European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1984:0080OB00541.840.0412.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Begründung:
Die am 31. 5. 1979 geborene Fatima T***** ist ein eheliches Kind des M***** und der Bahriye T*****, Eltern und Kind sind türkische Staatsangehörige. Die Eltern leben seit Jahren in Österreich (derzeit in Innsbruck), wo der Vater berufstätig ist.
Das Kind verblieb zunächst in der Obhut einer Großmutter in der Türkei und wurde dann im Februar 1983 von den Eltern nach Österreich geholt, wo es zunächst mit ihnen im gemeinsamen Haushalt (in P*****) lebte.
Mit rechtskräftigem Beschluss des Erstgerichts vom 4. 8. 1983 (ON 6) wurde über Antrag der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck bezüglich der mj Fatima gemäß § 26 JWG die gerichtliche Erziehungshilfe durch Unterbringung des Kindes im Kinderheim Axams angeordnet. Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass die mj Fatima im Frühjahr 1983 von den Eltern wiederholt schwer misshandelt worden sei, wodurch das Kind Hämatome am ganzen Körper, einen Bruch des linken Unterarms und eine Quetschung des rechten Ohres erlitten habe. Beide Eltern wurden rechtskräftig wegen Vergehens des Quälens eines Unmündigen nach § 92 Abs 1 und Abs 3 StGB strafgerichtlich verurteilt. Die Anordnung der gerichtlichen Erziehungshilfe durch Unterbringung des Kindes im Kinderheim Axams sei notwendig, um weiteren Misshandlungen des Kindes durch die Eltern vorzubeugen.
Am 27. 9. 1983 wurde das Kind durch die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck dem Ehepaar A***** in V***** in Pflege gegeben.
Mit rechtskräftigem Beschluss des Erstgerichts vom 3. 11. 1983 (ON 16) wurde unter anderem die weitere Unterbringung des Kindes auf dem Pflegeplatz bei dem Ehepaar A***** im Rahmen der gerichtlichen Erziehungshilfe pflegschaftsbehördlich genehmigt.
Am 27. 12. 1983 (ON 19) stellten die Eltern beim Erstgericht den Antrag auf Aufhebung der gerichtlichen Erziehungshilfe bezüglich der mj Fatima und Überlassung der Pflege und Erziehung des Kindes an die Großmutter mütterlicherseits Gülfidan S*****.
Die Eltern begründeten diesen Antrag im Wesentlichen damit, dass sie beabsichtigten, weiter in Österreich zu bleiben. Aufgrund der vorgefallenen Schwierigkeiten seien sie der Meinung, dass das Kind bei der in D***** (einer Stadt in der Nähe von Izmir) wohnhaften Großmutter besser aufgehoben sei. Die Großmutter sei verheiratet, führe den Haushalt und wohne mit ihrer Familie in einem eigenen Haus; ihr Mann sei Ziegeleimeister. Das Kind habe, bevor es die Eltern nach Österreich geholt hätten, bei dieser Großmutter gelebt und sei von ihr gut aufgezogen und gepflegt worden. Die Großmutter sei aus der Türkei angereist, um das Kind mit sich zu nehmen. Das Kind sei türkischer Staatsangehöriger und die Eltern wollten auch aus religiösen Gründen das Kind nicht bei den derzeitigen Pflegeeltern, sondern in seiner Heimat aufwachsen lassen.
Die Großmutter erklärte vor dem Erstgericht, dass sie das Kind liebe und die Möglichkeit habe und auch bereit sei, das Kind zu sich zu nehmen.
Das Erstgericht hob die angeordnete gerichtliche Erziehungshilfe auf und übertrug die Pflege und Erziehung des Kindes der Großmutter Gülfidan S*****; bis zur Rechtskraft des Beschlusses ordnete es die weitere Unterbringung des Kindes auf dem derzeitigen Pflegeplatz bei dem Ehepaar A***** an.
Das Erstgericht begründete diese Entscheidung im Wesentlichen damit, dass das Kind mit wenigen Monaten zur Großmutter Gülfidan S***** gekommen und bei dieser bis Februar 1983 in Pflege und Erziehung gewesen sei. Die Großmutter, die Hausfrau sei und in der Türkei mit ihrer Familie ein eigenes Haus bewohne, habe genügend Zeit, sich um das Kind zu kümmern und sei auch bereit, es wiederum zu sich zu nehmen. Sie habe das Kind während der Zeit, in der es bei ihr gelebt habe, sehr lieb gewonnen und es wie ein eigenes Kind gehalten.
Das Kind habe sich an seinem Pflegeplatz bei dem Ehepaar A***** sehr gut eingelebt und fühle sich dort sehr wohl. Es habe sich nach anfänglichen Schwierigekiten im Heim zu einem ganz normalen 4 ½‑jährigen Kind entwickelt und spreche mittlerweile auch sehr gut deutsch. Die Beziehung zwischen den Pflegeeltern und dem Kind sei sehr herzlich und liebevoll.
Im Hinblick darauf, dass die Großmutter, die das Kind bis Februar 1983 bei sich gehabt habe, nach Innsbruck angereist sei und sich dem Gericht gegenüber bereit erklärt habe, das Kind wiederum in Pflege und Erziehung zu behalten, erscheine die Aufrechterhaltung der gerichtlichen Erziehungshilfe nicht mehr notwendig, da mit der Übertragung der Pflege und Erziehung des Kindes an die Großmutter auch gewährleistet sei, dass das Kind von den Eltern nicht mehr misshandelt werden könne. Es liege kein Erziehungsnotstand mehr vor.
Um eine Ausreise des Kindes aus Österreich vor rechtskräftiger Aufhebung der gerichtlichen Erziehungshilfe zu verhindern, sei vorläufig die weitere Unterbringung des Kindes bei der jetzigen Pflegefamilie anzuordnen.
Dem gegen diese Entscheidung gerichteten Rekurs der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck gab das Rekursgericht mit dem angefochtenen Beschluss Folge. Es änderte die Entscheidung des Erstgerichts dahin ab, dass es den Antrag der Eltern, die gerichtliche Erziehungshilfe bezüglich der mj Fatima aufzuheben und die Pflege und Erziehung des Kindes der Großmutter Fülfidan S***** zu übertragen, abwies.
Das Rekursgericht führte im Wesentlichen aus, dass die Absicht der Großmutter, die Pflege und Erziehung des Kindes zu übernehmen und es in die Türkei mitzunehmen, sehr achtenswert sei. Grundsätzlich sollten Kinder in jenem Staat bzw in jenem Kulturkreis aufwachsen, dem sie angehörten. Es dürfte auch eine gedeihliche Erziehung des Kindes bei der Großmutter gewährleistet sein.
Die Eltern hätten allerdings nur eine beschränkte Aufenthaltserlaubnis in Österreich und auch die Arbeitsbewilligung des Vaters laufe mit Ende Februar 1984 ab. Unter diesen Umständen müsse davon ausgegangen werden, dass das Kind bei einer Rückführung in die Türkei dem Einflussbereich seiner Eltern nicht entzogen werde, zumal im Falle der Aufhebung der gerichtlichen Erziehungshilfe die elterliche Gewalt wieder aufleben und nicht die Großmutter von vornherein die Pflege und Erziehung des Kindes ausüben würde. Die Einstellung der Eltern zu ihrem Kind habe sich allerdings nicht geändert; sie hätten nach wie vor keinerlei besondere Beziehung zu diesem Kind, weshalb weitere Misshandlungen nicht ausgeschlossen werden könnten, wenn sie wiederum die elterliche Gewalt ausübten.
Es dürfe auch nicht außer Acht gelassen werden, dass jeder Umgebungswechsel mit großen Nachteilen für das Kind verbunden sei. Das Kind würde wiederum die vertrauten Bezugspersonen, die es in der Zwischenzeit lieb gewonnen habe, verlieren. Die Gefahr des Auftretens von Depressionen oder von anderen schwerwiegenden Verhaltensstörungen sei gegeben. Die bisherige Entwicklung habe bereits gezeigt, das jeder plötzliche Milieuwechsel dem Kind erhebliche Schwierigkeiten dieser Art verursacht habe. Durch die derzeitigen Pflegeeltern sei eine sehr gute Betreuung des Kindes gewährleistet. Eine neuerliche Entfernung aus dem bereits gewohnten Familienverband liege derzeit nicht im Interesse des Kindes.
Unter diesen Umständen könne nicht gesagt werden, dass der Zweck der gerichtlichen Erziehungshilfe erreicht oder dessen Erreichung in anderer Weise sichergestellt sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss im Sinne der Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichts abzuändern.
Der Vater führt in seinem Rechtsmittel im Wesentlichen aus, dass bei der Übergabe des Kindes in Pflege und Erziehung der Großmutter seine gedeihliche Entwicklung sichergestellt sei. Die Befürchtung, dass das Kind trotz Unterbringung bei den Großeltern eventuellen Misshandlungen der Eltern ausgesetzt sei, sei nicht gerechtfertigt, da die Großeltern das Kind schützen und außerdem auch die türkischen Behörden ihre Maßnahmen treffen würden. Der Vater sei damit einverstanden, dass das Kind auch dann in Pflege und Erziehung der Großmutter bleibe, wenn er mit seiner Frau wieder in die Türkei zurückkehren sollte. Das Kind solle in jenem Staat bzw Kulturkreis aufwachsen, dem es angehöre.Da eine gedeihliche Entwicklung des Kindes bei seiner Großmutter gewährleistet sei, liege kein Erziehungsnotstand mehr vor.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist nicht berechtigt.
Die inländische Gerichtsbarkeit ist im vorliegenden Fall gemäß § 110 Abs 1 Z 2 JN gegeben, weil die mj Fatima ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hat. Auf die Bestimmungen des Haager Minderjährigenschutzabkommens (BGBl 1975/446) ist nicht einzugehen, weil dieses Abkommen nur auf Staatsangehörige von Vertragsstaaten anzuwenden ist (s dazu Schwimann , Grundriss des internationalen Privatrechtes 246), zu denen die Türkei derzeit nicht zählt.
Was die Frage des anzuwendenden Rechts anlangt, ist davon auszugehen, dass die Bestimmungen des JWG, die auch eine Einschränkung oder Aufhebung auf dem Familienrecht beruhender Erziehungsrechte gegen den Willen der Erziehungsberechtigten zulassen (§§ 26 ff JWG), öffentliches Recht enthalten. Ihre Anwendbarkeit auf ausländische Kinder richtet sich nicht nach den Regeln des internationalen Privatrechts, sondern nach denen des öffentlichen Rechts, das hier vom Territorialitätsprinzip beherrscht wird. Die Frage der Aufhebung der im vorliegenden Fall im Rahmen des § 26 JWG beschlossenen oder genehmigten Maßnahmen der Erziehungshilfe richtet sich daher nach österreichischem Recht (EvBl 1978/159 mit weiteren Literatur‑ und Judikaturhinweisen).
Nach § 27 JWG kann das Vormundschaftsgericht derartige Maßnahmen von Amts wegen oder auf Antrag aufheben, wenn ihr Zweck erreicht oder dessen Erreichung in andere Weise sichergestellt ist oder wenn sich die Erreichung des Zwecks als voraussichtlich unmöglich erweist.
Der Zweck der im vorliegenden Fall angeordneten bzw genehmigten Maßnahmen der Erziehungshilfe liegt eindeutig darin, das Kind vor weiteren Misshandlungen der Eltern zu schützen. Da keinerlei Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich in der Einstellung der Eltern zu ihrem Kind irgendeine positive Änderung ergeben hätte, sodass es vertretbar wäre, das Kind wieder seinen Eltern zu überlassen, kann zunächst keine Rede davon sein, dass der Zweck der im vorliegenden Fall ergriffenen Maßnahmen nach § 26 JWG erreicht wäre. Eine Aufhebung dieser Maßnahmen käme daher im Sinne des § 27 JWG nur dann in Betracht, wenn die Erreichung des mit ihnen angestrebten Zwecks in anderer Weise sichergestellt wäre.
Dies wäre aber bei der von den Eltern angestrebten Überlassung der Pflege und Erziehung des Kindes an die Großmutter nicht der Fall.
Wie sich aus § 24 IPRG ergibt, sind die Rechtsbeziehungen zwischen Eltern und ihren ehelichen Kindern nach dem Personalstatut des Kindes zu beurteilen (s dazu Duchek‑Schwind , Internationales Privatrecht 64; Schwimann aaO 226 f), im vorliegenden Fall nach türkischem Recht. Nach diesem untersteht das Kind während der Zeit seiner Minderjährigkeit der elterlichen Gewalt; diese kann den Eltern nicht ohne rechtmäßige Gründe entzogen werden. Wohl muss der Richter, wenn die Eltern ihre Pflichten dem Kind gegenüber nicht erfüllen, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Kinder treffen; er kann sie erforderlichenfalls der Obhut der Eltern entziehen und in einer Familie oder einer Anstalt unterbringen und er kann äußerstenfalls sogar Eltern ihr Recht entziehen (Art 262, 272, 273 und 274 des türkischen Bürgerlichen Gesetzbuches, abgedruckt bei Bergmann‑Ferid , Internationales Ehe‑ und Kindschaftsrecht, Länderteil Türkei 27 f). Da aber in der Türkei ausländische Entscheidungen in Angelegenheiten des Familienrechts nicht anerkannt werden ( Bergmann‑Ferid aaO 12), kann im vorliegenden Fall durch eine von einem österreichischen Gericht getroffene Entscheidung, mit der die Pflege und Erziehung des Kindes der Großmutter überlassen wird, nicht sichergestellt werden, dass den Eltern künftige Misshandlungen des Kindes unmöglich gemacht werden. Da eine derartige Entscheidung in der Türkei nicht anerkannt würde, die Großmutter aber die erklärte Absicht hat, das Kind wieder in die Türkei zu bringen, wäre damit in keiner Weise gewährleistet, dass die Eltern (in der Türkei) nicht wieder die Gewalt über das Kind erlangen und ihre Misshandlungen fortsetzen könnten.
Schon damit zeigt sich, dass die von den Eltern angestrebte Überlassung der Pflege und Erziehung des Kindes an die Großmutter nicht geeignet ist, den durch die getroffenen Anordnungen nach § 26 JWG angestrebten Zweck in anderer Weise sicherzustellen.
Dazu kommt aber noch, dass nach den im Akt erliegenden Unterlagen (insbesondere ON 15, 18 und 22) das Kind an seinem derzeitigen Pflegeplatz bestens betreut wird und sich offensichtlich so gut eingelebt hat, dass eine neuerliche Änderung der Erziehungssituation dem Wohl des Kindes in krasser Weise widerspräche. Solange sich die Eltern des Kindes selbst in Österreich aufhalten, liegt es überdies auch in ihrem Interesse, das Kind an seinem derzeitigen Pflegeplatz in Österreich zu belassen, weil damit auch ihnen die Möglichkeit geboten wird, wieder einen Kontakt mit ihrem Kind herzustellen und damit eine Voraussetzung dafür zu schaffen, dass die Pflege und Erziehung ihres Kindes einmal wieder ihnen selbst überlassen werden kann.
Unter diesen Umständen entspricht die Entscheidung des Rekursgerichts durchaus der Sach‑ und Rechtslage, sodass dem Revisionsrekurs des Vaters ein Erfolg versagt bleiben muss.
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