Normen
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2020:E3373.2020
Spruch:
I. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Den gemäß §63 Abs1 ZPO, §35 VfGG gestellten Anträgen auf Bewilligung der Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO wird stattgegeben.
III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 3.139,20 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführer sind irakische Staatsangehörige und sunnitische Muslime. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer stellten am 6. September 2015 Anträge auf internationalen Schutz und sind die Eltern zweier in Österreich geborener Kinder (des Drittbeschwerdeführers und der Viertbeschwerdeführerin), für die in weiterer Folge ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz gestellt wurden.
2. Mit Bescheiden vom 28. Mai 2018 bzw vom 14. November 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge auf internationalen Schutz gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab; ebenso wurden die Anträge auf Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen. Weiters wurden Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA‑VG Rückkehrentscheidungen gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG ausgesprochen, dass die Abschiebungen in den Irak gemäß §46 FPG zulässig seien. Gleichzeitig wurden gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG zweiwöchige Fristen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen gesetzt.
3. Die dagegen erhobenen Beschwerden wurden mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21. Mai 2019 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet abgewiesen.
4. Der dagegen (von der Erstbeschwerdeführerin und vom Zweitbeschwerdeführer) gemäß Art144 B‑VG erhobenen Beschwerde gab der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 28. November 2019, E2526/2019 ua, soweit damit die Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen, gegen die Aussprüche, dass die Abschiebungen in den Irak zulässig seien, und gegen die Festsetzung von zweiwöchigen Fristen für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurden, statt und hob die Entscheidung insoweit auf.
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass im angefochtenen Erkenntnis sämtliche Feststellungen hinsichtlich der im Speziellen Kinder betreffenden Sicherheitslage im Irak gefehlt hätten und das Bundesverwaltungsgericht sohin eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob den Kindern der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr eine Verletzung ihrer gemäß Art2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte droht, nahezu vollständig unterlassen habe. Zudem habe das Bundesverwaltungsgericht die spezifische Situation der Beschwerdeführer als Eltern zweier minderjähriger Kinder nicht ausreichend berücksichtigt und dadurch seiner Entscheidung nicht den konkreten Sachverhalt zugrunde gelegt.
5. Im fortgesetzten Verfahren wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden mit Erkenntnis vom 14. September 2020 nach Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung (erneut) als unbegründet ab.
Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht vorlägen. Insbesondere führt das Bundesverwaltungsgericht zur persönlichen Situation der Beschwerdeführer aus:
"Ergänzend ist im vorliegenden Beschwerdefall unstreitig zu beachten, dass es sich bei den Beschwerdeführern um eine Familie mit zwei minderjährigen Kindern und bei Letzteren um eine besonders vulnerable und schutzbedürftige Personengruppe handelt. […]
Sofern […] auf die seitens UNHCR vertretene Ansicht in Bezug auf die Lage in der Stadt Bagdad hingewiesen wird, wonach lediglich arabisch-schiitische und arabisch-sunnitische alleinstehende, körperlich leistungsfähige Männer und kinderlose Ehepaare im arbeitsfähigen Alter, ohne identifizierte besondere Vulnerabilitäten, abhängig von den jeweiligen Umständen möglicherweise in der Lage seien, in Bagdad ohne Unterstützung durch ihre Familie und/oder ihren Stamm zu bestehen, sodass 'die Vulnerabilität der Familie mit zwei Kleinkindern im Hinblick auf die Entscheidung über subsidiären Schutz entsprechend zu berücksichtigen' sei, wird dieser Umstand seitens des Bundesverwaltungsgerichtes nicht verkannt […], jedoch werden die Beschwerdeführer im Falle ihrer Rückkehr – wie dargelegt – sehr wohl in der Lage sein können, auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen. Die Mutter sowie zwei Brüder des Zweitbeschwerdeführers leben nach wie vor in jenem Mietshaus im Stadtviertel ad-Dora, in welchem die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer bis zu ihrer Ausreise gemeinsam mit den Angehörigen gelebt haben und steht der Zweitbeschwerdeführer – wie sowohl er selbst als auch die Erstbeschwerdeführerin in der Beschwerdeverhandlung am 30.06.2020 ausdrücklich bestätigten […] – nach wie vor in Kontakt zu ihnen. Es ist bei lebensnaher Betrachtung somit davon auszugehen, dass sich die Beschwerdeführer zumindest temporär wiederum bei der Familie des Zweitbeschwerdeführers in Bagdad werden ansiedeln können und ihnen bei diesen auch eine angemessene Unterkunft sowie eine (in Bagdad vor dem Hintergrund der aktuellen Länderberichte auch sichergestellte) Grundversorgung […] zur Verfügung stehen wird […]. Sofern der Zweitbeschwerdeführer in der Verhandlung am 30.06.2020 vorbrachte, dass das Mietshaus in Bagdad klein sei, er nunmehr zweifacher Vater sei und sein Bruder zwischenzeitlich geheiratet habe […], vermag er dadurch keine exzeptionellen Umstände aufzuzeigen, wonach die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz im konkreten Fall nicht gedeckt werden könnten. […]
[…]
Im Hinblick auf die minderjährigen Beschwerdeführer ist überdies festzuhalten, dass sich sowohl der (seit wenigen Tagen) vierjährige Drittbeschwerdeführer als auch die (fast) zweijährige Viertbeschwerdeführerin in einem anpassungsfähigen Alter befinden […]. Wenngleich das Bundesverwaltungsgericht nicht verkennt, dass sie beide in Österreich zur Welt gekommen sind, ist davon auszugehen, dass sie bisher im Familienverband in arabischer Sprache sozialisiert wurden, was sich bereits daraus ergibt, dass mit der Erstbeschwerdeführerin (Kindesmutter) eine Verständigung in deutscher Sprache nicht möglich ist und der Zweitbeschwerdeführer (Kindesvater) ebenfalls nur über grundlegende Deutschkenntnisse auf dem Sprachniveau A2 verfügt, sodass die Beschwerdeführer untereinander im gemeinsamen Haushalt wohl Arabisch sprechen. Die Viertbeschwerdeführerin feiert im Oktober ihren zweiten Geburtstag und ist angesichts ihres Lebensalters im gegebenen Zusammenhang erst eingeschränkt wahrnehmungsfähig. Auch in Ansehung des Drittbeschwerdeführers kann in Anbetracht der gemeinsamen Rückkehr im Familienverband und dem Umstand, dass er bereits bislang mit seinen Eltern, welche beide aus dem Irak stammen, in einem Haushalt gelebt hat, davon ausgegangen werden, dass aufgrund der noch begrenzen Einsichtsfähigkeit als Kleinkind keine das Kindeswohl beeinträchtigende Entwurzelung eintritt und ihm eine Anpassung an das Leben im Irak durchaus möglich sein wird […].
Nachdem von einer Rückkehr der minderjährigen Beschwerdeführer gemeinsam mit ihren Eltern auszugehen ist, ist überdies auch ihre Betreuung und Beaufsichtigung sichergestellt. Darüber hinaus ist in ihrer Heimatstadt Bagdad – wie dargelegt – ein familiäres Netzwerk vorhanden, welches ebenfalls subsidiär im Fall der Notwendigkeit für die Kinderbetreuung herangezogen werden könnte. Eine inadäquate Beaufsichtigung ist daher fallbezogen nicht zu befürchten."
6. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B‑VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungs-gesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und mit näherer Begründung die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
7. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht (erneut) unterlaufen:
3.1. Zwar trifft das Bundesverwaltungsgericht nunmehr Feststellungen hinsichtlich der im Speziellen Kinder betreffenden Sicherheitslage im Irak und setzt sich insoweit auch nachvollziehbar mit der Frage auseinander, ob dem mj. Drittbeschwerdeführer und der mj. Viertbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr eine Verletzung ihrer gemäß Art2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte droht.
3.2. Jedoch lässt das angefochtene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes nach wie vor keine ausreichende Berücksichtigung der Situation der Beschwerdeführer als Familie mit zwei minderjährigen Kindern erkennen. Wie der Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 28. November 2019, E2526/2019 ua, betont hat, kommt eine Rückkehr nach Bagdad nur für arabische, sunnitische oder schiitische, alleinstehende, gesunde Männer oder ebensolche kinderlose Paare im erwerbsfähigen Alter ohne spezifische Vulnerabilitäten in Betracht. Die Beschwerdeführer als Familie mit zwei Kleinkindern fallen jedoch nicht in diese Kategorien.
Das Bundesverwaltungsgericht begründet die Zumutbarkeit einer Rückkehr nach Bagdad insbesondere mit dem regelmäßigen Kontakt der Beschwerdeführer mit der Familie des Zweitbeschwerdeführers und dem damit verbundenen Rückhalt. Wenngleich es eine weitere mündliche Verhandlung durchführt und seine Entscheidung ansonsten sorgfältig begründet, trifft es jedoch keine hinreichenden Feststellungen zu den konkreten Lebensumständen der Mutter bzw der Brüder des Zweitbeschwerdeführers. Den Einwand des Zweitbeschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung, dass das Mietshaus in Bagdad klein sei, er nunmehr zweifacher Vater sei und sein Bruder zwischenzeitlich geheiratet habe, übergeht das Bundesverwaltungsgericht damit, dass dadurch keine exzeptionellen Umstände aufgezeigt worden seien, wonach die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz im konkreten Fall nicht gedeckt werden könnten. Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt es damit, zu ermitteln, ob die Angehörigen des Zweitbeschwerdeführers willens und in der Lage sind, die Beschwerdeführer – eine Familie mit zwei Kleinkindern – tatsächlich zu unterstützen (zB VfGH 12.3.2019, E2314/2018 ua; 26.6.2019, E472/2019 ua; 3.10.2019, E5128/2018 ua).
3.3. Das Bundesverwaltungsgericht hat sohin (erneut) die spezifische Situation der Beschwerdeführer als Familie mit zwei Kleinkindern nicht ausreichend berücksichtigt und dadurch seiner Entscheidung nicht den konkreten Sachverhalt zugrunde gelegt.
4. Bei diesem Ergebnis kann es dahinstehen, ob das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerdeführer auch deswegen im genannten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt hat, weil es gegen seine Verpflichtung aus §87 Abs2 VfGG verstoßen hat (s jeweils mwN VfSlg 18.404/2008, 18.908/2009; zuletzt VfGH 22.9.2020, E1868/2020; näher zu den Rechtsfolgen einer Missachtung der aus §87 Abs2 VfGG folgenden Bindungswirkungen Eberhard, in: Eberhard/Fuchs/Kneihs/Vašek [Hrsg.], VfGG, 2020, §87 Rz 18 ff.).
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten sind ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 436,– und Umsatzsteuer in der Höhe von € 523,20 enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühren ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.
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