European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:1984:0070OB00560.840.0419.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss sowie die erstgerichtliche Entscheidung werden aufgehoben. Die Rechtssache wird an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung
Mit dem angefochtenen Beschluss bestätigte das Rekursgericht die Entscheidung des Erstrichters, womit der ehelichen Mutter die ihr bisher zustehenden elterlichen Rechte und Pflichten nach den §§ 144 und 177 ABGB entzogen und dem Vater mit der Auflage zugeteilt wurden, die beiden, derzeit 14 und 12 Jahren alten Kinder in Pflege und Erziehung bei der väterlichen Großmutter zu belassen.
Der dagegen von der Mutter erhobene außerordentliche Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Da die elterlichen Rechte und Pflichten nach der Scheidung der Ehe der Eltern aufgrund des vom Pflegschaftsgericht genehmigten Vergleichs vom 7. 4. 1978 bisher der Mutter zustanden, handelt es sich bei der nun zu treffenden Entscheidung nicht mehr um eine solche nach § 177 ABGB. Eine Entziehung oder Einschränkung der bereits zuerkannten elterlichen Rechte und Pflichten kommt vielmehr gemäß § 176 Abs 1 ABGB nur noch in Betracht, wenn der bisher berufene Elternteil durch sein Verhalten das Wohl des mj Kindes gefährdet; dabei darf das Gericht gemäß § 176 Abs 3 ABGB die elterlichen Rechte nur soweit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes nötig ist. Eine solche Änderung der elterlichen Rechte und Pflichten setzt voraus, dass besondere wichtige Gründe vorliegen, sodass eine Änderung nicht nur vorteilhaft wäre, sondern dringend geboten ist; dabei ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (EvBl 1979/42, SZ 51/136 uva). Die Entziehung oder Einschränkung der elterlichen Rechte und Pflichten kann nur als äußerste Notmaßnahme gerechtfertigt sein (SZ 51/112). Sie widerspricht offenbar dem Gesetz, wenn hiefür keine besonders wichtigen, die Änderung rechtfertigende Gründe vorliegen (1 Ob 740/83). Allerdings liegt ein das Wohl des Kindes gefährdendes Verhalten eines Elternteils vor, wenn dieser auf den ihm nach § 177 Abs 2 ABGB zuerkannten elterlichen Rechten und Pflichten beharrt, obwohl dadurch eine konkrete ernste Gefahr für die Entwicklung des Kindes zu befürchten ist. Ein solches Beharren auf dem Recht, obwohl dies zu einem eindeutigen und schweren Schaden für das Kind führen muss, stellt einen Missbrauch der Erziehungsgewalt dar, der eine Änderungsmaßnahme des Gerichts rechtfertigt (EFSlg 31.354 uva). Ein Verfahrensmangel vom Gewicht einer Nichtigkeit, der auch aufgrund eines außerordentlichen Revisionsrekurses nach § 16 Abs 1 AußStrG zu berücksichtigen ist, liegt aber vor, wenn die dem Gericht obliegende Stoffsammlung so mangelhaft blieb, dass dadurch das Recht der Parteien auf Gehör verletzt wurde (SZ 54/124 ua). Eine offenbare Gesetzwidrigkeit ist anzunehmen, wenn das Gericht bei der Ermessensentscheidung darüber, welchem Elternteil das Kind in Pflege und Erziehung zu überlassen ist, nicht die Lebensverhältnisse beider Elternteile in seine Erwägung einbezieht (4 Ob 515/78 ua).
Im vorliegenden Fall macht die Rekurswerberin den Vorinstanzen mit Recht den Vorwurf, ihre Persönlichkeit und ihre Lebensverhältnisse nicht in objektiver Weise überprüft zu haben, obwohl die Mutter die Kinder nach der Scheidung einige Jahre ohne Widerspruch des Vaters betreut hat. Vor allem der wahre Grund des Spitalsaufenthalts der Rekurswerberin im Sommer 1982, nach welchem sie dann die Kinder von der väterlichen Großmutter nicht mehr herausbekam, wurde nicht untersucht und eine vollständige Krankengeschichte nicht eingeholt. Es konnte deshalb die Behauptung des Vaters bisher nicht objektiviert werden, dass die Mutter dem Alkohol verfallen war, und ebenso blieb offen, ob und welche sonstigen erheblichen Bedenken gegen eine Erziehung der Kinder durch die Mutter bestehen. Beim Fehlen solcher Bedenken dürfte die Tatsache, dass die Kinder aus Anlass eines Spitalsaufenthalts von der Mutter weggebracht werden mussten, die Rückgabe selbst dann nicht hindern, wenn inzwischen die väterliche Großmutter – und nicht etwa der Vater, der sich von seiner zweiten Frau getrennt hat und die Kinder nicht mehr ernstlich für sich in Anspruch nimmt – für die Kinder zur stabilen und zuverlässigen Bezugsperson geworden ist und sie auch die pädagogischen Fähigkeiten zur weiteren Erziehung der Kinder besitzt. Nach dem oben Gesagten würde auch eine bloße Verbesserung der Zukunftsaussichten für die psychische und soziale Entwicklung der Kinder nicht ausreichen, um sie endgültig von der Mutter zu entfernen, zumal der Sachverständige eine fortbestehende starke emotionale Bindung zwischen den Kindern und der Mutter festgestellt hat. Selbst die durch einen allfälligen neuerlichen Milieuwechsel hervorgerufene Belastung der Kinder muss nicht den Ausschlag geben. Eine solche Belastung kann im Einzelfall je nach der Art der Umstellung, dem Alter und der Sensibilität verschieden sein. Demgemäß ist einer solchen Belastung im Einzelfall verschiedenes Gewicht beizumessen und es kann nicht allein deshalb, weil die Rückführung der Kinder zu der Mutter einen Milieuwechsel bedeuten würde, das ihr zuerkannte Recht beseitigt werden. Es besteht zwar kein Rechtssatz, wie ihn die Rekurswerberin behauptet, dass jüngere Kinder grundsätzlich zur Mutter gehören. Dennoch muss die Pflege und Erziehung der Kinder durch die Mutter einer solchen durch die väterliche Großmutter dann vorgezogen werden, wenn nicht ernste Bedenken gegen die Person der Mutter bestehen oder den Kindern durch einen neuen Milieuwechsel schwere gesundheitliche oder psychische Schäden drohen.
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