OLG Wien 33R89/22h

OLG Wien33R89/22h29.11.2022

Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Hinger als Vorsitzenden sowie die Richterin Mag. Tscherner und den fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Wolfram Görner in der Rechtssache der Antragstellerin *****, vertreten durch die Patentanwalt Mikšovsky KG in Korneuburg, wegen Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats über den Rekurs der Antragstellerin gegen den Beschluss der technischen Abteilung des Patentamts vom 9.12.2021, SZ 34/2020‑7, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OLG0009:2022:03300R00089.22H.1129.002

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben und die angefochtene Entscheidung geändert; sie lautet:

Der Antragstellerin wird unter der Nummer SZ 34/2020 ein ergänzendes Schutzzertifikat für das Erzeugnis „Dapagliflozin Propylengylkol Hydrat/Saxagliptin“ aufgrund der Schutzzertifikatsanmeldung vom 12.8.2020 und der arzneimittelrechtlichen Genehmigung vom 15.7.2016 erteilt. Es gilt ab Ablauf der gesetzlichen Laufzeit des Grundpatents und endet mit 19.7.2031.

Der Wert des Entscheidungsgegenstands übersteigt EUR 30.000.

Der ordentliche Revisionsrekurs ist nicht zulässig.

Begründung

 

Die Antragstellerin beantragte die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats (in der Folge „ESZ“) für das Erzeugnis Saxagliptin und Dapagliflozin aufgrund des Grundpatents AT‑E 1242301 (EP 2139494 B1) mit dem Titel „Pharmazeutische Formulierungen mit Dapagliflozin-Propylengylkol-Hydrat“ und der arzneimittelrechtlichen Erstgenehmigung durch die Europäische Kommission vom 15.7.2016, EU/1/16/1108, zugestellt am 19.7.2016. Im Lauf des erstinstanzlichen Verfahrens änderte die Antragstellerin die Bezeichnung des vom begehrten ESZ‑VO umfassten Erzeugnisses mehrmals; zuletzt beantragte sie mit Äußerung vom 24.11.2021 die Erteilung eines ESZ‑VO für das Erzeugnis „Dapagliflozin-Propylengylkol-Hydrat/Saxagliptin“.

In Anspruch 10 des Grundpatents werde die Kombination von Dapagliflozin-Propylengylkol-Hydrat und Saxagliptin beansprucht, was dem Erzeugnis entspreche, für das das ESZ‑VO beantragt werde. Art 3a der Verordnung (EG) Nr 469/2009 vom 6.5.2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (ESZ‑VO) beziehe sich auf das „Erzeugnis“, das geschützt sei. Nach Art 1 lit b ESZ‑VO bezeichne das Erzeugnis den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung. Hier sei das Erzeugnis die Kombination der Wirkstoffe Dapagliflozin und Saxagliptin. Diese Kombination sei auch Gegenstand einer aufrechten Zulassung. Der Schutz des Grundpatents beziehe sich nicht nur auf das dort genannte spezifische Molekül Dapagliflozin-Propylengylkol-Hydrat. Aus der Beschreibung des Patents ergebe sich die Verwendung von Dapagliflozin in einer Vielzahl von Formen.

Die Ansprüche 1, 2, 3 und 10 des Grundpatents lauten auszugsweise:

1. Pharmazeutische Formulierung mit sofortiger Freisetzung in der Form eines Stammgranulats zum Laden in Kapseln oder zur Herstellung von Tabletten oder in der Form einer Kapsel oder einer Tablette, die das Stammgranulat enthält, wobei das Stammgranulat umfasst:

a) Dapagliflozin-Propylenglycolhydrat mit der Formel [...]

b) ein oder mehrere Füllstoffe;

c) ein oder mehrere Bindemittel;

d) ein oder mehrere Sprengmittel;

e) gegebenenfalls ein oder mehrere Fließregulierungsmittel und/oder Antihaftmittel; und

f) gegebenenfalls ein oder mehrere Schmiermittel.

2. Formulierung gemäß Anspruch 1, wobei

a) das Dapagliflozin-Propylenglycolhydrat in einer Menge in dem Bereich von 0,1 bis 70 Gew.-% des Stammgranulats oder der Tablette oder der Kapselfüllung vorhanden ist;

b) der Füllstoff in einer Menge in dem Bereich von 1 bis 95 Gew.-% des Stammgranulats oder der Tablette oder der Kapselfüllung vorhanden ist;

c) das Bindemittel in einer Menge von bis zu 20 Gew.-% des Stammgranulats oder der Tablette oder der Kapselfüllung vorhanden ist;

d) das Sprengmittel in einer Menge von bis zu 20 Gew.-% des Stammgranulats oder der Tablette oder der Kapselfüllung vorhanden ist;

e) das Fließregulierungsmittel und/oder Antihaftmittel, falls vorhanden, in einer Menge in dem Bereich von 0 bis 20 Gew.-% des Stammgranulats oder der Tablette oder der Kapselfüllung vorhanden ist; und

f) das Schmiermittel, falls vorhanden, in einer Menge in dem Bereich von 0 Gew.-% bis 5 Gew.-% der Tablette des Stammgranulats oder der Tablette oder der Kapselfüllung vorhanden ist.

3. Formulierung gemäß Anspruch 1, wobei der Füllstoff mikrokristalline Cellulose und/oder Lactosemonohydrat ist, das Bindemittel vorgelierte Stärke ist, das Sprengmittel Natriumstärkeglycolat, Crospovidon und/oder Croscarmel-lose-Natrium ist, das Fließregulierungsmittel und/oder Antihaftmittel Siliciumdioxid und/oder Talkum ist und das Schmiermittel Magnesiumstearat ist.

[...]

10. Formulierung gemäß einem der Ansprüche 1 bis 3, ferner umfassend Saxagliptin.

Mit Beschluss vom 9.12.2021 wies die technische Abteilung des Patentamts die ESZ-Anmeldung zurück. Das Grundpatent schütze ausschließlich eine pharmazeutische Formulierung, die als Wirkstoff Dapagliflozin-Propylengylkol-Hydrat, gegebenenfalls in Kombination mit Saxagliptin enthalte. Dapagliflozin-Propylengylkol-Hydrat sei eine Additionsverbindung oder ein Co-Kristall und könne kein Erzeugnis iSd Art 1 lit b ESZ‑VO sein. Ein solches Erzeugnis sei nur der Stoff oder die Stoffzusammensetzung, der/die als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten bezeichnet wird. Dieser Stoff sei das Dapagliflozin. Die als Erzeugnis gewählte Bezeichnung Dapagliflozin-Propylengylkol-Hydrat erfülle nicht die Vorgaben des Art 1 lit b ESZ‑VO, wonach ein solches Erzeugnis ausschließlich der Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammenhang eines Arzneimittels sein dürfe.

Dagegen richtet sich der Rekurs der Antragstellerin aus dem Rechtsmittelgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung. Sie beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und das ESZ‑VO mit der Produktdefinition „Saxagliptin und Dapagliflozin“ zur Registrierung zuzulassen, hilfsweise, den Beschluss aufzuheben und das ESZ‑VO mit der Produktdefinition „Dapagliflozin-Propylengylkol-Hydrat/Saxagliptin“ zur Registrierung zuzulassen.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist im Sinne des Eventualbegehrens berechtigt.

1. Nach Art 3 ESZ‑VO wird ein Zertifikat erteilt, wenn in dem Mitgliedsstaat, in dem die Anmeldung des Zertifikats eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung (a) das Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist; (b) für das Erzeugnis als Arzneimittel eine gültige Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß der RL 2001/83/EG bzw der RL 2001/82/EG erteilt wurde; (c) für das Erzeugnis nicht bereits ein Zertifikat erteilt wurde; und (d) die unter (b) erwähnte Genehmigung die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel ist.

Nach Art 1 lit b ESZ‑VO bezeichnet der Ausdruck „Erzeugnis“ den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels.

1.1. Das ESZ‑VO ist ein besonderes, wenn auch einem bestimmten (Grund-)Patent akzessorisches Schutzrecht. Der Sache nach handelt es sich um eine Verlängerung des Patentschutzes. Das ESZ‑VO ist zwar formell als eigenes Schutzrecht ausgestaltet, bezweckt aber nur eine Verlängerung der Patentlaufzeit für bestimmte zulassungspflichtige Produkte. Der Patentschutz wird nicht für die Erfindung als solche verlängert, sondern für ein bestimmtes Erzeugnis (Wirkstoff oder Wirkstoffzusammensetzung), das patentgeschützt und im Zertifikat-Anmeldestaat für die Verwendung als Arznei- oder Pflanzenschutzmittel zugelassen ist (17 Ob 5/11a mwN).

1.2. Ziel des ESZ‑VO ist die Wiederherstellung einer ausreichenden Dauer des wirksamen Grundpatentschutzes, indem dessen Inhaber nach Ablauf des Patents eine zusätzliche Ausschließlichkeitsfrist eingeräumt wird, die den Rückstand bei der wirtschaftlichen Verwertung seiner Erfindung zumindest teilweise ausgleichen soll, der aufgrund der Zeitspanne von der Einreichung der Patentanmeldung bis zur Erteilung der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Union eingetreten ist (EuGH C‑121/17, Teva; Erwägungsgründe 3 ff ESZ‑VO).

2. Prüfungsgegenstand

2.1. Die Antragstellerin ist Inhaberin des am 21.3.2008 angemeldeten Grundpatents EP 2139494 B1 (AT‑E 1142301), pharmazeutische Formulierungen mit Dapagliflozin-Propylengylkol-Hydrat. Anspruch 10 des Patents ist eine Formulierung mit Dapagliflozin-Propylengylkol-Hydrat und Saxagliptin.

2.2. Mit Beschluss der Europäischen Kommission vom 15.7.2016 wurde der Antragstellerin die Zulassung für das Humanarzneimittel „Qtern–Saxagliptin/Dapagliflozin“ gemäß der VO (EG) Nr 726/2004 des europäischen Parlaments und des Rates erteilt. Dieser Beschluss wurde der Antragstellerin am 19.7.2016 zugestellt.

2.3. Das im Verfahren erster Instanz zuletzt erhobene Antragsbegehren bezieht sich auf die Erteilung eines ESZ für das Erzeugnis Dapagliflozin-Propylengylkol-Hydrat/Saxagliptin.

2.4. Diese Zubereitung ist vom Grundpatent geschützt. Außerdem liegt eine gültige Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels mit dieser Formulierung vor. Die Voraussetzungen für die Erteilung des Zertiifikats nach Art 3 lit a und b ESZ‑VO wären damit erfüllt. Das Patentamt verweigerte die Erteilung des Zertifikats aber mit dem Argument, es handle sich bei der Formulierung nicht um ein „Erzeugnis“ iSv Art 1 lit b ESZ‑VO.

3. Nach Art 1 lit b ESZ‑VO bezeichnet der Ausdruck „Erzeugnis“ den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels.

3.1. Der Begriff „Wirkstoff“ wird durch die Verordnung nicht definiert. Nach der Rechtsprechung des EuGH fällt ein Stoff, der keine eigene arzneiliche Wirkung entfaltet und dazu dient, eine bestimmte Darreichungsform des Arzneimittels zu erreichen, nicht unter den Begriff „Wirkstoff“, der seinerseits die Definition des Begriffs Erzeugnis ermöglicht (EuGH C‑431/04, MIT, Rn 16, 25).

3.2. Weiters ist zu bedenken, dass nach Art 3 lit c ESZ‑VO für jedes Erzeugnis nur ein Zertifikat erteilt werden kann.

3.3. Daraus ergibt sich nach Ansicht des Senats, dass für die Beurteilung, ob ein Erzeugnis nach der ESZ‑VO vorliegt, jene Elemente der angemeldeten Wirkstoffkombination außer Acht zu bleiben haben, die keine eigene arzneiliche Wirkung aufweisen.

3.4. Dem Patentamt ist zuzustimmen, dass der eigentliche Wirkstoff Dapagliflozin ist. In der hier beanspruchten Form eines Propylengylkol-Hydrats weist er keine andere arzneiliche Wirkung auf, sondern nur veränderte physiochemische Eigenschaften, wie die Stabilisierung der Inhaltsstoffe in einer Tablette, die Aufnahme des Wirkstoffs in einem Organismus oder die – im Grundpatent beschriebene – rasche Freisetzung des Wirkstoffs. Dass der Wirkstoff in Form eines Propylengylkol-Hydrats offenbart ist, ändert nichts daran, dass der Gegenstand der Anmeldung ein Erzeugnis mit der Wirkstoffkombination Dapagliflocin/Saxagliptin iSd Art 1 lit b ESZ‑VO ist.

3.5. Die Interpretation des Patentamts würde zum Ergebnis führen, dass für die dem Grundpatent entsprechende pharmazeutische Formulierung kein ESZ erteilt werden könnte. Es würde aber dem dargestellten Zweck der ESZ‑VO widersprechen, wenn nur dann eine Verlängerung des Patentschutzes für die Verwendung als Arzneimittel in Betracht käme, wenn das Grundpatent einen reinen Wirkstoff offenbarte.

3.6. Die Rechtsprechung ermöglicht regelmäßig die Erteilung von ESZ für die Derivate eines Wirkstoffs, wie Salze und Ester als Arzneimittel (vgl etwa EuGH C‑392/97, Farmitalia; 4 Ob 98/18t, wo auf SZ 35/2006 Bezug genommen wird).

4. Da sämtliche Voraussetzungen des Art 3 ESZ‑VO erfüllt sind, ist das Zertifikat für das Erzeugnis Dapagliflozin-Propylengylkol-Hydrat/Saxagliptin zu erteilen.

Die Erteilung eines Zertifikats für „Saxagliptin“ und „Dapagliflozin“ kommt nicht in Betracht, weil diese Produktdefinition nicht dem zuletzt erhobenen Antragsbegehren im Verfahren erster Instanz entspricht. Dieser insofern neue Sachantrag verstößt gegen das Neuerungsverbot im Außerstreitverfahren (vgl RS0006796). Auch die daraus abgeleitete Unzulässigkeit von Eventualbegehren im Rekursverfahren (vgl RS0006796 [T7, T8 und T9]) spricht aber nicht dagegen, dem Eventualbegehren stattzugeben, da es sich dabei um das letztgültige Hauptbegehren des Verfahrens erster Instanz handelt.

5. Die Laufzeit des Zertifikats war nach Art 13 Abs 1 und 2 ESZ‑VO festzulegen. Als Zeitpunkt der Genehmigung für das Inverkehrbringen wurde in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH (Rs C‑471/14, Seattle Genetics Inc.) das Zustelldatum 19.7.2016 herangezogen.

6. Der Ausspruch über den Wert des Entscheidungsgegenstands beruht auf § 526 Abs 3 iVm § 500 Abs 2 Z 1 ZPO und ergibt sich aus der Bedeutung von Patentansprüchen im Wirtschaftsleben.

7. Der ordentliche Revisionsrekurs war nicht zuzulassen, weil keine Rechtsfrage zu lösen war, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung eine erhebliche Bedeutung zukäme.

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