VfGH B1286/87

VfGHB1286/8730.6.1988

Zur Zulässigkeit der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe durch den Gesetzgeber

Das in Art7 enthaltene Klarheitsgebot hat zum Ziel, dem einzelnen Orientierung seines Verhaltens am Gesetz zu ermöglichen

Verwertung nach §2 nur wegen Verstoßes gegen solche Berufs- und Standespflichten verfassungskonform, die sich aus gesetzlichen Regelungen oder verfestigten Standesauffassungen ergeben, die in einer dem Klarheitsgebot iS des Art7 MRK entsprechenden Bestimmtheit feststehen; kein entsprechend konkretisierter Vorwurf - Willkür

Normen

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art18 Abs1
MRK Art7
DSt 1872 §2
B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art18 Abs1
MRK Art7
DSt 1872 §2

 

Spruch:

Der Bf. ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird daher aufgehoben.

Die Rechtsanwaltskammer für Tirol ist schuldig, dem Bf. die mit S 11.000,-- bestimmten Kosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Mit Erkenntnis des Disziplinarrates der Tiroler Rechtsanwaltskammer vom 13. Juni 1986, Z D 22/84, wurde Rechtsanwalt Dr. J P C für schuldig erkannt,

"1.) der Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes begangen dadurch, daß er für den Fall, sollte auf einer Detaillierung seiner Honorarnote betreffend seine ehemalige Klientin A P bestanden werden, erklärte, 'daß es dann keine Senkung mehr gäbe, denn eine Detaillierung sei eine Unmenge Arbeit und daß dann seine Mandantin Jahre oder Jahrzehnte mit Raten belastet sei';

2.) des Disziplinarvergehens der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes begangen dadurch, daß er trotz mehrfacher Aufforderung bis heute seiner ehemaligen Klientin A P kein detailliertes Leistungsverzeichnis, das seiner Honorarnote von S 159.898,79 zugrunde liegt und keine Abrechnung über allfällige Eingänge seitens des Prozeßgegners übermittelt hat."

Dr. C wurde hiefür zu einer Geldbuße in der Höhe von S 8.000,-- und zum Ersatz der Kosten des Disziplinarverfahrens im Rahmen des Schuldspruches verurteilt.

Mit gleichem Erkenntnis wurde Dr. C von der weiteren Anschuldigung, er habe ein offenkundig überhöhtes Honorar von S 160.000,-- als Pauschalhonorar vorgeschlagen, freigesprochen.

1.2. Mit Erkenntnis vom 19. Dezember 1986, Z D 8/86, erkannte der Disziplinarrat der Tiroler Rechtsanwaltskammer Dr. J P C des weiteren der Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes schuldig, begangen dadurch, daß er von Parteien, die mit seinen Klienten in Vertragsverhandlungen treten wollten, vor Eintritt in dieselben folgende, von ihm verfaßte und seine Kanzleistampiglie tragende Erklärung unterfertigen ließ:

"Kostenersatzerklärung

Ich trete hiemit mit ... in Verhandlungen ein bezüglich

... und erkläre hiemit meinem Verhandlungspartner, ihm alle in

der Kanzlei seines Rechtsanwaltes Dr. C ... im Zusammenhang mit

diesen Verhandlungen auflaufenden Kosten und Gebühren nach dem Rechtsanwaltstarifgesetz und wenn davon die autonomen Honorarrichtlinien abweichen dann nach diesen zu ersetzen und dies gerade für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen, denn im anderen Falle ist ja die Kosten- und Gebührentragungspflicht ohnehin im Vertrag selbst enthalten. Die Fälligkeit tritt binnen 14 Tagen nach dem Scheitern ein. Ich bin mir auch klar darüber, daß mündliche Gespräche als unverbindlich gelten und Verbindlichkeit und Gültigkeit erst durch Unterfertigung des Vertrages eintritt.",

ohne in derselben darauf zu verweisen, daß im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen ohne Verschulden des Interessenten oder aus Gründen, die nicht in dessen Sphäre liegen, eine Kostenrückersatzpflicht nicht besteht.

Dr. C wurde hiefür zu einer Geldbuße in der Höhe von S 5.000,-- und zum Ersatz der Kosten des Disziplinarverfahrens im Rahmen des Schuldspruches verurteilt.

Mit gleichem Erkenntnis wurde Dr. C von der weiters wider ihn erhobenen Anschuldigung, daß er die Interessenten über die Höhe der zu erwartenden Kostenersatzpflicht nicht aufgeklärt hat, freigesprochen.

2.1. Den gegen diese Entscheidungen erhobenen Berufungen wurde mit Erkenntnis der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (künftig: OBDK) vom 13. Oktober 1987, Zlen. Bkd 108/86, Bkd 56/87, keine Folge gegeben.

Dies wurde im wesentlichen wie folgt begründet:

"Was zunächst das Faktum P anlangt, so hat der Beschuldigte in dem Schreiben vom 23. Februar 1984 der A P mitgeteilt, daß ihm ein Kostenersatzanspruch in einer bestimmten Höhe zusteht. Er hat dabei in Aussicht gestellt, daß man über die Höhe der Kosten noch wird reden können. Nun ist es ständige Rechtsprechung der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission, daß besonders in Kostensachen der Rechtsanwalt gegenüber seinem Mandanten sich der peinlichsten Genauigkeit zu befleißigen hat (AnwBl. 1959, 16, 1972, 15 u.a.). Nun wurde der Beschuldigte von dem Rechtsvertreter der A P - der seinerzeit bei ihm Konzipient gewesen ist - aufgefordert, seine Kosten der A P näher zu detaillieren. Der Beschuldigte wäre daher verpflichtet gewesen, eine solche Detaillierung vorzunehmen. Daraufhin hat der Beschuldigte das inkriminierte Schreiben vom 12. März 1984 (richtig: 19. März 1984) an den Rechtsvertreter der A P gerichtet und erklärt, daß dann, wenn auf eine Detaillierung, die eine Unmenge Arbeit verursacht, bestanden wird, es keine Senkung der Kosten mehr gäbe und daß A P Jahre oder Jahrzehnte mit Raten belastet sein wird. Ein solches Schreiben muß bei dem ehemaligen Mandanten den Eindruck erwecken, du hast zwar das Recht, aber wehe, du machst davon Gebrauch, dann mußt du bis auf den letzten Groschen alles bezahlen! Das bringt einen Rechtsanwalt in ein sehr schiefes Licht. ... Was das Faktum 2.) anlangt, so war dem Beschuldigten bekannt, daß A P auf einer Detaillierung der Kosten besteht. Der Beschuldigte hat diese Detaillierung aber trotzdem nicht vorgenommen. Er hat eine Klage eingebracht und diese dann eingeschränkt, indem er nicht mehr die Einzelleistungen begehrte, sondern auf den Einheitssatz umstellte. Auch diese Vorgangsweise muß bei Außenstehenden einen etwas eigenartigen Eindruck erwecken. ...

Entgegen den Ausführungen des Beschuldigten ist auch das Faktum 2.) des angefochtenen Erkenntnisses des Disziplinarrates der Tiroler Rechtsanwaltskammer vom 13. Juni 1986, D 22/84, nicht verjährt, weil dessen Präsident am 29. Oktober 1984 - also noch innerhalb der sechsmonatigen Frist des §2 a Abs1 Z1 DSt - im Sinne des §29 Abs1 DSt einen Untersuchungskommissär bestellt hat. Eine Verfolgungsverjährung käme daher nur mehr nach der Bestimmung des §2 a Abs1 Z2 DSt in Frage, deren Voraussetzungen jedoch nicht vorliegen.

Der Umstand, daß das vorerwähnte Faktum 2.) im Einleitungsbeschluß nicht enthalten ist, steht der Verurteilung des Beschuldigten nicht entgegen, weil eine Erweiterung der Anschuldigungspunkte in der mündlichen Disiziplinarverhandlung möglich ist (vgl. AnwBl. 1983, 706). Der Beschuldigte hat sich überdies gegen die ... vorgenommene Ausdehnung der Anschuldigungspunkte nicht ausgesprochen ...

Was das Faktum zu D 8/86 mit den 'Kostenersatzerklärungen' anlangt, so ergibt sich aus dem Text der vorliegenden Erklärungen nur, daß Interessenten, die wegen einer Wohnung mit der Mandantin in Verhandlungen treten, sich verpflichten, die Kosten der Kanzlei des Beschuldigten für den Fall des Scheiterns der Verhandlungen zu bezahlen. Von einem Verschulden ist in der Erklärung keine Rede. Es ist daher dem Disziplinarrat zu folgen daß nach dem Wortlaut dieser Erklärung schon das Scheitern der Verhandlungen allein den Interessenten zur Tragung der Kosten verpflichtet. Das ist ein Recht, welches der Beschuldigte für seine Mandantin ausbedungen hat, worauf diese aber keinen gesetzlichen Anspruch hatte. Es ist wohl richtig, daß es in unserem Schuldrecht den Grundsatz der Vertragsfreiheit gibt. Der Beschuldigte hätte aber jedenfalls schon im Text der Erklärung zum Ausdruck bringen müssen, daß nur bei einem Scheitern der Verhandlungen aus Verschulden des Interessenten die Kostenersatzpflicht entsteht. Dann wäre die Situation klar gewesen. Nach dem vorliegenden Text wäre aber eine reine Erfolgshaftung zu vereinbaren gewesen, was jedenfalls bei den Interessenten zu Mißverständnissen führen mußte. Wenn ein Rechtsanwalt derartige Erklärungen verfaßt und diese den Interessenten für Mietverträge zur Unterfertigung vorlegt, dann müssen diese so klar abgefaßt sein, daß keine Mißverständnisse entstehen können. ..."

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der eine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte geltend gemacht und die Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

Die bel. Beh. hat die Verwaltungsakten vorgelegt, auf Erstattung einer Gegenschrift jedoch verzichtet.

4. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

4.1. Der Bf. erachtet sich durch den angefochtenen Bescheid mehrfach in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt. Der Inhalt der Berufspflichten der Rechtsanwälte ergebe sich aus den hiefür maßgeblichen Rechtsvorschriften. Als solche Bestimmungen kämen in erster Linie die nach §37 RAO erlassenen Richtlinien (RL-BA) in Frage; die Berufspflichten müßten jedoch in den gesetzlichen Bestimmungen vorgezeichnet sein.

Weder aus der RAO noch aus den Richtlinien ergebe sich jedoch, daß sein Schreiben vom 19. März 1984 als Berufspflichtenverletzung qualifiziert werden könne. Als gesetzliche Grundlage käme demnach nur §2 DSt in Frage; diese Bestimmung sei jedoch wegen des ihr innewohnenden großen Beurteilungsspielraumes bedenklich. Jedenfalls habe die bel. Beh. §2 DSt bei Beurteilung des Schreibens vom 19. März 1984 in denkunmöglicher Weise angewendet. Der Bf. habe davon ausgehen können, daß sein "Ex-Konzipient" dieses Schreiben als Anbot verstehen würde, daß er gemäß §55 der RL-BA bereit sei, angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage seiner früheren Klientin einen Nachlaß auf die tarifmäßige Entlohnung zu gewähren; denkunmöglich sei, in den Ausführungen des zitierten Schreibens eine Drohung zu erblicken. Dazu komme, daß eine Berufspflichtenverletzung schon deshalb nicht in Frage komme, da er das Schreiben in eigener Sache abgefaßt habe. Einer Qualifizierung als Disziplinarvergehen gegen Ehre und Ansehen des Standes stünde entgegen, daß die gesellschaftliche Entwicklung des Anwaltsstandes dazu geführt habe, "daß in jedem Anwalt heute auch ein Kaufmann stecken (müsse), dessen Sinnen und Trachten hauptsächlich darauf gerichtet ist, kosten- und spesendeckend zu arbeiten". Trete ein Anwalt notgedrungen einem Klienten gegenüber härter als erwartet auf, obliege der Standesbehörde daher die Pflicht zu einer differenzierten Beurteilung. Darin, daß die bel. Beh. die gutgemeinte Absicht des Bf., eine weitgehende Nachsicht von Kosten zu gewähren, verkannt habe, liege auch ein in die Verfassungssphäre reichender Verstoß gegen das Willkürverbot.

Der angefochtene Bescheid stehe weiters im Widerspruch zu Art7 MRK, weil sowohl das Disziplinarstatut als auch die Rechtsanwaltsordnung den nach dieser Verfassungsbestimmung für einen Straftatbestand erforderlichen Mindestgehalt der Determiniertheit nicht aufweisen.

Zum Vorwurf, daß er seine Honorarforderung seiner ehemaligen Mandantin gegenüber nicht detailliert habe, verweist der Bf. darauf, daß er A P am 22. Mai 1985 eine Honorarnote übermittelt habe, die mit einem Betrag von S 159.898,79 endete. Wenn man diese Note (Beilage A in 11 Cg 253/85 LG Innsbruck) anschaue, dann liege auf der Hand, daß er seine Leistungen mit nachvollziehbarer Klarheit und Deutlichkeit aufgegliedert habe; schließlich werde im angefochtenen Bescheid ja auch festgestellt, daß er diese Leistungen tatsächlich erbracht habe. Da die bel. Beh. dennoch ausgesprochen habe, daß er die von ihm verlangte Detaillierung "bis heute" nicht vorgenommen habe, liege auch darin ein Verstoß gegen das Willkürverbot und ein denkunmögliches Vorgehen.

Der angefochtene Bescheid verstoße aber auch gegen Art6 Abs3 MRK, weil der Bf. erst in der mündlichen

Verhandlung vom 13. Juni 1986 mit der zusätzlichen Anschuldigung, kein detailliertes Leistungsverzeichnis und keine Abrechnung erstellt zu haben, konfrontiert worden sei; dies verstoße gegen das Gebot, daß jeder Angeklagte in möglichst kurzer Zeit über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen in Kenntnis zu setzen sei.

Dazu komme noch, daß ein Schuldspruch wegen dieses Faktums auch wegen Verjährung nicht mehr ergehen hätte dürfen.

Was schließlich die ihm als standeswidriges Verhalten angelastete Formulierung der Kostenersatzerklärung betreffe, verweise er auf seine Ausführungen zu §2 DSt.

Messe man aber die Beurteilung der Kostenersatzerklärung an den Vorschriften der RAO und an den RL-BA, dann zeige sich, daß die OBDK mit seiner Verurteilung diese Bestimmungen denkunmöglich ausgelegt habe. Tatsächlich habe der Bf. die in Rede stehende Kostenersatzerklärung nur in Erfüllung seiner "Warnpflicht" aufgelegt, um Interessenten, die mit seinem Klienten in Vertragsverhandlungen eintreten wollten, über eine "sie allenfalls treffende Schadenersatzpflicht (culpa in contrahendo) aufzuklären"; dazu komme, daß er jeden dieser Interessenten gleich aufmerksam gemacht habe, daß er nur seinen Klienten vertrete (um diesen auch in einem allfälligen Rechtsstreit aus dem abzuschließenden Vertrag vertreten zu können). Soweit ihm die OBDK insoferne einen Kunstfehler anlaste, daß die Erklärung bei juristischen Laien zu Mißverständnissen Anlaß geben könnte, verweise er darauf, daß dies jedenfalls nicht immer zu einer disziplinären Haftung führe. Selbst wenn man der Annahme der OBDK folge, daß die Erklärung mißverständlich gehalten sei, verweise er zusätzlich darauf, daß finanzielle Nachteile niemandem entstanden seien, zumal in zwei Rechtsstreiten, die er gestützt auf die Kostenersatzerklärungen für seinen Mandanten gegen abgesprungene Interessenten zu führen hatte, das Gericht die Kostenersatzforderungen auf Grund der in Rede stehenden Erklärung als zu Recht bestehend erklärte. Bei der Beurteilung seiner Vorgangsweise müsse ihm auch auf Grund der unbefriedigenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen Verständnis entgegengebracht werden. Seine langjährigen Erfahrungen hätten ihm gezeigt, daß es immer wieder vorgekommen sei, daß auch sich "ernstgebärdende" Interessenten grundlos abspringen. Wenn aber die warnende Kostenersatzerklärung über das Ziel hinausgeschossen habe, weil sie geradezu für eine reine Erfolgshaftung spreche, dann sei "dies eben allenfalls ein Kunstfehler".

4.2. Die Beschwerde ist im Ergebnis im Recht:

4.2.1. Der Bf. hält §2 DSt für verfassungswidrig und behauptet, durch den angefochtenen Bescheid insbesondere im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit verletzt zu sein.

Was den gegen §2 DSt der Sache nach erhobenen Vorwurf der Verfassungswidrigkeit wegen Unbestimmtheit des Inhaltes betrifft, verweist der VfGH zunächst auf seine Vorjudikatur (vgl. zB VfSlg. 3290/1957, 4886/1964, 5643/1967, 7494/1975, 7907/1976, 9160/1981, 11007/1986, 11350/1987), in der ausgesagt wurde, daß der Inhalt des Begriffes der Standespflichten aus den allgemeinen gesellschaftlichen Anschauungen und den gefestigten Gewohnheiten des jeweiligen (Berufs-)Standes festgestellt werden kann. Die Verwendung sogenannter unbestimmter Rechtsbegriffe wie sie sich in §2 DSt finden - durch den Gesetzgeber, die durch eine unscharfe Abgrenzung gekennzeichnet sind, ist hiebei dann zulässig und mit Art18 B-VG vereinbar, wenn die Begriffe einen soweit bestimmbaren Inhalt haben, daß der Rechtsunterworfene sein Verhalten danach einrichten kann und die Anwendung solcher unbestimmter Rechtsbegriffe durch die Behörde auf ihre Übereinstimmung mit dem Gesetz überprüft werden kann (vgl. auch VfSlg. 6477/1971 und die dort angeführte Vorjudikatur). Der VfGH hält an dieser Auffassung weiterhin fest.

Zusätzlich ist für das Disziplinarverfahren für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter im Hinblick auf die Schwere der im DSt angedrohten Strafen im Lichte des Urteils des EuGMR vom 8. Juni 1976 im Fall Engel (vgl. EuGRZ 1976, 221), wie der VfGH im Erkenntnis VfSlg. 11506/1987 (sogenanntes "Apothekerkammer-Erkenntnis") ausgesagt hat, Art6 MRK maßgeblich. In diesem Sinne hat der VfGH bereits mit Erkenntnis VfSlg. 11512/1987 die Tribunalqualität der OBDK geprüft und bejaht. Da somit für Disziplinarverfahren gegen Rechtsanwälte Art6 MRK zu beachten ist, kommt auch Art7 MRK Bedeutung zu.

Der VfGH hat zu dieser Verfassungsbestimmung wohl zunächst mit Erkenntnis VfSlg. 6842/1972 die Auffassung vertreten, daß Art7 MRK nichts über das Maß der im Gesetz zu treffenden inhaltlichen Konkretisierung des Straftatbestandes aussage, sondern lediglich über den Zeitpunkt, zu dem die Strafdrohung bestanden haben müßte; ersteres sei ausschließlich am Maßstab des Art18 Abs1 B-VG zu messen (in ähnlichem Sinne noch VfGH 17.12.1976 B336/76: "In dem nach Art7 MRK gewährleisteten Recht kann die Bf. schon deshalb nicht verletzt sein, weil ... das ihr zur Last gelegte Verhalten zur Zeit der Tat sehr wohl mit Strafe bedroht war", und VfSlg. 8087/1977, sowie 8195/1977: "Die MRK verbietet in ihrem Art7 lediglich die Rückwirkung von Strafgesetzen").

Die EKMR hat jedoch im Fall Handyside v. United Kingdom in der Dec. vom 4.4.1974, Appl. 5493/72 (CD 45,23), ähnlich in X v. Federal Republic of Germany, Appl. 7900/77, vom 6.3.1978 (DR 13,70), im Zusammenhang mit dem Verbot rückwirkender Strafgesetze zu Art7 MRK ausgesagt: "this principle includes the requirement that the offence should be clearly described by law". In der Dec. v. 12.12.1977 im Fall X v. Netherlands, Appl. 7721/76 (DR 11,209), sagte die EKMR weiters aus:

"In this respect the Commission recalls its case-law according to which Article 7 (1) 'does not merely prohibit except as provided in paragraph (2) - retroactive application of the criminal law to the detriment of the accused; it also confirms, in a more general way, the principle of the statutory nature of offences and punishment ('nullum crimen, nulla poena sine lege'), and prohibits, in particular, extension of the application of the criminal law 'in malam partem' by analogy' (cf. for instance Application No. 1852/63, Yearbook 8, pp. 190, 198)."

("In dieser Hinsicht ruft die Kommission ihre Rechtsprechung in Erinnerung, nach der Art7 Abs1 'nicht bloß die rückwirkende Anwendung von Strafrecht - von der in Abs2 vorgesehenen Ausnahme abgesehen - zum Nachteil des Angeklagten verbietet; sie bekräftigt auch allgemein den Grundsatz der Gesetzesform für strafbare Tatbestände und Strafdrohungen ('nullum crimen, nulla poena sine lege') und verbietet insbesondere die Ausdehnung der Strafrechtsanwendung 'in malam partem' im Analogieweg' (vgl. zB Appl. 1852/63, YB 8, S. 190, 198).")

Der VfGH hatte sich unter gleichen Aspekten im Erkenntnis VfSlg. 7907/1976 ebenfalls mit Art7 MRK zu befassen, nämlich mit dem spezifischen Vorwurf, das Disziplinarrecht der Beamten verstoße gegen diese Verfassungsbestimmung, weil - so der damalige Bf. - nicht einmal ein Hellseher die disziplinäre Strafbarkeit eines Verhaltens erkennen könne. Der VfGH beantwortete diesen Vorwurf damit, daß §87 DP in ausreichender Weise umschrieben sei, weshalb schon aus diesem Grund ein Verstoß gegen Art7 MRK nicht vorliege; implizit bezog der VfGH damit bereits in seine Beurteilung ein, daß Art7 MRK ein Klarheitsgebot enthält, das zum Ziel hat, dem Einzelnen zu ermöglichen, sein Verhalten am Gesetz zu orientieren.

Mit Erkenntnis VfSlg. 8903/1980 äußerte der VfGH, diese Gedanken vertiefend:

"Es darf nicht der individuellen Vollziehung überlassen bleiben, eine im Wortlaut eindeutige Strafnorm ergänzend oder berichtigend auszulegen ('nulla poena sine lege'; vgl. zur Unzulässigkeit einer Auslegung zum Nachteil eines Beschuldigten zB OGH 17.9.1975 9 Os 83-85/75, ÖRZ 1976 S 37 f.; OGH 21.4.1977 12 Os 9/77 verst. Senat, ÖRZ 1977, S 131 ff.). Eine extensive Auslegung eines Strafgesetzes in malam partem würde auch gegen die der österr. Verfassungsordnung angehörende Bestimmung des Art7 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten BGBl. 210/1958 in Verbindung mit dem BVG BGBl. 59/1964 verstoßen (vgl. Europäische Kommission für Menschenrechte Entscheidung 24.9.1963, Requete No. 1169/61, Slg. des Europarates Band 13 S 39 f.; Entscheidung 22.4.1965, Application No. 1852/63, Slg. des Europarates Band 16 S 38 f.)."

Mit Erkenntnis VfSlg. 9401/1982 sagte der VfGH schließlich - unter Berufung auf das eben zitierte Erkenntnis ausdrücklich aus, im Hinblick auf die Anforderung, "daß der Gesetzgeber die Elemente eines strafbaren Tatbestandes genau zu umschreiben" habe, dürfe es nicht der individuellen Vollziehung überlassen bleiben, eine Strafnorm ergänzend auszulegen; auf Grund einer - am Art7 MRK orientierten - verfassungskonformen Auslegung kam der Gerichtshof daher zur Aufhebung des damals angegriffenen Bescheides.

Im Ergebnis ist der VfGH einer Meinung mit Frowein (in Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, S. 183), daß "Art7 mit dem Verbot rückwirkender Strafgesetze eine der wichtigsten Grundlagen des rechtsstaatlichen Strafprozesses, aber darüber hinaus eine grundlegende Norm des Freiheitsschutzes" enthält. "Nur wenn der Bürger weiß, welches Verhalten strafbar ist, kann er seinen Freiheitsspielraum erkennen und ausnutzen. Ohne die Grundsätze nullum crimen sine lege und nulla poena sine lege wäre auch die für einen Rechtsstaat fundamentale Rechtssicherheit nicht gewährleistet."

Einer Verurteilung nach §2 DSt muß daher verfassungskonform im Sinne des Art7 MRK - zu Grunde liegen, daß sie wegen einer Verletzung von Berufspflichten oder wegen eines Verstoßes gegen Ehre und Ansehen des Standes erfolgt, die sich aus gesetzlichen Regelungen oder aus verfestigten Standesauffassungen (wozu allenfalls Richtlinien oder die bisherige (Standes-)Judikatur Bedeutung besitzen; vgl. hiezu Appl. 5493/72 (CD 45,23), aber auch Appl. 6782/74 (DR 9,13)) ergeben, die in einer dem Klarheitsgebot entsprechenden Bestimmtheit feststehen.

4.2.2. Für den vorliegenden Fall folgt hieraus: Der angefochtene Bescheid beschränkt sich darauf auszusprechen, daß der Bf. durch ihm angelastete Handlungen die Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes begangen habe, wofür er mit einer Geldbuße belegt wird. Dem angefochtenen Bescheid läßt sich - auch implizit - nicht entnehmen, gegen welche konkreten Berufspflichten der Bf. verstoßen hat und welche Standespflichten verletzt wurden, sodaß das inkriminierte Verhalten als Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes zu werten sei. Damit handelt es sich nicht mehr um eine bloße Verletzung von Verfahrensvorschriften oder eine unrichtige Anwendung einer vorhandenen Strafnorm (vgl. VfSlg. 6762/1972, 7814/1976, 9957/1984, 10032/1984, 10237/1984). Der angefochtene Bescheid gibt gar nicht vor, sich auf eine konkrete Bestimmung zu stützen; die bel. Beh. subsumiert den in Rede stehenden Sachverhalt nicht unter einen Tatbestand, sondern stellt lediglich Erwägungen darüber an, warum dem Bf. sein Verhalten subjektiv vorwerfbar sei.

Fehlt es - wie im angefochtenen Disziplinarerkenntnis am entsprechend konkretisierten Vorwurf der Verletzung von Berufspflichten bzw. von Ehre und Ansehen des Standes, so liegt wie vom VfGH dargelegt - mit Rücksicht auf die Bedeutung des Art7 MRK ein willkürliches Verhalten der Behörde vor. Dem aus Art7 MRK erfließenden Gebot entspricht die Behörde auch dann nicht, wenn sie - statt zu benennen, gegen welche konkrete Berufs- oder Standespflicht ein inkriminiertes Verhalten verstößt - sich mit Rechtsprechungshinweisen begnügt.

Die Fehlerhaftigkeit des angefochtenen Bescheides reicht somit in die Verfassungssphäre; die Mangelhaftigkeit eines solchen Bescheides steht mit der Rechtslage in einem solchen Maße im Widerspruch, daß der Behörde objektive Willkür anzulasten ist.

Es war daher auszusprechen, daß der Bf. durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger verletzt wurde.

4.3. Der angefochtene Bescheid ist demnach aufzuheben.

Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG; in den zuerkannten Kosten ist USt im Betrage von S 1.000,-enthalten.

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