. Diese habe nicht gewollt, dass er aus der Wohnung ausziehe. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen sei es zu Tätlichkeiten gekommen. Der gegenständliche Vorfall liege schon acht Jahre zurück. Seit diesem Zeitpunkt habe er sich wohlverhalten und sei nicht mehr straffällig geworden.

1.3. Der angefochtene Bescheid erschöpft sich großteils in Zitaten des erstinstanzlichen Bescheides, der strafgerichtlichen Verurteilungen und einer Anzeige der Bundespolizeidirektion Wien. Nähere Feststellungen zur privaten und familiären Situation des Beschwerdeführers sowie zu seiner Aufenthaltsdauer in Österreich fehlen bzw. sind widersprüchlich. Mit der Zulässigkeit des Aufenthaltsverbots im Grund des § 66 FPG hat sich die belangte Behörde in Verkennung der Rechtslage nicht auseinander gesetzt. Allein dies belastet den angefochtenen Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit, sodass dahin gestellt sein kann, ob auf Grund des persönlichen Verhaltens des Beschwerdeführers davon auszugehen ist, dass die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet iSd § 86 Abs. 1 FPG gefährdet würde.

2. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

3. Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.

Wien, am 19. März 2009

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