VwGH 2006/20/0139

VwGH2006/20/01399.9.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofrätin Dr. Pollak, den Hofrat Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätinnen Mag. Rehak und Mag. Dr. Maurer-Kober als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hahnl, über die Beschwerde des A, vertreten durch Dr. Nikolaus Weselik, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Ebendorferstraße 3, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 22. Februar 2006, Zl. 268.162/0-IV/44/06, betreffend §§ 5, 5a Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §24a Abs8 idF 2003/I/101;
AsylG 1997 §30 Abs1 idF 2003/I/101;
AsylG 1997 §5;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwRallg;
AsylG 1997 §24a Abs8 idF 2003/I/101;
AsylG 1997 §30 Abs1 idF 2003/I/101;
AsylG 1997 §5;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste am 17. Dezember 2005 in das Bundesgebiet und brachte am selben Tag einen Asylantrag ein. Das Bundesasylamt holte eine Eurodac-Auskunft ein, der zufolge der Beschwerdeführer bereits am 20. September 2005 in Ungarn einen Asylantrag gestellt hatte. Auf dieser Grundlage übermittelte das Bundesasylamt am 23. Dezember 2005 ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung an die zuständigen ungarischen Behörden. Mit Schreiben vom 6. Jänner 2006, das am selben Tag beim Bundesasylamt einlangte, stimmte das ungarische Ministerium für Inneres - gestützt auf Art. 16 Abs. 1 lit. e Dublin-Verordnung - der Wiederaufnahme des Beschwerdeführers zu.

Der Beschwerdeführer wurde am 28. Dezember 2005 vor dem Bundesasylamt einvernommen und dabei wurde ihm die Ladung zur Einvernahme am 30. Dezember 2005 ausgehändigt. Mit Aktenvermerk vom 30. Dezember 2005 stellte das Bundesasylamt das Verfahren gemäß § 30 Abs. 1 Asylgesetz 1997 (AsylG) ein, weil die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes im Zulassungsverfahren noch nicht erfolgen könne und sich der Beschwerdeführer ungerechtfertigt aus der Erstaufnahmestelle entfernt habe. Durch eine Mitteilung der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt vom 10. Jänner 2006 wurde dem Bundesasylamt bekannt, dass der Beschwerdeführer seit 30. Dezember 2005 in E gemeldet sei.

Bei der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 1. Februar 2006 gab der Beschwerdeführer an, er habe dem Einvernahmetermin am 30. Dezember 2005 nicht Folge geleistet, weil er krank und ihm schlecht gewesen sei. Er habe bei der Erstaufnahmestelle angerufen und seinen Meldezettel sowie das vom Arzt erhaltene Rezept gefaxt. Laut Aktenvermerk eines Mitarbeiters des Bundesasylamtes vom 1. Februar 2006 würden sich derartige Unterlagen nicht im Akt befinden. Auch im "AIS" scheine keine Eintragung über das Einlangen einer "Faxnachricht" auf. Die befragten Mitarbeiter könnten den Anruf des Beschwerdeführers und die Übermittlung einer "Faxnachricht" nicht bestätigen.

Mit Bescheid vom 1. Februar 2006, dem Zustellungsbevollmächtigten des Beschwerdeführers am selben Tag zugestellt, wies das Bundesasylamt den Asylantrag gemäß § 5 Abs. 1 AsylG zurück, sprach aus, dass für die Prüfung des Asylantrages gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. e Dublin-Verordnung Ungarn zuständig sei, und wies den Beschwerdeführer gemäß § 5a Abs. 1 und 4 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet dorthin aus. Auf die Einhaltung der Frist des § 24a Abs. 8 AsylG ging es nicht ein.

Die belangte Behörde wies die dagegen erhobene Berufung mit dem angefochtenen Bescheid gemäß §§ 5, 5a AsylG ab. Zur Einhaltung der Frist des § 24a Abs. 8 AsylG führte die belangte Behörde aus, das Asylverfahren sei mit Aktenvermerk des Bundesasylamtes vom 30. Dezember 2005 gemäß § 30 Abs. 1 AsylG eingestellt worden, weil eine Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes noch nicht erfolgen hätte können und sich der Beschwerdeführer aus der Ersteinvernahmestelle ungerechtfertigt entfernt habe. Gemäß § 24a Abs. 8 letzter Satz AsylG gelte der erste Satz dieser Bestimmung nicht, sodass die Frist von 20 Tagen nicht relevant sei.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die dagegen erhobene Beschwerde nach Vorlage der Akten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Der im vorliegenden Fall anzuwendende § 24a Abs. 8 AsylG idF der AsylG-Novelle 2003, BGBl. I Nr. 101, lautet:

"(8) Entscheidet das Bundesasylamt nicht binnen zwanzig Tagen nach Einbringung des Antrages, dass der Asylantrag als unzulässig gemäß der §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, ist der Antrag zugelassen, es sei denn es werden Konsultationen gemäß der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18. Februar 2003 geführt; Abs. 4 gilt. Die Abweisung des Asylantrages gemäß § 6 oder eine Entscheidung gemäß der §§ 7 oder 10 ersetzt die Entscheidung im Zulassungsverfahren. Satz 1 gilt nicht, wenn sich der Asylwerber dem Verfahren entzieht und das Verfahren eingestellt oder als gegenstandslos abgelegt wird."

Unter welchen Voraussetzungen die Entfernung von der Erstaufnahmestelle am 30. Dezember 2005 ungerechtfertigt war, regelt § 30 Abs. 1 AsylG idF der AsylG-Novelle 2003 (§ 75 Abs. 2 zweiter Satz Asylgesetz 2005), welcher lautet:

"(1) Asylverfahren, über deren Zulässigkeit noch nicht abgesprochen wurde (§ 24a) sind einzustellen, wenn eine Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes noch nicht erfolgen kann und sich der Asylwerber aus der Erstaufnahmestelle ungerechtfertigt entfernt hat. Ungerechtfertigt ist das Entfernen aus der Erstaufnahmestelle dann, wenn der Asylwerber trotz Aufforderung zu den ihm von Bundesasylamt gesetzten Terminen nicht kommt und er nicht in der Erstaufnahmestelle angetroffen werden kann. Ein Krankenhausaufenthalt ist jedenfalls kein ungerechtfertigtes Entfernen aus der Erstaufnahmestelle."

Zunächst ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach die in § 24a Abs. 8 erster Satz AsylG normierte 20-tägige Frist durch Konsultationen nach der Dublin-Verordnung lediglich gehemmt wird und mit dem Wegfall des Hemmungsgrundes durch den Abschluss des Konsultationsverfahrens die begonnene Frist weiterläuft. Ist die Frist vor Erlassung des Zurückweisungsbescheides abgelaufen, so ist der Asylantrag kraft Gesetzes "zugelassen"; eine Unzuständigkeitsentscheidung nach § 5 AsylG kommt nicht mehr in Betracht (vgl. dazu die hg. Erkenntnisse vom 31. Mai 2005, Zl. 2005/20/0038 und Zl. 2005/20/0095, sowie zuletzt das hg. Erkenntnis vom 30. März 2010, Zl. 2006/19/0881). Ausgehend von diesen Rechtsgrundsätzen wäre schon auf Grund des Zeitraumes zwischen dem Abschluss des Konsultationsverfahrens am 6. Jänner 2006 und der Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides am 1. Februar 2006 evident, dass das Bundesasylamt nicht binnen 20 Tagen ab Einbringung des Asylantrages über dessen Zulässigkeit nach § 5 AsylG entschieden hätte.

Innerhalb der 20-tägigen Frist erfolgte jedoch die auf § 30 Abs. 1 AsylG gegründete Einstellung des Verfahrens durch das Bundesasylamt am 30. Dezember 2005. Maßgebliche Bedeutung kommt demnach dem als Ausnahme formulierten letzten Satz des § 24a Abs. 8 AsylG zu. Der Gesetzgeber hat mit der ausdrücklichen Anordnung, "Satz 1 gilt nicht", wenn sich der Asylwerber - während der Entscheidungsfrist von 20 Tagen - dem Verfahren entzieht und das Verfahren eingestellt oder als gegenstandslos abgelegt wird, deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Befristung des Zulassungsverfahrens in diesem Fall gänzlich wegfällt (siehe dazu Feßl/Holzschuster, Asylgesetz 1997 idF der 3. Ergänzung, 316e; Schmid/Frank/Anerinhof, AsylG2 (2004), 392, K12. zu § 24a; vgl. auch zum inhaltsähnlich formulierten Wegfall der Befristung des Zulassungsverfahrens in § 28 Abs. 2 Asylgesetz 2005 die hg. Erkenntnisse vom 31. Mai 2007, Zl. 2007/20/0466, und vom 25. April 2008, Zlen. 2007/20/0720 bis 0723).

Wenn § 24a Abs. 8 letzter Satz AsylG von der Einstellung des Verfahrens spricht, wird ein Bezug zu § 30 Abs. 1 AsylG hergestellt (vgl. Feßl/Holzschuster, aaO. FN 3). Diese Bestimmungen sind daher insofern in Verbindung zueinander zu lesen.

"Entzieht sich der Asylwerber dem Verfahren, kann dieses" - nach den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (120 BlgNR XXII. GP, 18) - "... eingestellt ... werden." Daraus ist der Wille des Gesetzgebers ersichtlich, dass zwischen den Begriffen "entzieht" in § 24a Abs. 8 letzter Satz AsylG und "ungerechtfertigt entfernt" in § 30 Abs. 1 AsylG kein qualitativer Unterschied bestehen soll. Liegen demnach die Tatbestandsvoraussetzungen für ein ungerechtfertigtes Entfernen aus der Erstaufnahmestelle vor, entzieht sich der Asylwerber dem Verfahren. Durch die zusätzliche Anordnung der Verfahrenseinstellung in § 24a Abs. 8 letzter Satz AsylG wird einerseits auf die weitere Voraussetzung gemäß § 30 Abs. 1 AsylG Bezug genommen, dass im Zulassungsverfahren die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes noch nicht erfolgen kann. Andererseits ist für den Wegfall der Befristung des Zulassungsverfahrens auch die tatsächliche Einstellung des Verfahrens durch das Bundesasylamt erforderlich (arg.: "...

Verfahren eingestellt ... wird."), obwohl die

Entscheidungspflicht der Asylbehörden bereits bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Einstellung des Verfahrens gemäß § 30 Abs. 1 AsylG wegfällt. Die Verfahrenseinstellung hat mittels eines Aktenvermerks zu erfolgen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 24. Juni 1999, Zl. 98/20/0395, vom 23. Juli 1999, Zl. 99/20/0046, und vom 4. Oktober 2006, Zl. 2006/18/0191).

Zu § 30 Abs. 1 AsylG hat der Verfassungsgerichtshof (vgl. das Erkenntnis vom 15. Oktober 2004, G 237/03 u.a., Pkt. III.9.7.1 der Entscheidungsgründe) und ihm folgend der Verwaltungsgerichtshof (vgl. das hg. Erkenntnis vom 20. November 2008, Zl. 2006/21/0038) ausgesprochen, dass der zwangsweise Aufenthalt in der Erstaufnahmestelle nur für den Fall vorgesehen ist, dass der Asylwerber für eine ihm rechtzeitig bekannt gegebene, angemessene Zeitspanne, etwa - wie hier - für eine Einvernahme, eine ärztliche Untersuchung oder dergleichen, persönlich benötigt wird. Der zwangsweise Aufenthalt in der Erstaufnahmestelle ist also auf Fälle der Mitwirkung am Verfahren beschränkt. Auf Grund des letzten Satzes des § 30 Abs. 1 AsylG, der beispielsweise einen Krankenhausaufenthalt nennt, ist erkennbar, dass als Rechtfertigungsgrund für die Abwesenheit alle Umstände gelten, denen sich ein Asylwerber vernünftigerweise nicht entziehen kann bzw. die ihm nicht subjektiv vorwerfbar sind. Dazu zählen auch unaufschiebbare Arztbesuche oder dergleichen (vgl. dazu Feßl/Holzschuster, aaO. 342; Muzak, Verfahrensrechtliche Fragen der AsylG-Nov 2003 (Teil 2), migralex 2004, 15 (16)).

Zutreffend zeigt die Beschwerde auf, dass der Beschwerdeführer seine Abwesenheit beim Einvernahmetermin am 30. Dezember 2005 damit erklärte, an diesem Tag krank gewesen zu sein, dies der Erstaufnahmestelle telefonisch mitgeteilt und einen Meldezettel sowie das ärztliche Rezept gefaxt zu haben, wozu die belangte Behörde - wie schon das Bundesasylamt - keine Feststellungen traf. Die belangte Behörde hätte jedoch nur dann von einem Wegfall der Befristung des Zulassungsverfahrens ausgehen können, wenn sie das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen für eine Einstellung festgestellt und diese nach § 24a Abs. 8 letzter Satz iVm § 30 Abs. 1 AsylG beurteilt hätte. Die bloße Wiedergabe des Aktenvermerks des Bundesasylamtes vom 30. Dezember 2005, der den Gesetzestext des § 30 Abs. 1 erster Satz AsylG zitiert, ersetzt solche Feststellungen nicht (siehe das bereits zitierte hg. Erkenntnis vom 4. Oktober 2006, Zl. 2006/18/0191). Daran vermögen auch die Ergänzungen in der Gegenschrift nichts mehr zu ändern (vgl. etwa zur ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes das Erkenntnis vom 4. November 2004, Zl. 2004/20/0216, mwN). Mangels tragfähiger Feststellungen zu den für den Wegfall der Befristung des Zulassungsverfahrens vorgesehenen Voraussetzungen kann aber noch nicht abschließend beurteilt werden, ob die Zurückweisung des Asylantrages nach § 5 AsylG zu Recht erfolgt ist.

Der angefochtene Bescheid war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 9. September 2010

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