VfGH E2792/2017

VfGHE2792/201724.11.2017

Feststellung einer Verletzung im Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist durch ein Straferkenntnis wegen unterlassener Anmeldung eines Dienstnehmers zur Krankenversicherung vor Arbeitsantritt; keine Rechtfertigung der Verfahrensdauer von mehr als vier Jahren

Normen

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
ASVG §35 Abs3, §111 Abs2
VStG §19 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2017:E2792.2017

 

Spruch:

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist nach Art6 Abs1 EMRK verletzt worden. 2. Das Erkenntnis wird im Strafausspruch und im Kostenausspruch aufgehoben.

II. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

III. Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,- bestimmten Prozesskosten zuhanden seines Rechtsvertreters binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.1. Mit Straferkenntnis vom 13. Mai 2013 erkannte der Magistrat der Stadt Wien den nunmehrigen Beschwerdeführer schuldig, es als Dienstgeber unterlassen zu haben, den als Disponent zur Einstellung von Pizzafahrten zumindest in der Zeit von 4. Juli 2011 bis 3. August 2011 beschäftigten C.H. vor Arbeitsantritt beim zuständigen Krankenversicherungsträger anzumelden. Die Verwaltungsstrafbehörde legte dem Beschwerdeführer deshalb die Übertretung des §111 Abs1 Z1 iVm §33 Abs2 ASVG zur Last und verhängte über ihn eine Geldstrafe in Höhe von € 770,– (Ersatzfreiheitsstrafe 2 Tage und 2 Stunden) und verpflichtete den Beschwerdeführer zur Zahlung eines Beitrages zu den Kosten des Strafverfahrens in Höhe von € 77,–.

2. Gegen dieses Straferkenntnis erhob der Beschwerdeführer am 28. Mai 2013 Berufung an den – zum damaligen Zeitpunkt zuständigen – Unabhängigen Verwaltungssenat Wien. Nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 3. Juli 2014 und am 18. Juli 2014 verkündete das Verwaltungsgericht Wien am 18. Juli 2014 die nunmehr angefochtene Entscheidung, in der es der Beschwerde keine Folge gab und den Beschwerdeführer zudem zur Zahlung eines Beitrages zu den Kosten des Strafverfahrens verpflichtete. Die schriftliche Ausfertigung dieser Entscheidung wurde dem Beschwerdeführer am 5. Juli 2017 zu Handen seines ausgewiesenen Rechtsvertreters zugestellt.

3. In der mit 29. Juni 2017 datierten Ausfertigung des Erkenntnisses gab das Verwaltungsgericht Wien der Beschwerde keine Folge und bestätigte das angefochtene Straferkenntnis mit der Maßgabe, dass in der verbalen Tatanlastung die Wortfolge "beschäftigten, nach dem ASVG in der Krankenversicherung pflichtversicherte Person" durch die Wortfolge "beschäftigte, nach dem ASVG in der Unfallversicherung pflichtversicherte Person" ersetzt wird und in der Zitierung der Strafnorm die Wortfolge "in Verbindung mit §9 VStG 1991" entfällt.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B‑VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist nach Art6 Abs1 EMRK behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.

5. Der Magistrat der Stadt Wien legte die Verwaltungsakten vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab. Das Verwaltungsgericht Wien legte die Gerichtsakten vor und sah ebenfalls von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II. Erwägungen zur Verletzung in Art6 EMRK

Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

1. Bedenken gegen die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Rechtsvorschriften werden in der Beschwerde nicht vorgebracht und sind beim Verfassungsgerichtshof auch aus Anlass dieses Beschwerdeverfahrens nicht entstanden.

Der Beschwerdeführer wurde durch die angefochtene Entscheidung daher nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt.

2. Die Beschwerde ist insofern berechtigt, als sie die Nichtberücksichtigung der überlangen Dauer des Verfahrens behauptet:

2.1. Nach Art6 Abs1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Tribunal gehört wird, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zu entscheiden hat.

Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht abstrakt, sondern im Lichte der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu beurteilen. Die besonderen Umstände des Einzelfalles ergeben sich aus dem Verhältnis und der Wechselwirkung verschiedener Faktoren. Neben Faktoren, welche die Verfahrensdauer beeinflussen, nämlich die Schwierigkeit des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers und das Verhalten der staatlichen Behörden in dem bemängelten Verfahren, ist auch die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer relevant (vgl. VfSlg 17.307/2004, 17.582/2005, 17.644/2005, 18.743/2009; vgl. auch Frowein/Peukert, EMRK³, 2009, Art6 Rz 251, sowie Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention4, 2009, §24 Rz 69). Nicht eine lange Verfahrensdauer schlechthin führt zu einer Verletzung, sondern nur eine Verzögerung, die auf Versäumnisse staatlicher Organe zurückzuführen ist. Der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist daher keine fixe Obergrenze für die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu entnehmen, ab deren Überschreitung jedenfalls eine Verletzung des Art6 Abs1 EMRK anzunehmen wäre (vgl. VfSlg 16.385/2001 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR; VfSlg 17.821/2006, 18.066/2007, 18.509/2008).

2.2. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Strafverfahren wird für den Beginn der Frist jener Zeitpunkt angenommen, "in which a person is charged", dh. sobald ein Beschuldigter durch offizielle Mitteilung oder auch in sonstiger Weise darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass gegen ihn wegen des Verdachts, eine strafbare Handlung begangen zu haben, Ermittlungen mit dem Ziel strafrechtlicher Verfolgung durchgeführt werden und seine Lage dadurch in erheblicher Weise beeinträchtigt wird (Frowein/Peukert, aaO, Art6 Rz 240; EGMR 15.7.1982, Fall Eckle, Appl. 8130/78; VfSlg 16.385/2001, 17.339/2004, 17.854/2006).

Im vorliegenden Fall erlangte der Beschwerdeführer mit Zustellung der Aufforderung zur Rechtfertigung durch den Magistrat der Stadt Wien am 2. Februar 2012 erstmals offiziell Kenntnis von dem gegen ihn erhobenen Tatvorwurf. Dieser Tag ist daher als Anfangszeitpunkt des Verwaltungsstrafverfahrens anzusehen.

Das Verfahren endete vor der Verwaltungsbehörde mit dem Straferkenntnis des Magistrates der Stadt Wien vom 13. Mai 2013, zugestellt am 17. Mai 2013.

Als Zeitpunkt des vorläufigen Endes des der Beurteilung durch den Verfassungsgerichtshof unterliegenden Verfahrens ist grundsätzlich der Tag der Zustellung der das Verfahren abschließenden, angefochtenen Entscheidung maßgeblich (vgl. VfGH 4.3.2011, B1084/10 mwN). Im vorliegenden Fall wurde die angefochtene Entscheidung jedoch nicht durch Zustellung, sondern durch mündliche Verkündung erlassen; zugestellt wurde lediglich die schriftliche Ausfertigung der mündlich verkündeten Entscheidung.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (vgl. EGMR 7.4.2005, Fall Jancikova, Appl. 56.483/00) sowie jener des Verfassungsgerichtshofes (vgl. VfSlg 18.066/2007 zur Zustellung des angefochtenen Bescheides mehr als ein Jahr und acht Monate nach dessen Verkündung; vgl. ferner VfSlg 18.533/2008 zum Fall der verzögerten Zustellung eines – nicht bereits mündlich erlassenen – Bescheides) zählt die Zeitspanne zwischen der mündlichen Verkündung und der Ausfertigung der Entscheidung zur Verfahrensdauer iSd Art6 Abs1 EMRK.

Als Zeitpunkt des Endes des zu überprüfenden Verfahrens ist daher, wenn auch die angefochtene Entscheidung bereits durch mündliche Verkündung am 18. Juli 2014 erlassen wurde, der Tag der Zustellung der am 29. Juni 2017 ausgefertigten Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, somit der 5. Juli 2017 anzusehen.

Die zu beurteilende Verfahrensdauer beträgt sohin insgesamt 5 Jahre und 4 Monate.

2.2. Im vorliegenden Fall fällt ins Gewicht, dass zwischen der mündlichen Verkündung der angefochtenen Entscheidung am 18. Juli 2014 und der Zustellung der mit 29. Juni 2017 datierten schriftlichen Ausfertigung am 5. Juli 2017 nahezu 3 Jahre vergangen sind.

Für die ungewöhnliche Länge des Zeitraumes zwischen der mündlichen Verkündung und der Zustellung der schriftlichen Ausfertigung der angefochtenen Entscheidung ist allein das Verhalten des Verwaltungsgerichtes verantwortlich; insbesondere kann dem Beschwerdeführer kein Vorwurf gemacht werden, das Verfahren unnötig verzögert zu haben (vgl. dazu auch im besonderen VfSlg 19.605/2011).

Da nach der Aktenlage weder Art und Umfang des Sachverhaltes noch die zu beurteilende Rechtsfrage die Behandlung dieser Rechtssache als ungewöhnlich komplex erscheinen lassen, in dem vorliegenden Beschwerdeverfahren aber auch kein weiterer besonderer Umstand hervorgekommen ist, welcher die Dauer des Verfahrens rechtfertigen könnte, ist die Dauer des Verfahrens von insgesamt 5 Jahren und 2,5 Monaten bis zur Zustellung der angefochtenen Entscheidung nicht mehr als angemessen iSd Art6 EMRK anzusehen.

2.3. Der Beschwerdeführer ist daher in seinem durch Art6 Abs1 EMRK gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt worden.

2.4. Die angefochtene Entscheidung ist – abgesehen vom Kostenausspruch – lediglich im Umfang des Strafausspruches aufzuheben, weil die festgestellte Rechtsverletzung den Ausspruch über die Schuld unberührt lässt und eine Änderung nur im Rahmen der Strafbemessung gemäß §19 VStG in Betracht kommt, insbesondere durch die verfassungskonforme Berücksichtigung der überlangen Verfahrensdauer als Milderungsgrund iSd §19 Abs2 VStG unter sinngemäßer Anwendung des §34 Abs2 StGB (vgl. VfGH 4.3.2011, B1084/10 mwN). Das Verwaltungsgericht wird bei der Strafbemessung neben der objektiven Schwere der Verwaltungsübertretung und Gründen der General- und Spezialprävention das Vorliegen des Milderungsgrundes der – hinsichtlich der Ausfertigung vorliegenden – unangemessenen Verfahrensdauer zu berücksichtigen haben. Das Verwaltungsgericht hat in seine Begründung der schriftlichen Ausfertigung zwar den Satz eingefügt, dass "als mildernd […] auch die Dauer des Verfahrens zu berücksichtigen" gewesen sei; im Hinblick darauf, dass das Verwaltungsgericht in seinem mündlich verkündeten Erkenntnis das bei ihm angefochtene Straferkenntnis im Strafausspruch bestätigt hat, ist es jedoch sowohl ausgeschlossen, dass vom Verwaltungsgericht die Verfahrensdauer bis zur mündlichen Verkündung des Erkenntnisses berücksichtigt worden wäre, als auch die fast dreijährige weitere Verfahrensdauer zwischen der mündlichen Verkündung und der Ausfertigung der Entscheidung.

2.5. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes ist auch im Umfang des Kostenausspruches aufzuheben, da der Beitrag zu den Kosten des verwaltungsbehördlichen Verfahrens sich nach der Höhe der verhängten Geldstrafe richtet (§64 Abs2 VStG) und daher mit dem Strafausspruch in Zusammenhang steht.

III. Ablehnung der Beschwerdebehandlung

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B‑VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die in der vorliegenden Beschwerde – abgesehen von der Verletzung des Art6 Abs1 EMRK – gerügten Verletzungen verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte wären aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.

Demgemäß wurde beschlossen, insoweit von einer Behandlung der Beschwerde abzusehen (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

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