Normen
B-VG Art139 Abs1 / Präjudizialität
Stmk AbfallwirtschaftsG 2004 §11
Stmk GdO 1967 §11 Abs2, §92 Abs1
AbfuhrO 2014 der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling vom 16.12.2014 §22
ÜberleitungsV des Regierungskommissärs der Marktgemeinde Scheifling vom 02.01.2015 Punkt II. Z5
B-VG Art139 Abs1 / Präjudizialität
Stmk AbfallwirtschaftsG 2004 §11
Stmk GdO 1967 §11 Abs2, §92 Abs1
AbfuhrO 2014 der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling vom 16.12.2014 §22
ÜberleitungsV des Regierungskommissärs der Marktgemeinde Scheifling vom 02.01.2015 Punkt II. Z5
Spruch:
I. 1. §22 erster Satz der Abfuhrordnung 2014 der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling, Beschluss des Gemeinderates vom 16. Dezember 2014, kundgemacht durch Anschlag der Auflegung zur öffentlichen Einsicht an der Amtstafel der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling vom 17. Dezember 2014 bis 31. Dezember 2014, war gesetzwidrig.
2. Die Steiermärkische Landesregierung ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruchs im Landesgesetzblatt für die Steiermark verpflichtet.
II. Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B‑VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Steiermark, §22 erster Satz der Abfuhrordnung 2014 der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling, Beschluss des Gemeinderates vom 16. Dezember 2014, kundgemacht durch Anschlag der Auflegung zur öffentlichen Einsicht an der Amtstafel der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling vom 17. Dezember 2014 bis 31. Dezember 2014 (in der Folge: Abfuhrordnung 2014), sowie Punkt II. Z6 der Überleitungsverordnung des Regierungskommissärs der Marktgemeinde Scheifling, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel der Marktgemeinde Scheifling vom 2. Jänner 2015 bis 19. Jänner 2015 (in der Folge: Überleitungsverordnung), als gesetzwidrig aufzuheben.
II. Rechtslage
Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar (die angefochtenen Verordnungsbestimmungen sind hervorgehoben):
1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Steiermärkischen Abfallwirtschaftsgesetzes 2004 (Stmk. Abfallwirtschaftsgesetz), LGBl 65, lauten:
"§11
Abfuhrordnung
Die Gemeinde hat auf der Grundlage des regionalen Abfallwirtschaftsplanes gemäß §15 über die Besorgung der öffentlichen Abfuhr eine Abfuhrordnung zu erlassen. Die Abfuhrordnung hat jedenfalls zu enthalten:
1. den Abfuhrbereich gemäß §7 Abs2 und die öffentlichen Sammelstellen gemäß §7 Abs3,
2. die Art und Häufigkeit der öffentlichen Abfuhr, bezogen auf alle Siedlungsabfälle,
3. die Art und Häufigkeit der Problemstoffsammlung nach den bundesrechtlichen Bestimmungen sowie die Zeiten der Benützbarkeit der sonstigen öffentlichen Sammelstellen (z. B. Altstoffsammelzentrum),
4. die Art der zu verwendenden Abfallsammelbehälter oder Abfallsammelsäcke unter Angabe der Grundsätze zur Bemessung der Größe und Anzahl,
5. die Art der Gebühren und Kostenersätze gemäß §13,
6. die Grundzüge der Gebührengestaltung, bezogen auf die einzelnen Abfallfraktionen sowie Dienstleistungen und
7. die in Übereinstimmung mit dem regionalen Abfallwirtschaftsplan in Anspruch genommenen Behandlungsanlagen zur Verwertung und Beseitigung der Siedlungsabfälle gemäß §4 Abs4.
[…]
§13
Gebühren und Kostenersätze
(1) Die Gemeinden werden ermächtigt, für die Benützung der Einrichtungen und Anlagen der Abfuhr und der Behandlung der Siedlungsabfälle Gebühren einzuheben, wobei sich diese an den Zielen und Grundsätzen dieses Gesetzes zu orientieren haben.
(2) Die Verpflichtung zur Entrichtung der Gebühren entsteht mit dem Zeitpunkt, an dem die Abfallsammelbehälter beigestellt werden.
(3) Zur Entrichtung der Gebühr sind die anschlusspflichtigen Liegenschaftseigentümer/innen verpflichtet. Miteigentümer/innen schulden die Gebühr zur ungeteilten Hand. Die für die Liegenschaftseigentümer/innen geltenden Bestimmungen finden sinngemäß auch auf Personen Anwendung, die zur Nutzung des Grundstückes berechtigt sind oder es verwalten. Bei Bauwerken auf fremdem Grund gelten die Bestimmungen dieses Gesetzes auch für die Bauwerkseigentümer/innen.
(4) Die Höhe der Gebühr ist nach beigestelltem Behältervolumen und der Anzahl der Entleerungen oder gewichtsbezogen zu berechnen (variable Gebühr), wobei in der Abfuhrordnung eine jedenfalls zu entrichtende Grundgebühr festzulegen ist. Für zusätzliche Leistungen bei der Abholung des Siedlungsabfalls kann ein gesonderter Kostenersatz verrechnet werden.
(5) Die Benützungsgebühr kann bis zu einem Ausmaß festgelegt werden, bei dem der voraussichtliche Jahresertrag der Gebühr das doppelte Jahreserfordernis für Betrieb und Erhaltung der Einrichtungen und Anlagen gemäß Abs1 nicht übersteigt. Zu diesen Erfordernissen zählen insbesondere nachvollziehbare Maßnahmen zur Abfallvermeidung, Maßnahmen zur Erhaltung und Maßnahmen zum Betrieb der Abfuhr und Behandlung (Verwertung und Beseitigung), der Betrieb von Altstoffsammelzentren und Problemstoffsammelstellen, Maßnahmen für eine nachhaltige Abfall- und Umweltberatung, Maßnahmen und Projekte zur Förderung einer nachhaltigen Abfall- und Stoffflusswirtschaft, Schuldendienstleistungen für aufgenommene sachbezogene Darlehen, anteilige Personal- und Verwaltungskosten der Gemeinde und des Abfallwirtschaftsverbandes sowie die Bildung von Instandhaltungs-, Erneuerungs- und allfälligen Erweiterungsrücklagen.
(6) Die Gebühren- und Kostenersätze sind nach der Abfuhrordnung von der Gemeinde vorzuschreiben."
2. Die maßgeblichen Bestimmungen der Steiermärkischen Gemeindeordnung 1967 (Stmk. GemO 1967), LGBl 115 idF LGBl 131/2014, lauten:
"§8
Vereinigung
(1) Zwei oder mehrere angrenzende Gemeinden können sich auf Grund übereinstimmender Gemeinderatsbeschlüsse mit Genehmigung der Landesregierung zu einer neuen Gemeinde vereinigen.
(2) Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die Voraussetzungen nach §6 Abs2 vorliegen. Die genehmigte Vereinigung ist im Landesgesetzblatt zu verlautbaren; die Genehmigung der Landesregierung ist auch für den Fall erforderlich, wenn zwischen Verlautbarung und Rechtswirksamkeit der Vereinigung eine Auf-hebung oder Abänderung der beschlossenen Maßnahme durch Gemeinderatsbeschluss oder eine dem Gemeinderatsbeschluss gleichzuhaltende Entscheidung erfolgt.
(3) Zur Vereinigung von zwei oder mehreren angrenzenden Gemeinden gegen den Willen einer beteiligten Gemeinde ist ein Gesetz erforderlich.
(4) Die Vereinigung hat den vollständigen Übergang der Rechte und Pflichten der betroffenen Gemeinden auf die neue Gemeinde zur Folge.
(5) Im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Vereinigung in den bisherigen Gemeinden anhängige Verwaltungsverfahren sind zunächst vom gemäß §11 Abs1 eingesetzten Regierungskommissär und ab Angelobung des Bürgermeisters der neu geschaffenen Gemeinde von den ab diesem Zeitpunkt zuständigen Gemeindebehörden weiterzuführen.
[…]
§11
Gemeinsame Bestimmungen
(1) Für die gemäß §§8, 9 und 10 Abs1 neu geschaffenen Gemeinden hat die Landesregierung binnen sechs Monaten nach den Bestimmungen der Gemeindewahlordnung Neuwahlen des Gemeinderates auszuschreiben. Bis zur Angelobung des neugewählten Bürgermeisters führt ein von der Landesregierung nach §103 einzusetzender Regierungskommissär die laufenden und unaufschiebbaren Geschäfte. Zu seiner Beratung ist von der Aufsichtsbehörde über Vorschlag der beteiligten Gemeinden ein Beirat zu bestellen; jeder beteiligten Gemeinde steht das Vorschlagsrecht für ein Beiratsmitglied zu. Bei den übrigen Gebietsänderungen kann die Landesregierung den Gemeinderat auflösen und binnen sechs Monaten Neuwahlen ausschreiben, wenn die Gebietsänderung eine Änderung der Einwohnerzahl zur Folge hat, durch die eine Änderung der Anzahl der Gemeinderäte (§15 Abs1) bewirkt wird, oder wenn der durch die Änderung verursachte Zu- oder Abgang an Einwohnern die bisher auf ein Gemeinderatsmandat entfallende Anzahl von Einwohnern erreicht. Bis zur Angelobung der neugewählten Gemeinderatsmitglieder und des neugewählten Bürgermeisters führen die bisherigen Gemeindeorgane die Geschäfte der Gemeinde weiter.
(2) Zu den unaufschiebbaren Geschäften des nach Abs1 eingesetzten Regierungskommissärs zählt auch die Erlassung von Verordnungen, um einen Schaden von der Gemeinde abzuwenden; demnach ist der Regierungskommissär ermächtigt, durch Verordnung anzuordnen, dass die im eigenen Wirkungsbereich erlassenen Verordnungen von Gemeinden, die auf Grund von Gebietsänderungen gemäß §§8 oder 10 Abs2 nicht mehr bestehen, auch in der neu geschaffenen Gemeinde – allenfalls für ihren bisherigen örtlichen Geltungsbereich – gelten; dabei sind die nach den jeweiligen Verwaltungsvorschriften maßgebenden Verfahrensbestimmungen nicht anzuwenden. Solche Verordnungen können rückwirkend, frühestens mit dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Gebietsänderung, in Kraft gesetzt werden.
(3) Die Neufestsetzung von Benützungsgebühren hat der Verordnungsgeber der gemäß den §§8, 9 und 10 Abs1 neu geschaffenen Gemeinde unter Bedachtnahme auf §71 Abs2 und unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Gemeindemitglieder so durchzuführen, dass diese tunlichst zu keiner außergewöhnlichen Erhöhung gegenüber der bisher von der ursprünglichen Gemeinde den Gemeindemitgliedern vorgeschriebenen Geldleistung führt. Von einer außergewöhnlichen Erhöhung ist jedenfalls dann auszugehen, wenn die einzelne Gebühr um mehr als 20 % von der bisherigen Vorschreibung nach oben hin abweicht. In solchen Fällen besteht für den Verordnungsgeber die Möglichkeit, die erforderliche Anpassung auf längstens sieben Jahre zu erstrecken. Diese Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem die Gebietsänderung wirksam wird.
[…]
Fünftes Hauptstück
Verwaltungsakte und Verwaltungsverfahren
§92
Verordnungen der Gemeinde
(1) Verordnungen der Gemeinde, die – wenn nicht anderes bestimmt wird – für das gesamte Gemeindegebiet gelten, bedürfen zu ihrer Rechtswirksamkeit der öffentlichen Kundmachung. Die Kundmachung ist vom Bürgermeister binnen zwei Wochen nach der Beschlussfassung durch Anschlag an der Amtstafel durchzuführen. Die Kundmachungsfrist beträgt zwei Wochen. Der Tag des Anschlages und der Abnahme der Kundmachung sind auf dieser zu vermerken. Die Rechtswirksamkeit solcher Verordnungen beginnt, sofern nicht anderes bestimmt wird, mit dem auf den Ablauf der Kundmachungsfrist folgenden Tag. Eine rückwirkende Inkraftsetzung einer Verordnung ist nur zulässig, wenn dies durch Gesetz ausdrücklich vorgesehen ist. Bei Gefahr im Verzug kann in der Verordnung bestimmt werden, dass sie mit der Kundmachung rechtswirksam wird. Verordnungen, die zu ihrer Rechtswirksamkeit der vorherigen Genehmigung durch die Aufsichtsbehörde bedürfen, sind, sofern gesetzlich nicht anderes bestimmt wird, innerhalb von zwei Wochen ab Zustellung des Genehmigungsbescheides durch Anschlag an der Amtstafel kundzumachen.
(2) Verordnungen, deren Umfang oder Art den Anschlag an der Amtstafel nicht zuläßt, sind im Gemeindeamt zur öffentlichen Einsicht während der Amtsstunden innerhalb der Kundmachungsfrist aufzulegen. Die Auflegung ist nach Abs1 kundzumachen."
3. §22 der Abfuhrordnung 2014 der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling, Beschluss des Gemeinderates vom 16. Dezember 2014, kundgemacht durch Anschlag der Auflegung zur öffentlichen Einsicht an der Amtstafel der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling vom 17. Dezember 2014 bis 31. Dezember 2014, lautet:
"§22
Inkrafttreten
Die Abfuhrordnung der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling tritt am 30. Dezember 2014 in Kraft. Gleichzeitig tritt die Müllabfuhrordnung 2008 in der letztgültigen Fassung des Gemeinderatsbeschlusses vom 24. April 2008, außer Kraft."
4. Die Überleitungsverordnung des Regierungskommissärs der Marktgemeinde Scheifling, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel der Marktgemeinde Scheifling vom 2. Jänner 2015 bis 19. Jänner 2015, lautet auszugsweise:
"Überleitung der in den ursprünglichen Gemeinden Scheifling und St. Lorenzen bei Scheifling im eigenen Wirkungsbereich erlassenen Verordnung in die neue Marktgemeinde Scheifling
VERORDNUNG
Aufgrund des §11 Abs2 Stmk. Gemeindeordnung 1967, LGBl Nr 115, wird angeordnet, dass die folgenden Verordnungen für die bis zum Ablauf des 31.12.2014 bestehenden örtlichen Geltungsbereiche weiter gelten:
I. Ursprüngliche Marktgemeinde Scheifling [GRB = Gemeinderatsbeschluss]:
[…]
4. Kanalabgabenordnung GRB vom 13.11.2014
5. Wassergebührenverordnung GRB vom 13.11.2014
6. Abfallabfuhrordnung GRB vom 13.11.2014
[…]
II. Ursprüngliche Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling [GRB = Gemeinderatsbeschluss]:
[…]
4. Kanalabgabenordnung GRB vom 16.12.2014
5. Wassergebührenverordnung GRB vom 16.12.2014
6. Abfallabfuhrordnung GRB vom 16.12.2014
[…]
Diese Verordnung tritt am 01.01.2015 in Kraft."
III. Antragsvorbringen und Vorverfahren
1. Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
1.1. Der Gemeinderat der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling hat am 16. Dezember 2014 die Abfuhrordnung 2014 beschlossen. Die Beschlussfassung wurde durch Anschlag an der Amtstafel der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling vom 17. Dezember 2014 bis 31. Dezember 2014 kundgemacht; die Verordnung lag in diesem Zeitraum im Gemeindeamt St. Lorenzen bei Scheifling zur öffentlichen Einsichtnahme während der Amtsstunden auf. §22 erster Satz der Abfuhrordnung 2014 ordnet an, dass die Verordnung am 30. Dezember 2014 in Kraft tritt.
1.2. Im Zuge der Gemeindestrukturreform im Land Steiermark kamen die Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling und die Gemeinde Scheifling überein, sich zu einer Gemeinde zusammenzuschließen. Der Antrag auf Vereinigung gemäß §6 Abs2 iVm §8 Abs1 Stmk. GemO 1967 wurde von der Steiermärkischen Landesregierung mit Wirksamkeit vom 1. Jänner 2015 genehmigt und im LGBl 41/2014 kundgemacht. Von der Steiermärkischen Landesregierung wurde in der Folge ein Regierungskommissär bestellt und – ab dem 1. Jänner 2015 und bis zur Konstituierung eines Gemeinderates – mit der Führung der laufenden Amtsgeschäfte der neuen Marktgemeinde Scheifling betraut. Mit Verordnung vom 2. Jänner 2015 ordnete der Regierungskommissär die Überleitung von näher bezeichneten, in den ursprünglichen Gemeinden Scheifling und St. Lorenzen bei Scheifling im eigenen Wirkungsbereich erlassenen Verordnungen in die neue Marktgemeinde Scheifling an (Überleitungsverordnung); mit Punkt II. Z6 der Überleitungsverordnung wurde die Weitergeltung der Abfallabfuhrordnung der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling idF des Gemeinderatsbeschlusses vom 16. Dezember 2014 (Abfuhrordnung 2014) für den bis zum Ablauf des 31. Dezember 2014 bestehenden örtlichen Geltungsbereich angeordnet. Die Überleitungsverordnung wurde durch Anschlag an der Amtstafel der Marktgemeinde Scheifling vom 2. Jänner 2015 bis 19. Jänner 2015 kundgemacht.
1.3. Mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid des Gemeinderates der Marktgemeinde Scheifling vom 17. Februar 2016 wurden dem Beschwerdeführer vor dem Landesverwaltungsgericht Steiermark Abfallgebühren für das Jahr 2015 in bestimmter Höhe vorgeschrieben. Der Gemeinderat stützte seine Entscheidung auf die Abfuhrordnung 2014 der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling vom 16. Dezember 2014 sowie auf die Überleitungsverordnung des Regierungskommissärs vom 2. Jänner 2015. Bei der Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde sind beim Landesverwaltungsgericht Steiermark Bedenken ob der Gesetzmäßigkeit der angefochtenen Verordnungsbestimmungen entstanden.
2. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark legt die Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, wie folgt dar:
2.1. Nach §92 Abs1 Stmk. GemO 1967 beginne die Rechtswirksamkeit von Verordnungen – sofern nicht anderes bestimmt werde – mit dem auf den Ablauf der Kundmachungsfrist folgenden Tag. Der Verfassungsgerichtshof habe in seinem Erkenntnis VfSlg 15.675/1999 ausgesprochen, dass die Anordnung des rückwirkenden Inkrafttretens einer Abgabenordnung nur zulässig sei, wenn dazu das Gesetz ausdrücklich ermächtige. Das Stmk. Abfallwirtschaftsgesetz enthalte jedoch keine Sonderbestimmungen über das Inkrafttreten von Abfuhrordnungen. Die mit Gemeinderatsbeschluss vom 16. Dezember 2014 beschlossene Abfuhrordnung der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling sei von 17. Dezember 2014 bis 31. Dezember 2014 kundgemacht worden und wäre am 1. Jänner 2015 in Kraft getreten. §22 erster Satz der Abfuhrordnung 2014 ordne ein (rückwirkendes) Inkrafttreten der Verordnung am 30. Dezember 2014 (und damit vor Ablauf der gesetzlichen Kundmachungsfrist am 31. Dezember 2014) an und widerspreche insoweit §92 Abs1 Stmk. GemO 1967.
2.2. Die Abfuhrordnung 2014 der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling habe am 1. Jänner 2015 nicht in Kraft treten können, "weil es aufgrund der Gemeindefusion keinen örtlichen Geltungsbereich mehr gegeben" habe. Gemäß §11 Abs2 Stmk. GemO 1967 sei der Regierungskommissär nur ermächtigt, Verordnungen überzuleiten, die bereits in der "Altgemeinde" gegolten hätten. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut der Bestimmung, nach dem eine Überleitungsverordnung "auch in der neu geschaffenen Gemeinde – allenfalls für ihren bisherigen örtlichen Geltungsbereich – gelten" solle. Da die Abfuhrordnung 2014 in der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling nie in Kraft getreten sei und daher in der "Altgemeinde" nie gegolten habe, sei der Regierungskommissär nicht zur Überleitung berechtigt gewesen. Punkt II. Z6 der Überleitungsverordnung des Regierungskommissärs der Marktgemeinde Scheifling widerspreche insoweit §11 Abs2 Stmk. GemO 1967 und sei daher gesetzwidrig.
3. Der Gemeinderat der Marktgemeinde Scheifling hat die Akten betreffend das Zustandekommen der angefochtenen Verordnungen vorgelegt.
4. Die Steiermärkische Landesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie zum einen die Zurückweisung des Antrages begehrt und zum anderen den im Antrag erhobenen Bedenken mit näherer Begründung entgegentritt (vgl. VfGH 12.12.2016, V57-58/2016).
IV. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Antrages
1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B‑VG bzw. des Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl. etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).
Die Steiermärkische Landesregierung zieht in ihrer Äußerung die Präjudizialität des §22 erster Satz der Abfuhrordnung 2014 mit der Begründung in Zweifel, dass die Bestimmung bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Vorschreibung der Abfallgebühren für das Jahr 2015 nicht anzuwenden sei. Diesem Vorbringen kann jedoch nicht gefolgt werden:
Der erstinstanzliche Bescheid des Bürgermeisters (und daran anknüpfend die Berufungsentscheidung des Gemeinderates) der Marktgemeinde Scheifling stützte sich ausdrücklich auf die – mit Verordnung des Regierungskommissärs vom 2. Jänner 2015 mit Wirksamkeit vom 1. Jänner 2015 in die neu gebildete Marktgemeinde Scheifling übergeleitete – Abfuhrordnung 2014 der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling vom 16. Dezember 2014. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark geht hiebei zutreffend davon aus, dass im Anlassverfahren die Anwendung der nach dem Grundsatz der Zeitbezogenheit von Abgaben für die Frage des Entstehens des Abgabenanspruches maßgebenden Rechtslage voraussetzt, dass diese Rechtslage für den maßgeblichen Zeitraum tatsächlich in Geltung stand. Dies ist für den vorliegenden Fall §22 erster Satz der Abfuhrordnung 2014 zu entnehmen, weshalb das Landesverwaltungsgericht Steiermark die Regelung anzuwenden hat (vgl. VfSlg 19.946/2015; zum Grundsatz der Zeitbezogenheit von Abgabenvorschriften vgl. zB VfSlg 16.115/2001).
Entgegen der Ansicht der Steiermärkischen Landesregierung begründet die Anordnung der Weitergeltung gemäß Punkt II. Z6 der Überleitungsverordnung keine neue "Fassung" der Abfuhrordnung 2014. Übergeleitet – dh. für das Gebiet der urspünglichen Gemeinde St. Lorenzen der neuen Marktgemeinde Scheifling anwendbar erklärt – wurde nämlich die Abfuhrordnung 2014 in der Beschlussfassung des Gemeinderates der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling vom 16. Dezember 2014.
1.2. Die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Gesetzmäßigkeit hin zu prüfenden Verordnungsbestimmung sind, wie der Verfassungsgerichtshof sowohl für von Amts wegen als auch für auf Antrag eingeleitete Prüfungsverfahren schon wiederholt dargelegt hat (VfSlg 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003), notwendig so zu ziehen, dass einerseits der verbleibende Verordnungsteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Verordnungsstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden.
Aus dieser Grundposition folgt, dass im Verordnungsprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl. VfSlg 16.212/2001, 16.365/2001, 18.142/2007, 19.496/2011). Dagegen macht eine zu weite Fassung des Antrages diesen, soweit die Präjudizialität für den gesamten Antrag gegeben ist, nicht zur Gänze unzulässig, sondern führt, ist der Antrag in der Sache begründet, im Falle der Aufhebung nur eines Teiles der angefochtenen Bestimmungen zu seiner teilweisen Abweisung (vgl. für Gesetzesprüfungsverfahren VfSlg 16.989/2003 mwN, 19.684/2012 und 19.746/2013).
Entgegen der Ansicht der Steiermärkischen Landesregierung erweist sich der Antrag des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark auf Aufhebung von Punkt II. Z6 der Überleitungsverordnung des Regierungskommissärs der Marktgemeinde Scheifling vom 2. Jänner 2015 ebenfalls als zulässig. Die Abfuhrordnung 2014 der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling vom 16. Dezember 2014 hat ihren Geltungsgrund für den maßgebenden Abgabenerhebungszeitraum in Punkt II. Z6 der Überleitungsverordnung. Die Anordnung der Weitergeltung hat sohin konstitutive Wirkung (vgl. VfGH 2.7.2016, V157/2015 ua.); folglich war Punkt II. Z6 der Überleitungsverordnung mitanzufechten.
1.3. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Antrag daher als zulässig.
2. In der Sache
2.1. Der Verfassungsgerichtshof ist in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B‑VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken beschränkt (vgl. VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).
2.2. Soweit sich der Antrag des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark gegen §22 erster Satz der Abfuhrordnung 2014 richtet, ist er auch begründet:
Die Bedenken des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark gehen dahin, dass das in §22 erster Satz der Abfuhrordnung 2014 zum 30. Dezember 2014 – und damit vor Ablauf der gesetzlichen Kundmachungsfrist – angeordnete Inkrafttreten §92 Abs1 Stmk. GemO 1967 widerspricht.
Nach dem Verordnungsakt wurde die Abfuhrordnung 2014 vom Gemeinderat der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling am 16. Dezember 2014 beschlossen. Die Beschlussfassung wurde an der Amtstafel am 17. Dezember 2014 angeschlagen und am 31. Dezember 2014 abgenommen; die Verordnung lag in diesem Zeitraum im Gemeindeamt St. Lorenzen bei Scheifling zur öffentlichen Einsichtnahme während der Amtsstunden auf. Gemäß §92 Abs1 Stmk. GemO 1967 beträgt die Kundmachungsfrist zwei Wochen; die Rechtswirksamkeit von Verordnungen beginnt – sofern nicht anderes bestimmt wird – mit dem auf den Ablauf der Kundmachungsfrist folgenden Tag.
Der Verfassungsgerichtshof vertritt in ständiger Judikatur (vgl. VfSlg 2966/1956, 7139/1973, 8946/1980, 12.843/1991, 13.370/1993, 15.675/1999) die Auffassung, dass eine Rückwirkung von Verordnungen nur zulässig ist, wenn dazu das Gesetz ausdrücklich ermächtigt; die Anordnung einer Rückwirkung muss sohin von der Ermächtigungsgrundlage umfasst sein. Eine solche Ermächtigung erteilt das Stmk. Abfallwirtschaftsgesetz gerade nicht.
§22 erster Satz der Abfuhrordnung 2014 der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling vom 16. Dezember 2014 sieht entgegen §92 Abs1 Stmk. GemO 1967 ein rückwirkendes Inkrafttreten der Verordnung mit 30. Dezember 2014 vor; es ist daher auszusprechen, dass §22 erster Satz der Abfuhrordnung 2014 wegen Verstoßes gegen §92 Abs1 Stmk. GemO 1967 gesetzwidrig war.
2.3. Soweit sich der Antrag des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark gegen Punkt II. Z6 der Überleitungsverordnung richtet, ist er hingegen abzuweisen:
Das Landesverwaltungsgericht Steiermark leitet aus dem Wortlaut des §11 Abs2 Stmk. GemO 1967 ab, dass der Regierungskommissär nur dann zur Überleitung von Verordnungen ermächtigt sei, wenn die betreffende Verordnung in der ursprünglichen Gemeinde auch tatsächlich in Kraft getreten sei. In Ermangelung eines örtlichen Geltungsbereiches auf Grund der zum 1. Jänner 2015 erfolgten Vereinigung der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling mit der Gemeinde Scheifling sei die Abfuhrordnung 2014 in der ursprünglichen Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling nie in Geltung gestanden und habe sie daher vom Regierungskommissär auch nicht wirksam auf die neue Marktgemeinde Scheifling übergeleitet werden können.
Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden: Die Abfuhrordnung 2014 wurde vom Gemeinderat der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling am 16. Dezember 2014 beschlossen. Die Beschlussfassung wurde durch Anschlag an der Amtstafel der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling vom 17. Dezember 2014 bis 31. Dezember 2014 kundgemacht; die Verordnung lag in diesem Zeitraum im Gemeindeamt St. Lorenzen bei Scheifling zur öffentlichen Einsichtnahme während der Amtsstunden auf. Damit hat die Abfuhrordnung 2014 als eine von der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling erlassene Verordnung auch in der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling iSd §11 Abs2 Stmk. GemO 1967 Geltung erlangt (vgl. zB VfSlg 14.354/1995 mwN) und konnte als solche vom Regierungskommissär auf die neu geschaffene Marktgemeinde Scheifling übergeleitet werden.
Der Ausspruch, dass §22 erster Satz der Abfuhrordnung 2014 gesetzwidrig war, steht der Einhebung der Abfallgebühren für das Jahr 2015, die sich nunmehr auf die Überleitungsverordnung stützt, nicht entgegen. Das Begehren auf Aufhebung (auch) des Punktes II. Z6 der Überleitungsverordnung erweist sich insofern als unbegründet.
V. Ergebnis
1. Da die Anordnung des Inkrafttretens am 30. Dezember 2014 gegen §92 Abs1 Stmk. GemO 1967 verstößt, ist auszusprechen, dass §22 erster Satz der Abfuhrordnung 2014 der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling, Beschluss des Gemeinderates vom 16. Dezember 2014, kundgemacht durch Anschlag der Auflegung zur öffentlichen Einsicht an der Amtstafel der Gemeinde St. Lorenzen bei Scheifling vom 17. Dezember 2014 bis 31. Dezember 2014, gesetzwidrig war.
2. Die Verpflichtung der Steiermärkischen Landesregierung zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B‑VG und §59 Abs2 VfGG iVm §2 Abs1 Z7 Stmk. Kundmachungs- und Wiederverlautbarungsgesetz.
3. Im Übrigen ist der Antrag, soweit er sich auf Aufhebung des Punktes II. Z6 der Überleitungsverordnung des Regierungskommissärs der Marktgemeinde Scheifling, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel der Marktgemeinde Scheifling vom 2. Jänner 2015 bis 19. Jänner 2015, bezieht, abzuweisen.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
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