VwGH 2001/01/0601

VwGH2001/01/060125.3.2003

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kremla und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Pelant, Dr. Köller und Dr. Thoma als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Nichtowitz, über die Beschwerde des U in B, vertreten durch Dr. Gottfried Waibel, Rechtsanwalt in 6850 Dornbirn, Schulgasse 7, gegen den Bescheid der Vorarlberger Landesregierung vom 27. November 2001, Zl. Ia 370-251/2001, betreffend Verleihung der Staatsbürgerschaft, zu Recht erkannt:

Normen

B-VG Art130 Abs2;
MRK Art8 Abs2;
StbG 1985 §10 Abs1 Z6 idF 1998/I/124;
StbG 1985 §11 idF 1998/I/124;
B-VG Art130 Abs2;
MRK Art8 Abs2;
StbG 1985 §10 Abs1 Z6 idF 1998/I/124;
StbG 1985 §11 idF 1998/I/124;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Vorarlberg hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1089,68 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die Vorarlberger Landesregierung (die belangte Behörde) den Antrag des Beschwerdeführers auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß §§ 10, 11, 11a, 12, 13 und 14 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG) ab.

Der Beschwerdeführer, am 23. September 1981 in der Türkei geboren und türkischer Staatsangehöriger, habe seit 5. Jänner 1988 ununterbrochen seinen Hauptwohnsitz in Österreich. Er habe in der Türkei die Volksschule und von 1993 bis 1997 in N die Sporthauptschule besucht. Seit 29. August 2001 sei er als Bauhelfer bei der Firma P. in F beschäftigt. Am 11. Mai 1995 sei er vom Gendarmerieposten N zur Anzeige gebracht worden, weil

"er am Abend des 03.04.1995 in einer Umkleidekabine der Turnhalle in N ein Geldtasche mit Bargeld stahl. Am selben Abend stahl er aus der Umkleidekabine der Volksschule in N wiederum eine Geldtasche mit Bargeld. Weiters stahl er aus der Garderobe der Volksschule N eine Schachtel Zigaretten. In der gleichen Nacht stahl der Beschwerdeführer eine Geldtasche, welche jedoch mit dem gesamten Inhalt wieder aufgefunden wurde. Am 04.04.1995 schlich sich der Beschwerdeführer wiederum in die Umkleidekabine der Volksschule und stahl dort eine Sporttasche in der sich eine Geldtasche befand. Am 04.04.1995 stahl er eine Handtasche mit Bargeld. Am 09.04.1995 brach der Beschwerdeführer in N in eine Ferienhütte ein. In der Hütte zerschlug er sämtliches Geschirr, riss ein Geschirrbord von der Wand, schlug die Verglasung der Eingangstüre und das Fenster ein und machte gelagerte Konserven unbrauchbar. Er beschädigte weiters eine in der Hütte gelagerte Motorsäge. In weiterer Folge leerte er auf dem Hüttenboden Benzin aus und zündete diesen an. Nur durch einen glücklichen Umstand entstand kein Brand. Am selben Abend trat der Beschwerdeführer auf dem eingezäunten Gelände einer Fischzucht mit Körperkraft die Eingangstüre zur Hütte ein. Er stahl aus einer Tischschublade zwei Vorhängeschlösser. Der Beschwerdeführer war geständig, die angeführten strafbaren Handlungen begangen zu haben."

Am 10. September 1995 sei der Beschwerdeführer zur Anzeige gebracht worden, weil er

"mit seinem Nachbarn in Streit geriet, wobei die Auseinandersetzung in Tätlichkeiten gipfelte. Der Beschwerdeführer trat gegen den am Boden liegenden Nachbarn, wodurch dieser Prellungen im Brustbereich erlitt. Im Zuge der Auseinandersetzungen erlitt der Beschwerdeführer ebenfalls Verletzungen am Körper."

Von der Bezirkshauptmannschaft sei der Beschwerdeführer wie folgt rechtskräftig bestraft worden:

"mit Bescheid vom 11.12.2000, Zl. ..., wegen einer Übertretung nach § 18 Abs. 1 StVO mit einer Geldstrafe von S 2.500,--, weil er als Lenker eines PKWs am 11.12.2000 um 19.03 Uhr bis auf ca. einen Meter auf das vor ihm fahrende Fahrzeug auffuhr;

mit Bescheid vom 11.12.2000, Zl. ..., wegen einer Übertretung nach § 22 Abs. 1 StVO mit einer Geldstrafe von S 1.000,--, weil er am 11.12.2000 optische und akustische Warnzeichen verwendete, obwohl es die Verkehrssicherheit nicht erforderte;

mit Bescheid vom 11.12.2000, Zl. ..., wegen einer Übertretung nach § 20 Abs. 1 StVO in Verbindung mit § 52 lit. a Z 10a StVO mit einer Geldstrafe von S 1.400,--, weil er am 11.12.2000 mit dem von ihm gelenkten PKW die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h überschritten hatte;

mit Bescheid vom 11.12.2000, Zl. ..., wegen einer Übertretung nach § 18 Abs. 1 StVO mit einer Geldstrafe von S 1.500,--, weil er als Lenker eines PKWs am 11.12.2000 bis auf ca. eine Fahrzeuglänge auf das vor ihm fahrende Fahrzeug auffuhr;

mit Bescheid vom 11.12.2000, Zl. ..., wegen einer Übertretung nach § 42 Abs. 1 KFG mit einer Geldstrafe von S 1.000,--, weil er die Änderung seines Wohnsitzes nicht rechtzeitig der Behörde bekannt gegeben hatte;

mit Bescheid vom 02.02.2001, Zl. ..., wegen einer Übertretung nach § 7 Abs. 1 lit. a Parkabgabegesetz mit einer Geldstrafe von S 350,--;

mit Bescheid vom 02.03.2001, Zl. ..., wegen einer Übertretung nach § 102 Abs. 5 lit. b KFG mit einer Geldstrafe von S 300,--, weil er am 02.03.2001 einen PKW lenkte und dabei den Zulassungsschein nicht mitführte;

mit Bescheid vom 02.03.2001, Zl. ..., wegen einer Übertretung nach § 99 Abs. 5 KFG mit einer Geldstrafe von S 400,--, weil er am 02.03.2001 einen PKW lenkte und dabei die Nebelscheinwerfer verwendete, obwohl keine Sichtbehinderung vorlag und es sich bei der befahrenen Straße um keine enge oder kurvenreiche Straße gehandelt hatte."

Der vorstehende Sachverhalt sei unbestritten. Der Beschwerdeführer sei, wie festgestellt, vom Gendarmerieposten N wegen einer großen Zahl gerichtlich strafbarer Handlungen, die er als Strafunmündiger im Jahre 1995 begangen habe, zur Anzeige gebracht worden. Auch wenn nach den Bestimmungen des "Jugendgerichtsgesetzes" Unmündige nicht strafbar seien, so zeige doch die Lebenserfahrung, dass es zumindest den älteren Kindern sehr wohl bewusst sei, dass gewisse Handlungen, wie etwa das Stehlen oder das Zerstören fremder Gegenstände, nicht erlaubt seien. Nach Auffassung der belangten Behörde seien daher auch jene strafrechtlich verpönten Verhaltensweisen, die der Beschwerdeführer als Strafunmündiger gesetzt habe, für die Erstellung der Zukunftsprognose von Bedeutung, weil er bis kurz vor Erreichen der Strafmündigkeit immer wieder gerichtlich strafbare Handlungen gesetzt habe. Mit Bescheid vom 24. Jänner 2000 sei ein Antrag auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft auf Grund dieser Sachverhalte abgelehnt worden. Trotz dieses Umstandes habe der Beschwerdeführer im Dezember 2000 und im Frühjahr 2001 insgesamt acht Verwaltungsübertretungen begangen, ein Teil der Taten (zB Geschwindigkeitsübertretung, Nichteinhalten des Sicherheitsabstandes etc.) müssten als schwer wiegende Übertretungen gegen die körperliche Unversehrtheit Dritter gewertet werden. Die in jüngster Vergangenheit begangenen Verwaltungsübertretungen im Zusammenhang mit den einige Zeit zurückliegenden gerichtlich strafbaren Handlungen ließen den Schluss zu, dass der Beschwerdeführer möglicherweise auch in Zukunft wesentliche Vorschriften missachten werde, die zur Abwehr und Unterdrückung von Gefahren für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit bzw. für die anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen erlassen worden seien. Der Beschwerdeführer erfülle daher die Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG nicht. Eine Verleihung der Staatsbürgerschaft würde, wie im Folgenden dargelegt, auch dann nicht in Frage kommen, wenn ein Ausschluss nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG nicht gegeben wäre. Gemäß § 11 StbG habe die Behörde unter Bedachtnahme auf das Gesamtverhalten des Fremden bei der Ausübung des ihr im § 10 StbG eingeräumten freien Ermessens von Rücksichten auf das allgemeine Wohl, die öffentlichen Interessen und das Ausmaß der Integration des Fremden leiten zu lassen. Der Beschwerdeführer halte sich seit Jänner 1988 in Österreich auf. Er habe hier die Hauptschule besucht und sei seit diesem Zeitpunkt bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt gewesen. Diesem fast 13-jährigen Aufenthalt und der damit gegebenen Integration stehe gegenüber, dass der Beschwerdeführer strafrechtlich verpönte Verhaltensweisen (Diebstahl, Brandstiftung, Sachbeschädigung), deren Unrechtsgehalt nach Auffassung der Behörde auch einem älteren Kind habe bewusst sein müssen, gesetzt habe. Hiezu kämen noch die im Zeitraum von Dezember 2000 bis März 2001 begangenen acht Verwaltungsübertretungen. Die belangte Behörde gelange nach Abwägung der aufgezeigten Gesichtspunkte zur Auffassung, dass eine Ermessensübung im Sinn des § 11 StbG nicht zu Gunsten des Beschwerdeführers erfolgen könne. Eine Verleihung der Staatsbürgerschaft nach § 10 StbG würde somit ausscheiden. Da keine der Voraussetzungen nach §§ 11a, 12, 13 und 14 StbG gegeben sei, würde auch eine Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft auf Grund dieser Tatbestände ausscheiden.

Über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:

Die belangte Behörde sah die Versagung der Staatsbürgerschaft einerseits im Mangel der Verleihungsvoraussetzung nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG, andererseits - wenn "ein Ausschluss nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG nicht gegeben wäre" - nach § 11 StbG begründet.

Die Beschwerde wendet sich vorerst gegen die Beurteilung der belangten Behörde im Grunde des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG: Der Beschwerdeführer sei bei den Vorfällen im Jahr 1995, die mehr als sechs Jahre zurücklägen, unmündig gewesen. Bei den zu Grunde gelegten Verwaltungsübertretungen sei zu berücksichtigen, dass es sich insgesamt nur um drei Vorfälle gehandelt habe.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Prüfung der Verleihungsvoraussetzung nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG vom Gesamtverhalten des Einbürgerungswerbers, welches wesentlich (auch) durch das sich aus der Art, Schwere und Häufigkeit der von ihm begangenen Straftaten ergebende Charakterbild bestimmt wird, auszugehen. Hiebei stellt der Gesetzgeber - anders als nach § 10 Abs. 1 Z 2 StbG - nicht auf formelle Gesichtspunkte ab, sondern es ist lediglich maßgebend, ob es sich um Rechtsbrüche handelt, die den Schluss rechtsfertigen, der Betreffende werde auch in Zukunft wesentliche, zum Schutz vor Gefahren für das Leben, die Gesundheit, die Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung - oder andere im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannte Rechtsgüter - erlassene Vorschriften missachten. In der Art, der Schwere und der Häufigkeit solcher Verstöße kommt die - allenfalls negative - Einstellung des Betreffenden gegenüber den zur Hintanhaltung solcher Gefahren erlassenen Gesetzen deutlich zum Ausdruck (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 17. September 2002, Zl. 2001/01/0032, mwN).

Soweit die belangte Behörde für ihre Prognose nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG auf Taten des - damals strafunmündigen - Beschwerdeführers aus dem Jahre 1995 zurückgreift, weil zumindest den "älteren Kindern" sehr wohl bewusst sei, dass gewisse Handlungen, wie etwa das Stehlen oder das Zerstören fremder Gegenstände nicht erlaubt seien, unterstellte sie dem Beschwerdeführer jene strafrechtliche Einsichtsfähigkeit, von der der Gesetzgeber bei Strafunmündigen gerade nicht ausgeht. Aus der Begehung dieser Taten durfte die belangte Behörde daher nicht darauf schließen, dass auch unter Bedachtnahme auf den seit der Begehung dieser Taten verstrichenen Zeitraum der Beschwerdeführer keine Gewähr im Sinn des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG biete.

Ebenso wenig vermögen die von der belangten Behörde festgestellten Verwaltungsübertretungen eine Prognose im Sinn des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG zu tragen, weil die von der belangten Behörde getroffenen Feststellungen - die Nichteinhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstandes, die nicht ordnungsgemäße Abgabe von optischen und akustischen Warnzeichen und eine Überschreitung der höchstzulässigen Geschwindigkeit - nichts über die Schwere dieser Verstöße im Hinblick auf die konkrete Verkehrssituation aussagen. Ebenso wenig rechtfertigt die Unterlassung der Bekanntgabe der Wohnsitzänderung, eine Übertretung des Parkabgabegesetzes, das mangelnde Mitführen des Zulassungsscheines und die ungerechtfertigte Verwendung von Nebelscheinwerfern eine zu Lasten des Beschwerdeführers ausfallende Prognose nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG, weil aus der Art und der Schwere dieser - jeweils einmaligen - Verstöße noch nicht auf eine negative Einstellung des Beschwerdeführers gegenüber den zur Hintanhaltung von Gefahren erlassenen Gesetzen in deutlichem Maße zum Ausdruck kommt.

Damit erweist sich die Beurteilung der belangten Behörde im Grund des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG als rechtswidrig.

Jedoch vermag auch die Ermessensübung der belangten Behörde im Grund des § 11 StbG einer näheren Überprüfung nicht Stand zuhalten. Die belangte Behörde legte hiebei zu Grunde, dass sich der Beschwerdeführer seit Jänner 1988 in Österreich aufhalte. Er habe hier die Hauptschule besucht und sei seit diesem Zeitpunkt bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt gewesen. Diesem fast 13- jährigen Aufenthalt und der damit gegebenen Integration stünden "strafrechtlich verpönte Verhaltensweisen", deren Unrechtsgehalt auch einem ältern Kind hätten bewusst sein müssen, sowie acht Verwaltungsübertretungen gegenüber. Soweit die belangte Behörde bei der Abwägung der Gesichtspunkt davon ausging, die Integration des Beschwerdeführers setze erst mit dem Besuch der Hauptschule in Österreich an, steht dies im Gegensatz zum Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten, ohne dass die belangte Behörde ihre entgegenstehende Annahme näher begründet hätte. Der Beschwerdeführer führte in seinem Lebenslauf, dessen Richtigkeit die belangte Behörde nicht in Zweifel zieht, aus, er sei 1987 nach Österreich gekommen und habe vorerst hier den Kindergarten besucht. Anschließend habe er vier Jahre lang die Volkschule und vier Jahre lang die Hauptschule in Nenzing besucht. Somit ist der Ermessensübung der belangten Behörde schon durch die - aktenwidrige - Annahme einer erst mit dem Besuch der Hauptschule beginnenden Integration des Beschwerdeführers der Boden entzogen. Darüber hinaus ist in der Abweisung des Antrages mit dem Hinweis, ein "älteres Kind" könne - ungeachtet der Strafunmündigkeit - den Unrechtsgehalt seiner "strafrechtlich verpönten Verhaltensweisen" erkennen, im vorliegenden Fall auch bei Bedachtnahme auf die späteren Verwaltungsübertretungen des Beschwerdeführers keine im Sinne des Gesetzes gelegene Ermessensübung zu sehen.

Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid im Hinblick auf die prävalierende Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001. Die im Betrag von

S 2.500,-- angefallene Gebühr nach § 24 Abs. 3 VwGG war im Betrag von EUR 181,68 zuzusprechen.

Wien, am 25. März 2003

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