VfGH B351/82

VfGHB351/8224.2.1984

Art8 StGG; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Verhaftung nach §35 litc VStG und Anhaltung nach §36 Abs1 VStG wegen ungestümen Benehmens iS des ArtIX Abs1 Z2 EGVG; keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit

Normen

B-VG Art133 Z1
B-VG Art144 Abs1 / Prüfungsmaßstab
B-VG Art144 Abs3 idF BGBl 350/1981
EMRK Art3
StGG Art8
EGVG ArtIX Abs1 Z2 idF BGBl 252/1977
VStG §35 litc
VStG §36 Abs1
B-VG Art133 Z1
B-VG Art144 Abs1 / Prüfungsmaßstab
B-VG Art144 Abs3 idF BGBl 350/1981
EMRK Art3
StGG Art8
EGVG ArtIX Abs1 Z2 idF BGBl 252/1977
VStG §35 litc
VStG §36 Abs1

 

Spruch:

I. Die Beschwerde wird abgewiesen.

II. Der Antrag auf Abtretung der Beschwerde an den VwGH wird gleichfalls abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. O Ü begehrte in ihrer unter Berufung auf Art144 (Abs1) B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß sie durch (der Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. zuzurechnende) Amtshandlungen, nämlich ihre Festnahme am 19. Mai 1982 in Wien und ihre darauffolgende Verwahrung, demnach durch Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG, Art5 MRK) verletzt worden sei; hilfsweise wurde gemäß Art144 Abs3 B-VG iVm. §87 Abs3 VerfGG 1953 die Abtretung der Beschwerde an den VwGH beantragt.

1.1.2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. erstattete - unter Vorlage der Administrativakten - eine Gegenschrift und beantragte darin die Abweisung der Beschwerde.

1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß die Bf. am 19. Mai 1982, 4.20 Uhr, in der Vorhalle eines Hotels in Wien, E-gasse, von (Sicherheitswache-)Inspektor A H, den der Hotelportier herbeigerufen hatte, ua. wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 idF des Art1 Z8 des BGBl. 232/1977 gemäß §35 litc VStG 1950 festgenommen wurde und sich in der Folge bis 12 Uhr (desselben Tages) in Haft befand. Weiters ergeben die Akten, daß die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien als Berufungsbehörde über die Bf. mit der Berufungsentscheidung vom 28. Dezember 1982, Z SD 636/82, wegen der eingangs genannten Verwaltungsübertretung eine Geldstrafe von eintausend Schilling, im Nichteinbringungsfall eine Ersatzfreiheitsstrafe von fünf Tagen Arrest, verhängte.

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (zB VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 9860/1983).

2.1.2. Demgemäß ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug hier nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, zulässig.

2.2.1.1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

2.2.1.2. §35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung begehen und bei Begehung dieser Tat betreten werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann erfüllt ist, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974).

Gemäß §35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Bedingungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

2.2.2.1. Demgemäß war zunächst zu prüfen, ob das hier einschreitende Sicherheitsorgan mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen konnte, daß die Bf. sich die Übertretung nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 zuschulden kommen ließ (s. Punkt 1.2.).

2.2.2.2. Nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 igF begeht eine Verwaltungsübertretung, wer "sich ungeachtet vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht oder gegenüber einer Militärwache, während sich diese Personen in rechtmäßiger Ausübung des Amtes oder Dienstes befinden, ungestüm benimmt."

Der VfGH vertritt in ständiger Rechtsprechung (zB VfSlg. 9229/1981, zuletzt VfSlg. 9730/1983) - in Übereinstimmung mit der Judikatur des VwGH (zB VwSlg. 2263 A/1951, VwGH 14. 5. 1968 Z 1759/67 und 1. 3. 1979 Z 873/78) - die Auffassung, daß unter "ungestümem Benehmen" ein sowohl in der Sprache als auch in der Gestik der gebotenen Ruhe entbehrendes, mit ungewöhnlicher Heftigkeit verbundenes Verhalten anzusehen ist (s. auch VfSlg. 7464/1974).

2.2.3.1. Dazu stellt der VfGH aufgrund des durchgeführten Beweisverfahrens als erwiesen fest, daß am 19. Mai 1982 die damals in Begleitung eines Bekannten befindliche Bf. in eine wörtliche Auseinandersetzung mit dem Hotelportier P P verwicklt war, als die im Dienst befindlichen Inspektoren A H und F St. einschritten und sich um Streitschlichtung bemühten.

Die Bf. verhielt sich zu beiden Beamten jedoch aggressiv: Sie schrie laut, schimpfte erregt, gestikulierte heftig und drohte mit dienstlichen Schwierigkeiten. Außerdem zog sie Inspektor St. am Bart; auch zerrte sie an seiner Uniformjacke. Da wiederholte Abmahnungen erfolglos blieben, wurde schließlich die Festnahme der Bf. ausgesprochen.

2.2.3.2. Diese Sachverhaltsfeststellungen zum Tathergang stützen sich in erster Linie auf die unbedenklichen Aussagen der als Zeugen einvernommenen Inspektoren A H und St. Damit wurde die abweichende Aussage der als Partei gehörten Bf. widerlegt, die im Zeitpunkt der Amtshandlung in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit durch Alkoholgenuß deutlich beeinträchtigt und - wie insbesondere der Zeuge Oberkommissär Dr. F M glaubhaft bekundete - erst am 19. Mai 1982 vormittags hinlänglich ausgenüchtert war.

2.2.4. Angesichts dieser Sach- und Beweislage durfte der Zeuge A H mit gutem Grund annehmen, daß die (abgemahnte) Bf. eine Verwaltungsübvertretung nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 begangen habe. War aber die Beurteilung des Verhaltens der Bf. als Verwaltungsdelikt vertretbar und lag - wie hier - infolge Betretung auf frischer Tat und Tatwiederholung trotz (neuerlicher) Abmahnung der Festnehmungsgrund des §35 litc VStG 1950 vor, entsprach die bekämpfte Festnehmung dem Gesetz.

2.2.5.1. Unter den obwaltenden Umständen bestehen auch keine zureichenden Anhaltspunkte dafür, daß die Entlassung der Bf. aus der anschließenden verwaltungsbehördlichen Haft gesetzwidrig hinausgezögert worden sei.

2.2.5.2. Gemäß §36 Abs1 VStG 1950 hat die Behörde den (übernommenen) Festgenommenen sofort, spätestens aber binnen 24 Stunden nach der Übernahme zu vernehmen. Im vorliegenden Fall konnte die Vernehmung allein deshalb erst gegen Mittag des 19. Mai 1982 stattfinden, weil die Beschuldigte bis dahin infolge ihrer Alkoholisierung noch nicht vernehmungsfähig war, sodaß - bei Fortbestehen des Haftgrundes nach §35 litc VStG 1950 (s. hiezu: VfSlg. 9368/1982) - von einer ungerechtfertigten Verfahrensverzögerung nach Lagerung dieses Falles keine Rede ist.

2.2.6. Demgemäß wurde die Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

2.3.1. Aus diesen Erwägungen war die Beschwerde - da die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte weder konkret behauptet wurde, noch im Verfahren hervorkam und verfassungsrechtliche Bedenken gegen die den bekämpften Verwaltungsakten zugrunde liegenden Rechtsvorschriften nicht entstanden - als unbegründet abzuweisen.

2.3.2. Sollte die Beschwerde - wie der Vollständigkeit halber beigefügt sei - mit ihrer allgemeinen Behauptung einer "unvertretbaren" Behandlung während der Haftanhaltung (unter dem Aspekt der Verfassungsbestimmung des Art3 MRK) auf die Parteiaussage der Bf. Bezug nehmen, man habe ihr nicht die Möglichkeit gegeben, aus der Zelle zur Abortanlage geleitet zu werden, so fehlt es an jedem tatsächlichen Substrat für eine derartige Betrachtungsweise, wie der als Zeuge vernommene Sicherheitswachebeamte F B unbedenklich bestätigte.

2.4. Auch der Antrag auf Abtretung der Beschwerde an den VwGH war abzuweisen. Der VfGH hat die Gesetzmäßigkeit der Verhaftung und Haftanhaltung schlchthin zu untersuchen (VfSlg. 7427/1974, 7499/1975) und sich nicht etwa auf die Frage der Gesetzlosigkeit oder denkunmöglichen Gesetzeshandhabung zu beschränken (VfSlg. 8076/1977), sodaß für eine Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Verletzung sonstiger - einfachgesetzlich eingeräumter - Rechte kein Raum bleibt. Daraus ergibt sich aber, daß der VfGH zur Entscheidung dieser Sache ausschließlich zuständig ist (VfSlg. 8960/1980), eine Abtretung der Beschwerde an den VwGH also nicht in Betracht kommt.

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