VfGH B5/77

VfGHB5/7711.12.1981

Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Verletzung der persönlichen Freiheit durch eine in keiner Rechtsvorschrift begründete Verhaftung, sodann rechtmäßige Anhaltung gemäß §175 Abs1 Z1, §177 Z1 StPO;

MRK; kein Verstoß gegen Art3

Normen

EMRK Art3
EMRK Art5
StGG Art8
PersFrSchG §4
VfGG §88
EMRK Art3
EMRK Art5
StGG Art8
PersFrSchG §4
VfGG §88

 

Spruch:

I. Der Beschwerdeführer ist dadurch, daß er am 23. November 1976 von Sicherheitswachebeamten der Bundespolizeidirektion Linz in einem Gastlokal festgenommen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

II. Der Beschwerdeführer ist durch folgende Amtshandlungen von Sicherheitswachebeamten der Bundespolizeidirektion Linz, und zwar durch die Aufrechterhaltung der unter I. angeführten Festnehmung und die Verwahrung bis zur Entlassung am 24. November 1976, durch die Anwendung von Körperkraft anläßlich dieser Festnehmung und der Eskortierung zum Polizeikraftwagen, durch das Anlegen einer Handfessel, durch das unter Anwendung von Körperkraft vorgenommene Verbringen in eine Arrestzelle sowie das Anlegen einer Fußfessel weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch infolge Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in einem Recht verletzt worden.

Die Beschwerde wird insoweit abgewiesen.

III. Die Verfahrenskosten werden gegenseitig aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I.1. In der auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde wird im wesentlichen folgendes vorgebracht:

Der Beschwerdeführer habe sich am Abend des 23. November 1976 in Gesellschaft von Freunden im Gasthaus "Zur Linde" in Linz aufgehalten und habe "einige Bier" getrunken. Im Hinblick auf eine Äußerung zu einem anderen Gast ("Komm, laß dieses Thema und stoß lieber mit mir an, du Arschloch") habe ihn der Gastwirt aufgefordert, seine Gäste nicht zu beleidigen. Nach einiger Zeit seien zwei Sicherheitswachebeamte im Lokal erschienen und hätten ihn nach seinem Namen gefragt, den er ihnen sodann genannt habe; einen Ausweis habe er nicht vorgewiesen, da er keinen bei sich gehabt habe. Die Polizeibeamten hätten ihn aufgefordert, seine Zeche zu zahlen, was er auch getan habe. Er sei sodann, ohne daß eine Verhaftung ausgesprochen worden sei, von einem der Sicherheitswachebeamten mit den Worten "Los, komm!" aufgefordert worden, hinauszugehen, sei vom Beamten sodann am Hemd ergriffen und in Richtung Ausgang gezogen worden. Nachdem er sich dagegen gewehrt habe, sei ihm ein Arm auf den Rücken gedreht worden; er sei bis zur Tür des Lokals gezerrt worden. Als daraufhin einer der beiden Polizeibeamten ihn am Arm und der andere an den Haaren gepackt habe, habe er um sich geschlagen, um sich zu befreien. In der Folge sei er zu einem Polizeiwagen geschleppt worden, wo ihm Handschellen angelegt worden seien.

Als er sich im Gebäude der Polizeidirektion geweigert habe, sich auf eine bestimmte Bank zu setzen, hätten sich Polizeibeamte auf ihn gestürzt, ihn kopfüber zu Boden geworfen, die am Rücken mit Handschellen gefesselten Hände emporgedreht und ihn in den Wachraum gezogen. Nachdem er die Nennung seines Namens verweigert habe, habe ihm ein Polizeibeamter die Arme hinter dem Rücken hochgerissen und ihm den Kopf mehrmals gegen die Platte des Holztisches geschleudert; er habe auch ein paar Ohrfeigen bekommen. Nachdem er in eine Einzelzelle des Gefangenenhauses eingesperrt worden sei, seien ihm die Handschellen weiterhin in der Rückenhaltung der Hände belassen worden. Nach der Verwahrung in der Zelle habe der Beschwerdeführer laut nach einem Anwalt gerufen. Als er nicht aufgehört habe, zu rufen, sei er mit einem Bein mit einer Schließe an die Wand gefesselt worden. Die Handschellen und die Fußschelle seien am Morgen des nächsten Tages abgenommen worden. Er sei nach Einvernahme am 24. November 1976 gegen 12 Uhr entlassen worden. Nach der Entlassung seien bei ihm mehrere Verletzungen (blutunterlaufene Stellen und Schwellungen am Nasenrücken und im Bereich eines Auges, Schürfstellen und Schwellungen im Bereich beider Handgelenke) festgestellt worden.

Der Beschwerdeführer, der sich ausdrücklich auch "gegen die am 23. 11. 1976 erfolgte und bis 24. 11. 1976 andauernde Verwahrung" wendet, begehrt die Feststellung, "daß durch die Gewaltanwendung von seiten von Sicherheitsorganen der Bundespolizeidirektion Linz gegen den Bf. am 23. 11. u. 24. 11. 1976, insbesondere durch die Gewaltanwendung vor, während und nach seiner Festnahme und durch die Behandlung während der Haft verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte des Bf. verletzt worden sind".

2. Die belangte Bundespolizeidirektion Linz erstattete unter Aktenvorlage eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerde begehrt.

3. Der Beschwerdeführer wurde mit dem Urteil des Landesgerichtes Linz als Jugendschöffengericht vom 21. Feber 1977 des Vergehens des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt nach §§15, 269 Abs1 StGB und des Vergehens der Beleidigung nach §115 Abs1 StGB schuldig erkannt, dessen Tenor (auszugsweise) folgendermaßen lautet:

"Der Angeklagte A. J. ist schuldig, er hat am 23. November 1976 in Linz

A.) versucht, durch Faustschläge und Fußtritte die prov. Polizeiwachmänner M. S. und E. G. mit Gewalt an einer Amtshandlung, nämlich seiner Festnahme, zu hindern;

B.) vor mehreren Leuten die Pol. WM. M. S. und E. G. durch die Äußerung: 'Schleichts Euch, Ihr Schweine', beschimpft."

II. Der VfGH hat erwogen:

1. a) Aus dem Zusammenhalt des oben unter I.1. wiedergegebenen Feststellungsbegehrens der Beschwerde mit dem übrigen Beschwerdevorbringen, insbesondere der Erklärung des Beschwerdeführers, er wende sich "gegen die am 23. 11. 1976 erfolgte und bis 24. 11. 1976 andauernde Verwahrung", folgt, daß sich die vorliegende Beschwerde (abgesehen von der später zu erörternden Anwendung von Körperkraft gegen den Beschwerdeführer durch die Wachorgane sowie das Anlegen von Fesseln) gegen die behauptete Freiheitsbeschränkung des Beschwerdeführers ab jenem Zeitpunkt richtet, zu dem die Polizeibeamten im Gastlokal Hand an ihn legten.

b) Aufgrund der insoweit übereinstimmenden Parteienvorbringen steht fest, daß die einschreitenden Sicherheitswachebeamten jenes Verhalten des Beschwerdeführers, das den Gastwirt zum Ersuchen um Intervention von Sicherheitswachebeamten veranlaßte, selbst nicht wahrnahmen, ihn zum Verlassen des Lokals aufforderten und ihn - nachdem er dieser Aufforderung nicht Folge leistete - mit Gewalt aus dem Gastlokal brachten.

c) Es bedarf keiner näheren Erörterung, daß der Beschwerdeführer bereits in jenem Zeitpunkt, in dem die Polizeibeamten begannen, ihn durch Anwendung von Körperkraft aus dem Gastraum zu schaffen, nicht mehr persönlich frei, also in seiner persönlichen Freiheit beschränkt war. Da die hiemit beginnende (vorerst bis zur Widerstandsleistung durch den Beschwerdeführer zu betrachtende) Beschränkung seiner persönlichen Freiheit durch keine Rechtsvorschrift begründet war (auch die Festnehmungsgründe des §35 VStG kamen objektiv nicht in Betracht, weil der Beschwerdeführer keineswegs auf frischer Tat bei der Begehung einer Verwaltungsübertretung betreten wurde), fand somit eine iS des §4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit nicht erlaubte Verhaftung statt und es wurde der Beschwerdeführer dadurch in dem durch Art8 StGG und Art5 MRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.

2. Der VfGH hat bereits mehrmals ausgesprochen (s. zB VfSlg. 8145/1977 und 8654/1979), daß die Anwendung von Körperkraft im Rahmen exekutiver Zwangsbefugnisse dann gegen das durch Art3 MRK statuierte Verbot "erniedrigender Behandlung" verstößt, wenn ihr eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person zu eigen ist. So hat der VfGH im erstangeführten Erk. ein im Rahmen einer Festnehmung und Eskortierung einer Person, die keinen Widerstand leistete, erfolgtes gewaltsames Erfassen, Ergreifen an der Hose, schnelles Voranschieben und heftiges Stoßen in einen Raum als einen Verstoß gegen das in Rede stehende verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht beurteilt.

Ein vergleichbarer Fall liegt nach Ansicht des VfGH hier jedoch nicht vor. Der Beschwerdeführer räumt der Sache nach selbst ein, daß er in dieser Phase des Geschehens der - wenngleich zumindest in Ansehung der Freiheitsbeschränkung rechtswidrigen - Amtshandlung passiven Widerstand entgegensetzte, also selbst Anlaß zur (weiteren) Anwendung von Körperkraft gegen ihn gab, welche diesen Widerstand beugen sollte. Bei dieser durch das Einwirken auf den Beschwerdeführer mit körperlicher Gewalt und dessen passiver Gegenwehr charakterisierten Situation kann es nicht auf isoliert betrachtete Einzelheiten des Vorgehens gegen den Beschwerdeführer ankommen, sondern es ist das Gesamtbild des behördlichen Einschreitens zu beurteilen. Dessen Wertung führt zum Ergebnis, daß die Gewaltanwendung durch die Sicherheitswachebeamten bei der gegebenen Lage nicht unangemessen war und daß sohin eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Beschwerdeführers als Person und daher eine Verletzung des Art3 MRK nicht stattfand.

3. Was das weitere Einschreiten der Sicherheitswachebeamten gegen den Beschwerdeführer von seinem aktiven Widerstand gegen sie an bis zu seiner Überstellung in das Amtsgebäude der Bundespolizeidirektion Linz anlangt, ist sachverhaltsmäßig einerseits auf Grund der eigenen Angaben des Beschwerdeführers anläßlich seiner späteren Vernehmung vor der Bundespolizeidirektion Linz sowie andererseits des über ihn gefällten strafgerichtlichen Urteils festzuhalten, daß er sich sodann mit Faustschlägen und Fußtritten gegen die Polizeibeamten zur Wehr setzte.

Bei dieser Sachlage bestand der begründete Verdacht des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §269 Abs1 StGB, sodaß im Hinblick auf die Betretung auf frischer Tat gemäß §§175 Abs1 Z1, 177 Abs1 Z1 StPO die vorläufige Verwahrung des Beschwerdeführers zu Recht erfolgte. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit durch die weitere Anhaltung des Beschwerdeführers liegt somit nicht vor, zumal der in Verwahrung genommene Beschwerdeführer nach seiner Vernehmung am nächsten Tag gegen 12 Uhr freigelassen wurde, ohne daß ein Anhaltspunkt für eine Verzögerung der Amtshandlung besteht.

4. Da der Beschwerdeführer den Wachebeamten Faustschläge und Fußtritte versetzte, waren sie gehalten, diesem Widerstand entgegenzuwirken und ihn zu beenden. Diese Situation rechtfertigte den (auch) kraftvollen Einsatz von Körpergewalt und das Anlegen einer Handfessel. Von einer Verletzung des durch Art3 MRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes kann sohin nicht gesprochen werden.

5. a) Der VfGH vermag es nicht als erwiesen anzunehmen, daß der Beschwerdeführer nach seiner Einlieferung in das Amtsgebäude der Bundespolizeidirektion Linz mißhandelt, daß die Handfessel verspätet gelöst oder daß ihm die Fußfessel grundlos angelegt wurde.

Der Beschwerdeführer beruft sich zum Nachweis seiner Behauptungen ausschließlich auf die Aussage des (mit ihm befreundeten, zur gleichen Zeit festgenommenen und ebenfalls in das Amtsgebäude der Bundespolizeidirektion Linz verbrachten) Zeugen H. D., der anläßlich seiner Vernehmung vor der Bundespolizeidirektion Linz in der Sache des Beschwerdeführers am 25. November 1976 zwar eingehend und genau die Art und Weise der Festnahme des Beschwerdeführers und dessen Eskortierung zum Polizeiwagen schilderte, jedoch keinerlei Angaben über eine Mißhandlung des Beschwerdeführers nach dessen Einlieferung machte. Auch anläßlich seiner eigenen Einvernahme am 24. November 1976 stellte der Beschwerdeführer keine Behauptungen über eine Mißhandlung seiner Person auf; in der gerichtlichen Hauptverhandlung führte er seine Verletzungen auf das Einschreiten der Sicherheitswachebeamten im Gastlokal zurück. Bei dieser Beweislage gewinnt die Eintragung des (an der Festnehmung und Eskortierung des Beschwerdeführers nicht beteiligten) Polizeibezirksinspektors K. im Vorfallenheitsbuch des Polizeigefangenenhauses besondere Bedeutung und es erscheint daher nicht als unglaubwürdig, daß der Beschwerdeführer - wie hier festgehalten ist - gegen die Beamten tätlich wurde und sowohl die Abnahme der Effekten als auch die Verbringung in eine Sicherungszelle unter Anwendung von Brachialgewalt durchgeführt werden mußte, ferner daß der Beschwerdeführer dort "wie ein Verrückter" herumtobte und die Gefahr einer Selbstbeschädigung hintanzuhalten war. Es erscheint auch nicht als unglaubwürdig, daß dem Beschwerdeführer die Handfessel nach Verbringung in die Zelle und nach Abnahme der Effekten abgenommen wurde, zumal dieser (in einem Bericht dieses Sicherheitswachebeamten vom 1. März 1977 festgehaltene) Vorgang dem folgerichtigen Ablauf der Geschehnisse (Rückgabe der Handfessel an den die Festnehmung durchführenden Sicherheitswachebeamten) entspricht.

b) Zusammenfassend ist sohin festzuhalten, daß durch die (neuerliche) Anwendung von Körperkraft gegen den Beschwerdeführer und die Anwendung von Fesseln (s. dazu zB VfSlg 7081/1973) der Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art3 MRK nicht verletzt wurde.

6. Das Beschwerdevorbringen erbrachte auch keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Beschwerdeführer durch die unter 2. bis 5. erörterten Amtshandlungen infolge Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in einem Recht verletzt wurde.

Die Beschwerde war somit in diesem Umfang abzuweisen.

7. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG; da die Prozeßparteien jeweils teils obsiegten und teils unterlagen, erschien eine gegenseitige Aufhebung der Verfahrenskosten angebracht.

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