VfGH B916/84

VfGHB916/8420.6.1985

Art8 StGG; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; vertretbare Annahme von Verwaltungsübertretungen nach ArtVIII zweiter Begehungsfall und ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950; "Betreten auf frischer Tat"; rechtmäßige Festnahme nach §35 litc VStG 1950 und darauffolgende Verwahrung; keine Verletzung des Hausrechtes

Normen

StGG Art8
EGVG ArtVIII zweiter Tatbestand
VStG §35 litc
StGG Art8
EGVG ArtVIII zweiter Tatbestand
VStG §35 litc

 

Spruch:

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1. Die Bf. begehren in ihrer unter Berufung auf Art144 B-VG an den VfGH erhobenen Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß sie durch (der Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. zuzurechnende) Amtshandlungen, nämlich ihre Festnahme am 28. Oktober 1984 und ihre darauffolgende Verwahrung, demnach durch Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit sowie allenfalls auf Unverletzlichkeit des Hausrechtes verletzt worden seien.

2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - Bundespolizeidirektion Wien legte als bel. Beh. die Administrativakten vor und stellte den Antrag, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.

3. Der VfGH stellt aufgrund der vorgelegten Verwaltungsakten folgenden - von den Bf. unbestrittenen - Sachverhalt fest:

Am 28. Oktober 1984 wurden zwei Funkstreifenfahrzeuge wegen Anzeige zufolge störender Lärmerregung zum Einsatz nach Wien, L-Gasse, beordert. Beim Eintreffen am Einsatzort konnten die Sicherheitswachebeamten überlaute Musik und lautes Gröhlen wahrnehmen, welches aus der Wohnung drang. In der Wohnung trafen sie sieben Personen - darunter die Bf. - an. Der Aufforderung, die Musik leiser zu stellen, wurde zwar vorerst entsprochen, führte aber dazu, daß die Anwesenden laut durcheinander schrieen. Die Aufforderung, den Lärm einzustellen, bewirkte, daß das Schreien nur verstärkt und die Musik wieder lauter eingestellt wurde. Daraufhin wurden die Anwesenden zur Ausweisleistung verhalten und darüber in Kenntnis gesetzt, daß gegen sie Anzeige erstattet würde. Dennoch setzten die Genannten die Lärmerregung durch lautes Gröhlen und Musikspielen fort. Nach vorangegangener neuerlich ergebnisloser Abmahnung wurde um 0.40 Uhr die Festnahme ua. der Bf. gemäß §35 litc VStG ausgesprochen und per Funk ein Arrestantenwagen angefordert, mit dem die Festgenommenen sodann in das Polizeikommissariat Leopoldstadt überstellt wurden. Der Vorfall erregte bei einer größeren Zahl von Hausparteien Aufsehen und Ärgernis.

Mit Straferk. vom 28. Oktober 1984 wurde der Bf. A W für schuldig erkannt, am 28. Oktober 1984 um 0.20 Uhr in Wien, L-Gasse, durch überlautes Radiospielen ungebührlicherweise störenden Lärm erregt und durch lautes Schreien ein Verhalten gesetzt zu haben, welches geeignet war, Aufsehen und Ärgernis zu erregen und dies auch tatsächlich erregte und dadurch die Ordnung an einem öffentlichen Orte gestört zu haben, wofür er gemäß ArtVIII und ArtIX Abs1 Z1 EGVG zu Geldstrafen von je 1000 S verurteilt wurde. Auf eine Berufung gegen dieses Straferk. wurde verzichtet, sodaß es in Rechtskraft erwachsen ist.

Mit Straferk. ebenfalls vom 28. Oktober 1984 wurde R K für schuldig erkannt, am 28. Oktober 1984 um 0.20 Uhr in Wien, L-Gasse (Klub), durch überlautes Radiospielen ungebührlicherweise störenden Lärm erregt zu haben, wodurch eine Verwaltungsübertretung nach ArtVIII EGVG begangen wurde, wofür über ihn eine Geldstrafe von 1000 S verhängt wurde. Auch R K hat auf eine Berufung gegen das Straferk. verzichtet, sodaß dieses in Rechtskraft erwuchs.

Die Enthaftung beider Bf. erfolgte um 9.40 Uhr des 28. Oktober 1984; die Zeit der Anhaltung in der Dauer von je 9 Stunden wurde in den Straferk. auf die Strafen angerechnet.

Festzuhalten ist, daß die Bf. gegen die Richtigkeit der Wiedergabe der Geschehnisse in den Verwaltungsakten nichts vorgebracht haben und auch der Gegenschrift der belangten Behörde nicht entgegengetreten sind, sodaß von der Aufnahme weiterer Beweise Abstand genommen werden konnte.

4. Der VfGH hat erwogen:

4.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (vgl. VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 9919/1984).

4.1.2. Folglich ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug hier nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, zulässig.

4.2.1.1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige Verhaftung.

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist, gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

4.2.1.2. §35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (vgl. zB VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes wie in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten (Anwendungs-)Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird. Sie muß sich also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung zuschulden kommen lassen und bei Begehung dieser Tat angetroffen werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann erfüllt ist, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974).

Gemäß §35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Bedingungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen versucht.

Dieser hier allein in Frage kommende Festnehmungsgrund setzt somit voraus, daß das die Festnahme aussprechende Sicherheitsorgan mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen durfte, daß (wie von ihm zur Anzeige gebracht) der Erstbf. Übertretungen nach ArtVIII zweiter Begehungsfall bzw. ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 und der Zweitbf. eine Übertretung nach ArtVIII zweiter Begehungsfall EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 verübt haben. Die für eine Festnehmung geforderte weitere Voraussetzung, daß der Betretene entweder im strafbaren Verhalten "verharrt" oder es "zu wiederholen sucht", verlangt aber weiters, daß das Verhalten, das unmittelbar zur Festnehmung führt, in gleicher Weise zu beurteilen ist, wie es zum Anlaß der Abmahnung genommen wurde.

4.2.2.1. Nach ArtVIII zweiter Begehungsfall EGVG 1950 idgF begeht eine Verwaltungsübertretung, wer ungebührlicherweise störenden Lärm erregt. Das Tatbild dieser Verwaltungsübertretung ist nach der Rechtsprechung des VfGH (VfSlg. 8654/1979) und des VwGH (VwGH 19. April 1982 Z 81/10/0104) dadurch gekennzeichnet, daß (störender) Lärm dann "ungebührlicherweise" erregt wird, wenn das inkriminierte Verhalten jene Rücksichtnahme vermissen läßt, welche die Umwelt regelmäßig verlangen kann.

Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH (vgl. etwa das Erk. vom 13. Februar 1984 Z 82/10/0178 oder 9. Juli 1984 Z 84/10/0080) ist das Tatbild der Ordnungsstörung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 idgF dadurch gekennzeichnet, daß der Täter ein Verhalten setzt, das objektiv geeignet ist, Ärgernis zu erregen, und daß durch dieses Verhalten die Ordnung an einem öffentlichen Ort gestört wird, was dann der Fall ist, wenn eine Handlung geeignet ist, bei anderen unbefangenen Menschen die lebhafte Empfindung des Unerlaubten und Schändlichen hervorzurufen.

4.2.2.2. Angesichts der hier maßgeblichen Sach- und Rechtslage hat der die Festnehmung aussprechende Sicherheitswachebeamte die Bf. bei einem Verhalten auf frischer Tat betreten, das er mit gutem Grund als Verwaltungsübertretung nach ArtVIII zweiter Begehungsfall EGVG 1950 idgF bewerten konnte. Die Lärmentwicklung, die von den Bf. durch Gröhlen und Musik entfaltet wurde, und die dazu geführt hatte, daß andere Hausbewohner die Hilfe der Polizei in Anspruch nahmen, war so groß, daß die Sicherheitswachebeamten sie schon vor dem Wohnhaus wahrnehmen konnten; auch nach dem Einschreiten der Beamten wurde nur die Musik leiser gedreht, die Lärmentwicklung aber im übrigen fortgesetzt. Somit lag auch ein "Betreten auf frischer Tat" vor. Da die Bf. auch nach der Abmahnung die störende Lärmentwicklung nicht einstellten, ja die Musik sogar neuerlich verstärkten, konnten die einschreitenden Organe mit gutem Grund vom Festnehmungstatbestand des §35 litc VStG 1950 idgF Gebrauch machen.

Damit erübrigt es sich, hinsichtlich des Erstbf. auf den ihm weiters angelasteten Tatbestand nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 idgF einzugehen.

Unter den obwaltenden Umständen bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, daß die Entlassung der Bf. aus der anschließenden verwaltungsbehördlichen Haft gesetzwidrig hinausgezögert worden wäre.

4.2.3. Daher wurden die Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

4.3. Ebensowenig wurde durch die bekämpften Amtshandlungen das verfassungsgesetzlich gewährleistete Hausrecht verletzt: Auch wenn den Beschwerdeausführungen gefolgt wird, kann keine Rede davon sein, daß die einschreitenden Sicherheitsbeamten nach einer Person oder nach einem Gegenstand, von denen es unbekannt war, wo sie sich befanden, gesucht hätten, was aber für das Wesen einer Hausdurchsuchung charakteristisch ist (vgl. zB VfSlg. 6328/1970, 6736/1972, 8815/1980).

4.4. Da die Verletzung eines anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes gleichfalls nicht stattgefunden hat und auch kein Anhaltspunkt dafür besteht, daß die Bf. infolge einer Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt wurden, war die Beschwerde abzuweisen.

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