Normen
AsylG 1997 §5 idF 1999/I/004;
Dubliner Übk 1997;
MRK Art8 Abs1;
MRK Art8 Abs2;
AsylG 1997 §5 idF 1999/I/004;
Dubliner Übk 1997;
MRK Art8 Abs1;
MRK Art8 Abs2;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der (1970 geborene) Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, reiste am 1. Dezember 2001 in das Bundesgebiet ein und stellte am 15. Februar 2002 einen Asylantrag. Bei der Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesasylamt am 15. Februar 2002 wurde festgehalten, dass der Beschwerdeführer mit einem deutschen Schengenvisum legal nach Deutschland eingereist ist. Der Beschwerdeführer gab an, in Deutschland keinen Asylantrag gestellt zu haben. Am 1. Dezember 2001 sei er nach Österreich weitergereist und wohne hier bis jetzt bei seiner Schwester. Nach Deutschland habe ihn sein Bruder eingeladen. Bis zum 1. Dezember 2001 habe er bei seinen Eltern in Worms gelebt.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 6. März 2002 wurde der Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz als unzulässig zurückgewiesen. Zugleich wurde ausgesprochen, dass für die Prüfung des Asylantrages gemäß Art. 5 Abs. 2 des Übereinkommens über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrages, BGBl. III Nr. 165/1997 (Dubliner Übereinkommen - DÜ), Deutschland zuständig ist. Unter einem wurde der Beschwerdeführer aus dem Bundesgebiet nach Deutschland ausgewiesen. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer habe über ein deutsches Schengenvisum, ausgestellt am 14. November 2001 und gültig vom 23. November 2001 bis 22. Februar 2002, verfügt. Deutschland habe sich bereit erklärt, den Beschwerdeführer einreisen zu lassen und seinen Asylantrag zu prüfen.
In seiner Berufung gegen diesen Bescheid legte der Beschwerdeführer im Wesentlichen dar, er habe in Graz eine Schwester, zu der er intensiven (täglichen) Kontakt unterhalte und mit der er ein Familienleben führe. Ebenso engen Kontakt pflege er mit dem Ehegatten seiner Schwester. Außer der Schwester sei in Österreich ein (weiterer) Bruder des Beschwerdeführers wohnhaft.
Bei der mündlichen Berufungsverhandlung vor der belangten Behörde am 23. April 2002 führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, er habe sich in Deutschland zunächst eine Woche in Worms bei seinem (1975 geborenen) Bruder aufgehalten und sei sodann nach Graz zu seiner (1967 geborenen) Schwester gefahren. Er sei zwar in Begleitung seiner Eltern zu seinem Bruder nach Worms gefahren, seine Eltern seien aber wieder in die Türkei zurückgekehrt. Die Protokollierung vor dem Bundesasylamt, dass er bei seinen Eltern in Worms gelebt habe, sei unzutreffend und beruhe offenbar auf einem Missverständnis. Das Verhältnis des Beschwerdeführers zu seinem Bruder in Deutschland sei gut, zu seiner Schwester in Österreich habe er jedoch ein besseres Verhältnis. Diese kümmere sich mehr um ihn als sein Bruder. Sie sei die Ältere. Der Beschwerdeführer respektiere sie deshalb. Sie gebe ihm Unterkunft und unterstütze ihn auch moralisch. Bis zur Heirat der Schwester (1995 oder 1996) habe der Beschwerdeführer mit ihr im elterlichen Haushalt gelebt. Sein nunmehr in Deutschland lebender Bruder habe den gemeinsamen elterlichen Haushalt bereits 1988 verlassen. Der Vater habe ihn damals nach Deutschland mitgenommen. 1995 sei der Vater pensioniert worden und lebe nun nicht mehr ständig in Worms. Ab 1998 habe der Beschwerdeführer das Elternhaus gemeinsam mit seiner Schwester bewohnt, seine Mutter habe seinen Vater nach Deutschland begleitet. Der der mündlichen Berufungsverhandlung beigezogene Sachverständige erstattete in der Folge ein zu Protokoll genommenes Gutachten zu der Frage, welche der beiden familiären Beziehungen des Beschwerdeführers (zu seinem Bruder in Deutschland oder zu seiner Schwester in Österreich) nach kurdischer Tradition stärker wiege, und vertrat dabei u.a. die Auffassung, auf Grund der Verehelichung der älteren Schwester des Beschwerdeführers treffe dessen jüngeren Bruder die vorrangige familiäre Verantwortung für den Beschwerdeführer.
Mit dem in Beschwerde gezogenen Bescheid wurde die Berufung des Beschwerdeführers "gemäß § 5 Absätze 1 und 3 AsylG i.V.m. Art. 3 Abs. 4 DÜ i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK" abgewiesen. Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die grundsätzliche Zuständigkeit Deutschlands zur Prüfung des Asylantrages des Beschwerdeführers stehe nach Art. 5 Abs. 2 DÜ fest. Das Berufungsverfahren habe keinen Anlass geboten, in Abweichung von der festgestellten grundsätzlichen Zuständigkeit Deutschlands eine Zuständigkeit Österreichs zur Prüfung des Asylantrages, gestützt auf Art. 3 Abs. 4 DÜ, anzunehmen. Zwar liege "eine familiäre Bindung" des Beschwerdeführers im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK zu seiner in Österreich aufhältigen Schwester vor. Der Beschwerdeführer verfüge jedoch in Deutschland "über eine zumindest gleichwertige familiäre Bindung" zu seinem Bruder, deren (vorübergehende) Inanspruchnahme ihm "auch im speziell gegebenen Kontext zumutbar" sei. Durch die Entscheidung werde daher "nicht in das dem Berufungswerber durch Art. 8 Abs. 1 EMRK verbürgte Recht auf ein Familienleben eingegriffen".
Über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:
Die belangte Behörde hat die Abweisung der Berufung des Beschwerdeführers davon abhängig gemacht, dass nicht - entsprechend dem in der Berufung u.a. erstatteten Vorbringen - Art. 8 EMRK die Ausübung des in Art. 3 Abs. 4 DÜ verankerten Selbsteintrittsrechtes durch Österreich gebiete. Insoweit entspricht der angefochtene Bescheid der nunmehrigen, im Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23. Jänner 2003, Zl. 2000/01/0498, näher dargestellten Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtshofes.
Der Verwaltungsgerichtshof vermag der belangten Behörde aber nicht darin zu folgen, dass das Bestehen einer familiären Bindung des Beschwerdeführers zu seinem jüngeren Bruder in Deutschland - mit Rücksicht darauf, dass sie "zumindest gleichwertig" und ihre vorübergehende "Inanspruchnahme" dem Beschwerdeführer "zumutbar" sei - dazu führe, dass trotz der "familiären Bindung i.S.d. Art. 8 Abs. 1 EMRK" zu der in Österreich lebenden Schwester schon das Vorliegen eines Eingriffes in das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleistete Recht durch die mit der Zurückweisung des Asylantrages zu verbindende Ausweisung zu verneinen sei. Mit der Überlegung, dem Beschwerdeführer sei statt des Aufenthaltes bei der Schwester in Österreich ein solcher beim Bruder in Deutschland zumutbar, wird nicht schlüssig dargelegt, dass die Ausweisung keinen Eingriff in das - von der belangten Behörde offenbar nicht bezweifelte - Familienleben mit der Schwester bedeute. Es handelt sich vielmehr um ein mögliches Argument zur Begründung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung im Rahmen der - von der belangten Behörde auf Grund der Verneinung eines Eingriffes unterlassenen - Prüfung, ob der Eingriff gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt ist (vgl. dazu im Einzelnen das schon zitierte Erkenntnis vom 23. Jänner 2003; Wiederin in Korinek/Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Rz 89 ff zu Art. 8 EMRK).
Da die belangte Behörde dies verkannt hat und auch das in der Gegenschrift (lediglich) vorgebrachte Argument, der Verwaltungsgerichtshof sei nicht zuständig, zu prüfen, ob bei der Anwendung des § 5 AsylG auf Art. 8 EMRK ausreichend Bedacht genommen wurde, schon nach dem zitierten Erkenntnis eines verstärkten Senates nicht zutrifft, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 17. Dezember 2003
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