Spruch:
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Die Rechtsanwaltskammer Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit € 2.340,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit Erkenntnis des Disziplinarrates der
Rechtsanwaltskammer Wien vom 23. November 2005 wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt,
"in seiner Äußerung vom 2. Juli 2003 zum AZ ... des ASG Wien
zum Wiedereinsetzungsantrag des Beklagten vom 26. Juni 2003, beleidigendes und unsachliches Vorbringen insofern erstattet zu haben, als er die Ausführungen der Beklagten als 'nachgerade peinliches Lamento' bezeichnete."
Er wurde hiefür der Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes schuldig erkannt und zur Disziplinarstrafe des schriftlichen Verweises sowie zum Ersatz der Kosten des Verfahrens verurteilt.
2.1. Der dagegen erhobenen Berufung des Beschwerdeführers wurde mit Erkenntnis der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im Folgenden: OBDK) vom 25. September 2006 keine Folge gegeben. Begründend wird ausgeführt, dass vom Arbeits- und Sozialgericht Wien für den 12. Juni 2003 eine vorbereitende Tagsatzung anberaumt worden sei. In diesem Verfahren habe der Beschwerdeführer die Klägerin und der Rechtsanwalt Dr. S die Beklagte vertreten. Da bei Aufruf der Verhandlung nur die Klägerin und der Beschwerdeführer erschienen seien, sei ein Versäumungsurteil gefällt worden. Mit Eingabe vom 26. Juni 2003 habe Dr. S gegen die Versäumung der Verhandlung einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit der Begründung, seitens seiner Kanzleipartnerin Dr. A E-R sei ihm ein unrichtiger Beginn der Verhandlung bekannt gegeben worden, gestellt. Im fraglichen Zeitraum habe große Hitze geherrscht, was die Leistung von Dr. A E-R möglicherweise negativ beeinflusst habe. In seiner Äußerung zum Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vom 2. Juli 2003 habe der Beschwerdeführer ausgeführt, ein Wiedereinsetzungsgrund liege nicht vor, wobei das Vorbringen des Dr. S als "nachgerade[s] peinliche[s] Lamento" bezeichnet worden sei. Dadurch habe der Beschwerdeführer die Grenzen des zulässigen Vorbringens iSd §9 Rechtsanwaltsordnung (im Folgenden: RAO) überschritten.
2.2. Auch der Berufung des Kammeranwalts wurde keine Folge gegeben. Dieser hatte beantragt, den Beschwerdeführer freizusprechen, weil die Voraussetzungen des §3 Diziplinarstatut 1990 vorlägen. Die OBDK begründete ihre Entscheidung dahingehend, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers in einem Schriftsatz erstattet worden sei, sodass von einem überlegten Verhalten ausgegangen werden könne.
3. Gegen dieses als Bescheid zu wertende Erkenntnis der OBDK richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Freiheit der Meinungsäußerung sowie auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides begehrt wird.
4. Die OBDK legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Beschwerdeausführungen entgegentritt.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Bedenken gegen die dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegenden Rechtsvorschriften werden in der Beschwerde nicht vorgebracht und sind beim Verfassungsgerichtshof auch aus Anlass dieses Beschwerdeverfahrens nicht entstanden.
Der Beschwerdeführer wurde daher durch den angefochtenen Bescheid nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt.
2.1. Unter dem Titel des Art10 EMRK behauptet der Beschwerdeführer, er sei gemäß §9 RAO befugt, alles, was er nach dem Gesetz zur Vertretung seiner Partei für dienlich erachte, unumwunden vorzubringen. Er vertrete in der inkriminierten Äußerung die Ansicht, dass Rechtsanwalt Dr. S als Wiedereinsetzungsgrund "einen nicht näher substantiierten Irrtum" oder "Versprecher" releviert habe. Rechtsanwalt Dr. S habe in seinem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als Grund angegeben, "dass es sich ... um jene Zeit handelte, in der wegen der untypischen, außergewöhnlich großen Hitze bereits an jenem Vormittag im Büro Temperaturen herrschten, die das Arbeiten und die Leistung aller Mitarbeiter möglicherweise negativ beeinflussten". Mit dieser Behauptung habe Rechtsanwalt Dr. S weder ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis noch ein geringes Verschulden darzutun vermocht. Das "nachgerade peinliche Lamento" beziehe sich auf den Versuch des Rechtsanwalts Dr. S, den nach Auffassung des Beschwerdeführers nicht erklärbaren und auch nicht entschuldbaren Irrtum oder Versprecher der Rechtsanwältin Dr. A E-R mit der Hitzewelle zu erklären. Die Vorgangsweise des Beschwerdeführers liege im Interesse des Klienten.
2.2. Nach Art10 Abs1 EMRK hat jedermann Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Vom Schutzumfang dieser Bestimmung werden sowohl reine Meinungskundgaben als auch Tatsachenäußerungen erfasst. Art10 Abs2 EMRK sieht allerdings im Hinblick darauf, dass die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, die Möglichkeit von Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen vor, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse u.a. der Aufrechterhaltung der Ordnung, des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer oder zur Gewährleistung des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung notwendig sind.
Ein Bescheid, der in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung eingreift, ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes u.a. dann verfassungswidrig, wenn ein verfassungsmäßiges Gesetz denkunmöglich angewendet wurde. Eine denkunmögliche Gesetzesanwendung liegt auch vor, wenn die Behörde dem Gesetz fälschlicherweise einen verfassungswidrigen - hier also: die besonderen Schranken des Art10 EMRK missachtenden - Inhalt unterstellt (VfSlg. 10.700/1985, 12.086/1989, 13.922/1992, 13.612/1993, 16.558/2002, VfGH 28.11.2006, B1226/06).
Gemäß §9 Abs1 RAO ist ein Rechtsanwalt befugt, alles, was er nach dem Gesetz zur Vertretung seiner Partei für dienlich erachtet, unumwunden vorzubringen, ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel in jeder Weise zu gebrauchen, welche seinem Auftrag, seinem Gewissen und den Gesetzen nicht widerstreiten.
Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung fordert besondere Zurückhaltung bei der Beurteilung einer Äußerung als strafbares Disziplinarvergehen (VfSlg. 13.122/1992, 14.006/1995). Der Verfassungsgerichtshof vermag in der inkriminierten Äußerung keine unsachliche oder durch Art10 EMRK nicht mehr gedeckte beleidigende Äußerung zu erkennen. Er ist vielmehr der Auffassung, dass die inkriminierte Äußerung - wenn auch mit einem möglichen Wortüberschwang (vgl. VfSlg. 13.122/1992, 16.267/2001) - nur den Unmut des Beschwerdeführers über den Versuch des Rechtsanwalts Dr. S, den Irrtum der Rechtsanwältin Dr. A E-R mit der Hitzewelle zu erklären, zum Ausdruck gebracht hat. Die Äußerung ist daher noch als zulässiges Angriffs- und Verteidigungsmittel iSd RAO zu werten. Der Verfassungsgerichtshof ist - unter den gegebenen Umständen - der Meinung, dass eine demokratische Gesellschaft die in Rede stehende Aussage hinnehmen kann, ohne dass ihre öffentliche Ordnung, der Schutz des guten Rufes oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung Schaden erleiden. Eine verfassungskonforme Auslegung der angewendeten Rechtsvorschrift muss daher zu dem Ergebnis führen, dass das Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und ein die Ehre und das Ansehen des Standes beeinträchtigendes Verhalten nicht vorliegen.
Der Beschwerdeführer wurde daher in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt.
Der Bescheid war daher aufzuheben.
3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VfGG. In dem zugesprochenen Betrag ist USt. in Höhe von € 180,- enthalten.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
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