OGH 7Ob55/17i

OGH7Ob55/17i14.6.2017

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache der Bewohnerin F* H*, geboren am *, vertreten durch VertetungsNetz- Sachwalterschaft, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung, (Bewohnervertreterin: Mag. N* H*), *, vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, Vertrauensperson Mag. E* H*, Einrichtungsleiter Mag. E* G*, vertreten durch Prof. Haslinger & Partner, Rechtsanwälte in Linz, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 2. Februar 2017, GZ 21 R 31/17f‑17, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 11. November 2016, GZ 36 HA 2/16p‑8, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:E118745

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

Die Bewohnerin leidet an schwerer Demenz vom Typ Alzheimer und ua an einem „Verarmungswahn“, weshalb sie immer wieder in der Meinung aus dem Heim flüchtet, es sich nicht mehr leisten zu können. Zur Linderung des damit verbundenen Leidensdrucks wird ihr in Dauermedikation Risperdal und Halcion verabreicht und im Einzelfall Risperdion bei Unruhe, Dominal forte bei Schlaflosigkeit, Halcion bei Einschlafstörungen und Haldol Tropfen bei starker Unruhe. Sämtliche Medikamente haben auch sedierende Wirkung. Die Intention der Gabe ist nicht die Bewegungsdämpfung sondern die Linderung der psychotischen Realitätsverkennung und die Beruhigung und Erleichterung des Einschlafens, die in Kontext mit der psychotischen Realitätsverkennung und der damit verbundenen Anspannung stehen. Die Bedarfsmedikation wird nur dann verabreicht, wenn die Unruhe stark und auf die psychotische Realitätsverkennung zurückzuführen ist und davor jeweils versucht werde, die Bewohnerin anderweitig zu beruhigen, was aber nicht ausreichend dokumentiert wurde. Auch die Unruhezustände, die letztlich zur Medikamentengabe führten, wurden nicht ausreichend in der Pflegedokumentation beschrieben. Dem Pflegepersonal ist es möglich, zwischen „normaler“ Unruhe und psychotisch bedingten, starken Unruhezuständen der Bewohnerin zu unterscheiden. Die Einzelmedikation wurde nicht gemeldet. Die Behandlung der Bewohnerin war auch unter Berücksichtigung der Kombination und Dosierung der Medikation lege artis. Der Grund für die Verabreichung waren die mit der Realitätsverkennung einhergehende Angst‑und Panikzustände mit den daraus resultierenden Einschlafstörungen. Diese sollten gelindert werden. Die sedierende Wirkung war eine (bloße) Begleiterscheinung.

Die psychomotorische Unruhe der Bewohnerin führt zu großem Bewegungsdrang, sodass sie teilweise bis zur Erschöpfung „unterwegs“ ist, und zwar auch außerhalb des Seniorenheims. Dies insbesondere, wenn sie von der Sorge getrieben wird, sich das Heim nicht mehr leisten zu können. So musste sie wiederholt zurückgebracht werden, indem sie vom Pflegepersonal aufgefunden, abgelenkt, in ein Gespräch verwickelt und so ins Heim zurückbegleitet wurde. Am 20. 7. 2016 war sie derart erschöpft, dass sie mit einem Rollstuhl abgeholt und zurückgebracht werden musste, weil sie nicht mehr in der Lage war, mit ihrem Rollator selbst zurückzugehen. Auch in diesem Punkt ist allerdings die Pflegedokumentation der Einrichtung mangelhaft.

Das Erstgericht wies – soweit für das Revisionsrekursverfahren noch relevant – die Anträge auf Unzulässigerklärung der Dauer- und Einzelmedikation sowie des Zurückbringens ins Zimmer ab.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Hier sei der Therapiezweck nicht auf die Einschränkung des Bewegungsdrangs der Bewohnerin oder deren Sedierung gerichtet gewesen. Auch werde die Bewohnerin ohne Zwang oder Druck in das Heim zurückgebracht. Die Problmatik der Kompensation gravierender Dokumentationsmängel durch andere Beweismittel stelle sich hier nicht, weil die Dokumentation iSd § 6 HeimAufG in Relation zu dessen Anforderungen zu stellen sei. Ein gravierender Dokumentationsmangel liege hier aber nicht vor.

Der ordentliche Revisionsrekurs wurde mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zugelassen.

Der Verein beantragt in seinem außerordentlichen Revisionsrekurs, sowohl die Einzel- als auch Dauermedikation und das Hindern am Verlassen der Einrichtung bzw Zurückbringen ins Zimmer mit dem Rollstuhl am 20. 7. 2016 für unzulässig zu erklären. Diese Vorgangsweisen seien Freiheitsbeschränkungen und überdies auch deshalb unzulässig, weil keine ausreichende Dokumentation erfolgt sei. Diese sei aber im Licht der Einschränkung des Grundrechts auf persönliche Freiheit für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme von zentraler Bedeutung.

Der Einrichtungsleiter beantragt in der ihm freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen; in eventu, ihm keine Folge zu geben. Weder die medikamentösen Maßnahmen noch das Zurückbringen der Bewohnerin seien Freiheitsbeschränkungen. Es erübrige sich damit die Frage der ausreichenden Dokumentation, weil eine Prüfung der materiellen und formellen Voraussetzungen für eine zulässige Freiheitsbeschränkung in den §§ 4 bis 7 HeimAufG zuvor das Vorliegen einer solchen Freiheitsbeschränkung iSd § 3 HeimAufG voraussetze.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; er ist aber nicht berechtigt.

1. Zum Einsatz des Rollstuhls:

Grundsätzlich wird die Bewohnerin bei „Rückholungen“ ohne Zwang und Druck in ein Gespräch verwickelt und geht dann – abgelenkt - mit. Darin liegt keine Freiheitsbeschränkung (vgl auch 7 Ob 126/16d; 7 Ob 205/16x). Am 20. 10. 2016 war sie so erschöpft, dass sie nicht mehr gehen konnte. Dass sie im Rollstuhl fixiert worden wäre, steht nicht fest und wird auch nicht behauptet. Auch in der konkreten Form der Rückholung liegt daher keine Freiheitsbeschränkung, weil die Bewohnerin nach den Feststellungen ansonsten durch ihren Erschöpfungszustand gänzlich bewegungsunfähig gewesen wäre. Dass sie gegen ihren Willen zurückgebracht worden sei, steht hingegen nicht fest. Das Einsetzen eines Rollstuhls, um der Bewohnerin die Teilnahme am sozialen Leben oder die Fortbewegung allgemein zu ermöglichen, schränkt die Bewegungsfreiheit der Bewohnerin, die sich sonst nicht fortbewegen könnte, aber gerade nicht ein. Vielmehr wird dadurch der Bewegungs- und Handlungsspielraum und somit die Mobilität sogar erhöht. In einem solchen Fall geht der Gesetzgeber nicht von einer Freiheitsbeschränkung im Sinn des § 3 Abs 1 HeimAufG aus, jedenfalls solange der Rollstuhl nicht überlange eingesetzt wird (vgl 7 Ob 193/16g; 7 Ob 199/16i; RIS‑Justiz RS0121662 [T13]). Anderes gilt nur, wenn der Rollstuhl gerade dazu dient, eine selbständige Fortbewegung des Bewohners zu verhindern (7 Ob 21/16p), was hier, ebenso wie ein überlanger Einsatz des Rollstuhls, nicht der Fall war.

2. Zur Medikation:

Es kann zwar grundsätzlich nicht entscheidend sein, ob eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit durch physische Zwangsmaßnahmen wie Einsperren oder Festbinden des Patienten oder durch pharmakologische Beeinflussung erfolgt, die eine massive Beschränkung der Bewegungsfreiheit bezwecken.

Auch stark sedierende Mittel haben zur Folge, dass der Patient nicht mehr in der Lage ist, sich nach seinem freien Willen örtlich zu verändern (RIS-Justiz RS0106974). Selbst wenn Medikamente der Reduktion eines krankhaft erhöhten Bewegungsdrangs auf ein normales Maß dienen, sind sie daher eine Freiheitsbeschränkung iSd § 3 HeimAufG, wenn sie direkt auf den Bewegungsdrang einwirken sollen (7 Ob 62/12m).

Eine Freiheitsbeschränkung durch medikamentöse Mittel ist aber umgekehrt nur dann zu bejahen, wenn die Behandlung unmittelbar die Unterbindung des Bewegungsdrangs bezweckt, nicht jedoch bei unvermeidlichen bewegungsdämpfenden Nebenwirkungen, die sich bei der Verfolgung anderer therapeutischer Ziele ergeben können (RIS-Justiz RS0121227). Dass die Nebenwirkungen in Kauf genommen wurden, ändert daran nichts.

Hier waren die Medikamente zur Behandlung der psychotischen Zustände therapeutisch notwendig und wurden lege artis verabreicht. Nach den Feststellungen war keine Dämpfung gewollt, sondern die Sedierung nur Nebenwirkung. In Bezug auf die Einzelfallmedikation war das Personal auch in der Lage „gewöhnliche“ Unruhezustände von „psychotischen“ zu unterscheiden und hat die Medikamente zweckentsprechend verabreicht.

Eine Freiheitsbeschränkung liegt daher auch darin nicht.

3. Zur Dokumentationspflicht:

Gemäß § 6 Abs 1 HeimAufG sind der Grund, die Art, der Beginn und die Dauer der Freiheitsbeschränkung schriftlich zu dokumentieren. Ärztliche Zeugnisse und der Nachweis über die notwendigen Verständigungen sind diesen Aufzeichnungen anzuschließen. § 6 Abs 2 HeimAufG verpflichtet zur Dokumentation von Freiheitsbeschränkungen mit Zustimmung des Bewohners (Freiheitseinschränkungen).

Über die Dokumentationspflicht nach dieser Bestimmung hinaus bestehen weitere Dokumentationspflichten:

Angehörige der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe haben etwa nach § 5 GuKG die von ihnen gesetzten gesundheits- und krankenpflegerischen Maßnahmen zu dokumentieren. Die Dokumentation hat insbesondere die Pflegeanamnese, die Pflegediagnose, die Pflegeplanung und die Pflegemaßnahmen zu enthalten (vgl zu den Grenzen dieser Dokumentationspflicht Aistleithner/Rappold, Pflegeprozess und Dokumentationspflicht, ÖZPR 2016/19).

Darüber hinaus trifft alle Ärzte eine Dokumentationspflicht, die sich aus dem Gesetz (§ 51 Abs 1 ÄrzteG) und dem Behandlungsvertrag ergibt (vgl RIS-Justiz RS0119345). Die Zwecke dieser Dokumentationspflicht sind Therapiesicherung, Beweissicherung und Rechenschaftslegung; alle wesentlichen diagnostischen Ergebnisse und therapeutischen Maßnahmen müssen spätestens am Ende des einzelnen Behandlungsabschnittes aufgezeichnet werden (RIS-Justiz RS0108525; 3 Ob 2121/96z; vgl auch allgemein zum Inhalt der Dokumentation Kletečka-Pulker in Aigner/Kletečka/Kletečka-Pulker/Memmer, Handbuch Medizinrecht Kap. I.5.4).

Die Dokumentationspflicht nach § 6 HeimAufG wird schon nach dem Wortlaut des Gesetzes erst durch eine Freiheitsbeschränkung ausgelöst (vgl Zierl, Zur Dokumentations- und Meldepflicht nach Vornahme einer Freiheitseinschränkung, ÖZPR 2016/30). Sie dient zwar auch dazu, spätere Unaufklärbarkeiten zu vermeiden (7 Ob 249/11k), besteht aber dennoch nur in Bezug auf Freiheitsbeschränkungen als formelle Voraussetzung, deren Fehlen zur Unzulässigkeit der Maßnahme führt und nicht schon bei jeglicher Betreuungs‑ bzw Medikationsmaßnahme. Die angestrebte Auslegung, dass bei allen medizinischen Maßnahmen zusätzlich zu dokumentieren sei, warum sie keine Freiheitsbeschränkungen im Sinn des HeimAufG sind, ist dem Gesetz hingegen nicht zu entnehmen.

Dadurch entsteht keine Dokumentationslücke. Es greift vielmehr die allgemeine ärztliche Dokumentationspflicht, die nicht in Zusammenhang mit Freiheitsbeschränkungen besteht.

Freiheitsbeschränkungen liegen hier aber in Bezug auf die vom Revisionsrekursverfahren betroffenen Maßnahmen nicht vor, sodass keine Dokumentation nach § 6 HeimAufG gefordert werden kann.

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