European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00054.22Z.0428.000
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.040 EUR (darin enthalten 340,38 EUR an USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Zwischen dem Kläger und der Beklagten besteht ein Berufsunfähigkeits‑Versicherungsvertrag mit einer Versicherungsdauer von 1. 12. 2013 bis 1. 12. 2038. Diesem liegen die Versicherungsbedingungen der Berufsunfähigkeits‑Versicherung und Berufsunfähigkeits‑Zusatzversicherung (in Folge: AVB) zugrunde. Diese lauten auszugsweise:
„ § 3. Berufsunfähigkeit im Sinn dieser Bedingungen :
(1) Definition der Berufsunfähigkeit
a) Berufsunfähigkeit, die Leistungspflicht im Sinne dieser Bedingungen auslöst, liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen zu mindestens 50 % außerstande ist, ihre zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit, so wie sie ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, auszuüben und sie keine andere ihrer Ausbildung und Erfahrung und ihrer bisherigen Lebensstellung entsprechende berufliche Tätigkeit ausübt.
[...]
§ 7. Beginn und Ende des Leistungsanspruchs
[...]
(3) Der Anspruch auf Versicherungsleistungen aus der Berufsunfähigkeits‑Versicherung bzw ‑Zusatzversicherung erlischt, wenn eine Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen nach § 3 und § 12 nicht mehr vorliegt, [...]
§ 11. Leistungserbringung durch den Versicherer
[...]
(6) Nach Prüfung der uns eingereichten sowie der von uns beigezogenen Unterlagen erklären wir, ob und für welchen Zeitraum wir eine Leistungspflicht anerkennen. Grundsätzlich erfolgt die Entscheidung über unsere Leistungspflicht ohne zeitliche Befristung. Nur in begründeten Einzelfällen ist die ein‑ oder mehrmalige Befristung unseres Leistungsanerkenntnisses für insgesamt zwölf Monate zulässig.
[...]
§ 12. Nachprüfung der Berufsunfähigkeit
(1) Nach Anerkennung oder Feststellung unserer Leistungspflicht sind wir berechtigt, das Fortbestehen der Berufsunfähigkeit oder der Pflegebedürftigkeit im Sinne dieser Bedingungen (§ 3) nachzuprüfen. Für die Dauer eines zeitlich befristeten Anerkenntnisses nach § 11 Abs 6 ist die Nachprüfung ausgeschlossen.
Wir können auch prüfen, ob die versicherte Person, nach dem Eintritt der Berufsunfähigkeit neue berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat. In diesem Fall liegt eine Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen nicht mehr vor, wenn alle nachfolgenden Voraussetzungen zutreffen:
‑ Die versicherte Person übt auf Basis dieser neu erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten auch tatsächlich eine neue berufliche Tätigkeit aus.
‑ Die versicherte Person kann aufgrund ihrer gesundheitlichen Verhältnisse diese Tätigkeit auch ausüben.
‑ Diese ausgeübte berufliche Tätigkeit entspricht der Lebensstellung der versicherten Person zum Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit in dem früheren Beruf.
Liegen diese Voraussetzungen vor, ist es unerheblich, ob die Berufsunfähigkeit in dem früheren Beruf andauert.
[...]
(3) Ist die Berufsunfähigkeit weggefallen oder hat sich ihr Grad auf weniger als 50 % vermindert, stellen wir unsere Leistungen ein. [...]
[...]“
[2] Der Kläger schloss im Jahr 1996 eine Lehre als Tischler ab und warjahrelang in diesem Beruf tätig. Seit 2015 war er bei der B* GmbH Vollzeit als Kanalarbeiter beschäftigt. Für die Verwendung diverser Arbeitsmittel bzw die Durchführung diverser Arbeitsvorgänge absolvierte er Schulungen und besuchte Seminare. Seine Tätigkeit als Kanalarbeiter umfasste im Wesentlichen die Sanierung der Kanalböden einschließlich Betonarbeiten, Ausbesserungsarbeiten und Schremmarbeiten. Der Kläger bediente schwere Werkzeuge wie einen Schremmhammer oder eine Bohrmaschine und trug Lasten wie Betonsäcke und Kübel.
[3] Am 22. März 2018 hatte der Kläger einen Unfall, bei welchem er sich einen Bruch des vierten Lendenwirbels und des Außenknöchels rechts zuzog. Bis Anfang Mai 2019 befand er sich im Krankenstand. Er kann aufgrund seiner Einschränkungen seinen erlernten Beruf als Tischler oder die bis zum Unfallzeitpunkt ausgeübte Tätigkeit eines Kanalarbeiters nicht mehr ausüben.
[4] Seit Mai 2019 arbeitet der Kläger wieder 25 Wochenstunden bei der Firma B* GmbH als Mitarbeiter im Lager. Er ist zuständig für das Erfassen von Materiallieferungen durch die Eingabe von Lieferscheinen am PC, wobei er auch bei der Materialausgabe mitwirkt. Materialanforderungen werden von ihm am PC bearbeitet und der Lagerplatz wird von ihm eruiert. Ein Arbeitskollege des Klägers ist sodann zuständig für die Herbeischaffung des angeforderten Materials aus dem Lager samt anschließender Ausgabe. Überdies veranlasst der Kläger auch Reparaturen, wenn Werkzeuge beschädigt sind oder gewartet werden müssen. Das Erfassen der Materiallieferungen und die gesamte Materialausgabe wurden zuvor von einem einzigen Mitarbeiter erledigt.
[5] Der Kläger wurde für seine nunmehrige Tätigkeit etwa zwei bis drei Tage durch einen Arbeitskollegen eingeschult; insbesondere wurde ihm der Umgang mit dem PC‑Programm gezeigt. Der Kläger hatte beruflich bis dahin nicht mit dem PC zu tun. Die Kenntnisse, die sich der Kläger betriebsintern für seine nunmehrige Tätigkeit angeeignet hat, genügen für den Regelarbeitsmarkt nicht. Er ist daher unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarkts mit seinem Leistungskalkül als Lagerlogistiker nicht einsetzbar. Er ist aufgrund seiner Einschränkungen auf das überdurchschnittliche Entgegenkommen seines Arbeitgebers angewiesen, der Arbeitsplatz als Lagerlogistiker wurde auch eigens für den Kläger gestaltet. Unter Berücksichtigung der beim Kläger vorliegenden Einschränkungen ist eine Tagesarbeit bei einer 5‑Tage‑Woche mit 6 Stunden zumutbar.
[6] Im Sozialprestige besteht zwischen der Tätigkeit eines Facharbeiters in der Kanalsanierung und der Tätigkeit in der Lagerlogistik kein Unterschied. Das Grundgehalt eines Kanalfacharbeiters und eines qualifizierten Lagerlogistikers ist als in etwa gleich hoch zu bewerten. Das Nettoeinkommen des Klägers als Kanalarbeiter war aufgrund der Zulagen und der Vollzeitarbeit höher als jenes als Lagerarbeiter in Teilzeit.
[7] Der Kläger begehrt die Zahlung von 14.000 EUR sA an bereits fälliger Berufsunfähigkeitspension für den Zeitraum April 2019 bis Juli 2021 und die Feststellung der Zahlungspflicht der Beklagten für die ab 1. August 2021 bis 30. November 2038 fällig werdenden Leistungen aus der Berufsunfähigskeits‑Versicherung. Die Beklagte habe die Zahlungen zu Unrecht eingestellt. Er könne aufgrund seiner Verletzungen aus dem Unfall vom 22. März 2018 seine Tätigkeit als Kanalarbeiter nicht mehr ausüben, weshalb er weiterhin berufsunfähig im Sinn der AVB sei. Bei der von ihm seit Mai 2019 ausgeübten Tätigkeit als Lagerarbeiter handle es sich um keine seiner Ausbildung, Erfahrung und bisherigen Lebensstellung entsprechende berufliche Tätigkeit. Er könne die Tätigkeit des Lagerarbeiters auch nur deshalb ausüben, weil ihm der Arbeitgeber aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine Sonderstellung eingeräumt habe.
[8] Die Beklagte beantragt die Klagsabweisung. Sie habe die vorerst temporär gemäß § 11 Abs 6 AVB zuerkannten Leistungen gegenüber dem Kläger eingestellt, weil eine Berufsunfähigkeit im Sinn der AVB nicht mehr vorliege. Die Teilzeittätigkeit des Klägers als Lagerarbeiter entspreche seiner bisherigen Ausbildung, Erfahrung und Lebensstellung. Die neue Tätigkeit erfordere ebenso wie die Tätigkeit als Kanalarbeiter keine spezifische Ausbildung, zumal der Kläger diese Tätigkeit auch als gelernter Tischler ausüben habe können. Darüber hinaus bekomme der Kläger als Lagerarbeiter einen höheren Lohn als er vor seinem Unfall als Kanalarbeiter ins Verdienen gebracht habe. Das Ansehen eines Lagerarbeiters sei „in den Augen der Öffentlichkeit“ dem sozialen Ansehen eines Kanalarbeiters gleichwertig, jedenfalls liege es nicht spürbar darunter. Es bestehe daher keine Berufsunfähigkeit im Sinn des § 3 Abs 1 lit a der AVB.
[9] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Es liege weiterhin Berufsunfähigkeit im Sinn der AVB vor, weil der Kläger lediglich aufgrund des Entgegenkommens seines Dienstgebers die sehr eingeschränkte Tätigkeit des Lagerarbeiters ausübe. Er sei außerdem nicht in der Lage einer Vollzeittätigkeit nachzugehen und unterliege erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen. Gemessen am Sozialprestige habe sich die Stellung des Klägers durch den Tätigkeitswechsel zwar nicht geändert, allerdings würden die Kenntnisse des Klägers aufgrund seiner zahlreichen Leiden am allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ausreichen. Selbst wenn die festgestellten Stundenlöhne nahezu gleich hoch seien, so habe das deutlich eingeschränkte Leistungskalkül einen erheblichen Rückgang der Leistungsfähigkeit und damit der Verdienstmöglichkeiten zur Folge, weshalb die Lebensstellung des Klägers eingeschränkt sei. Der Kläger habe auch keine neuen Kenntnisse und Fähigkeiten im Sinn des § 12 AVB am Arbeitsmarkt erlangt, da seine Tätigkeit nur in einem sehr eingeschränkten Teilbereich dem Berufsbild eines Lagerlogistikers entspreche und er die auf den Schulungen erlangten Kenntnisse nur betriebsintern nutzen könne. Es sei daher weiterhin von Berufsunfähigkeit im Sinn des § 3 Abs 1 lit a AVB auszugehen.
[10] Das Berufungsgericht gab der dagegen von der Beklagten erhobenen Berufung Folge und änderte das Ersturteil in eine Klagsabweisung ab. Der Kläger sei für die Tätigkeit des Kanalarbeiters ebenso eingeschult worden wie für die nunmehrige Tätigkeit als Lagerlogistiker. Er könne die neue Tätigkeit mit seinen bisher erlernten Fähigkeiten, PC‑Grundkenntnissen und darüber hinausgehenden betriebsinternen Schulungen ausüben. Bei der Tätigkeit des Lagerlogistikers handle es sich daher um eine der Ausbildung und Erfahrung des Klägers entsprechende Tätigkeit. Dass der Kläger lediglich einen Teilbereich der Tätigkeit eines Lagerlogistikers ausübe, könne an dieser Beurteilung nichts ändern. Auch der Stundenlohn sei im Vergleich gleich hoch wie der Stundenlohn eines Kanalarbeiters. Unerheblich sei, ob der Kläger aufgrund seiner verminderten Stundenanzahl von 25 Stunden einen geringeren Lohn ins Verdienen bringe, weil sich der Kläger eine bis zu 50 %ige Einkommensminderung gefallen lassen müsse. Dass diese höher ausfalle, habeer nicht behauptet. Da die neue Tätigkeit seiner Ausbildung und Erfahrung wie auch seiner Lebensstellung entspreche, sei der Kläger nicht berufsunfähig im Sinne des § 3 Abs 1 lit a AVB. Er habe daher keinen Anspruch auf Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung gegenüber der Beklagten.
[11] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil zur Frage, ob eine Teilzeitbeschäftigung, welche aufgrund des Entgegenkommens des Arbeitgebers geschaffen worden sei, die Berufsunfähigkeit im Sinn der AVB ausschließe, eine Klarstellung durch den Obersten Gerichtshof angezeigt sei.
[12] Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Klägers mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[13] Die Beklagte begehrt, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[14] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.
[15] 1. Die Berufsunfähigkeitsversicherung ist eine Summenversicherung. Die Versicherungsleistung erfolgt also unabhängig vom Nachweis eines Schadens, insbesondere einer Einkommenseinbuße. Versicherte Gefahr in der Berufsunfähigkeitsversicherung ist der vorzeitige Rückgang oder der Verlust der beruflichen Leistungsfähigkeit (RS0112258). Diese Versicherungsart soll Schutz vor dem Zustand bieten, in dem ein Versicherter aus gesundheitlichen Gründen ganz oder teilweise nicht mehr in der Lage ist, seinen bisherigen Beruf oder einen angemessenen bedingungsgemäßen Vergleichsberuf auszuüben (RS0112257). Versichert ist nicht die berufliche Leistungsfähigkeit des Versicherten überhaupt, sondern nur in Verbindung mit bestimmten Berufen, wobei es auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit ankommt (vgl RS0111999).
[16] 2. Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 f ABGB) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen, dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insb T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).
[17] 3.1 Die allgemeine Umschreibung des versicherten Risikos erfolgt durch die primäre Risikobegrenzung. Durch sie wird in grundsätzlicher Weise festgelegt, welche Interessen gegen welche Gefahren und für welchen Bedarf versichert sind.
[18] 3.2 Nach § 3 Abs 1 lit a AVB liegt Berufsunfähigkeit, die Leistungspflicht im Sinn dieser Bedingungen auslöst, vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen zumindest 50 % außerstande ist, ihre zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit, so wie sie ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, auszuüben und sie keine andere ihrer Ausbildung und Erfahrung und ihrer bisherigen Lebensstellung entsprechende berufliche Tätigkeit ausübt.
[19] 3.3 Die Bestimmung enthält eine konkrete Verweisung (vgl Dörner in Langheid/Wandt Münchener Kommentar zum VVG² [2017] § 172 Rn 142, 176; Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung4 [2020] Kapitel 8 Rn 152) und verlangt – nach dem insoweit klaren Wortlaut – dass bei Vorliegen der geforderten Gesundheitsbeeinträchtigung der Versicherte keine andere dem bisherigen Beruf entsprechende Tätigkeit tatsächlich ausübt. Darauf, ob der Versicherte die vergleichbare Tätigkeit ausüben kann oder könnte, kommt es dagegen nicht an (vgl 7 Ob 68/20f).
[20] 3.4 Eine Verweisung kann der Versicherer aber nur dann vornehmen, wenn die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit 1. dem Ausbildungsstand des Versicherungsnehmers, 2. seiner Erfahrung (das sind die beruflich und außerberuflich erworbenen Kenntnisse) sowie 3. seiner Lebensstellung entspricht.
[21] 4.1 Zu prüfen ist daher, ob die vom Kläger nunmehr ausgeübte Tätigkeit als Lagerarbeiter seiner Ausbildung und Erfahrung sowie auch seiner Lebensstellung entspricht und es sich daher um eine der Tätigkeit des Kanalarbeiters vergleichbare Tätigkeit handelt. Übt der Versicherte eine andere Tätigkeit aus, so muss er beweisen, dass diese Tätigkeit keine bedingungsmäßige Vergleichstätigkeit ist (RS0112006 [T1]).
[22] 4.2.1 Die Vergleichsfähigkeit braucht dem Versicherten aber nicht die Verwertung seiner gesamten Ausbildung und Erfahrungen zu ermöglichen. Als Vergleichsberufe scheiden jene Tätigkeiten aus, deren Ausübung einen deutlich geringeren Ausbildungsstand und Erfahrungen erfordert als der bisherige Beruf. Bei der Vergleichstätigkeit kommt es auch nicht darauf an, dass die zu vergleichenden Tätigkeiten sich in Bezug auf die Art und Weise der einzelnen Verrichtungen entsprechen oder ähneln (vgl Lücke in Prölss/Martin VVG31 [2021] AVBBU § 2 Rn 42 und 48; Neuhaus aaO Rn 51). Ebensowenig ist erforderlich, dass der Versicherte seine in seinem bisherigen Beruf benötigte gesamte Ausbildung und all seine benötigten Erfahrungen in einem anderen nutzen kann oder dass er nur die einsetzen muss, die er auch bisher eingesetzt hat, obwohl er über weitere, schon früher vorhandene verfügt, die er nur bisher nicht verwenden musste (Rixecker in Beckmann/Matusche‑Beckmann, Versicherungsrechts‑Handbuch³ [2015] § 46 Berufsunfähigkeitsversicherung Rn 112).
[23] 4.2.2 Die Tätigkeit, auf die der Versicherte verwiesen werden kann, darf weder hinsichtlich ihrer Vergütung noch in ihrer Wertschätzung spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs „absinken“ (RS0112003). Berufsunfähigkeit ist gegeben, wenn die andere Arbeitstätigkeit auf die der Versicherte aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung verwiesen werden kann, seiner bisherigen Lebensstellung nicht entspricht. Für den Verlust der bisherigen Lebensstellung ist maßgeblich, ob die soziale Stellung und das soziale Ansehen des Versicherten inhaltlich erhalten bleiben und der neue Beruf bei Ausübung auch die gleichen sozialen Sicherungen verschafft (RS0112260; RS0111999). Dies allerdings mit der Einschränkung, dass sich der Versicherte nach der österreichischen Bedingungslage, übt er einen derartigen Verweisungsberuf tatsächlich aus, eine bis zu 50 % gehende Einkommensminderung gefallen lassen muss (7 Ob 127/99y).
[24] 4.3.1 Nach den Feststellungen liegt eine Vergleichbarkeit von Erfahrungen und Ausbildung vor. Der Kläger hatte zwareine Lehre als Tischler absolviert, aufgrund welcher ihm nach den Feststellungen „bei der Tätigkeit als Kanalarbeiter eine Facharbeiterqualifikation zuerkannt wurde“. Er musste jedoch für die Tätigkeit des Kanalarbeiters ebenso betriebsintern eingeschult werden wie für die nunmehrige Tätigkeit als Lagerlogistiker. Er kann die neue Tätigkeit auch mit seinen bisher erlernten Fähigkeiten, PC‑Grundkenntnissen und darüber hinausgehenden betriebsinternen Schulungen ausüben. Im Sozialprestige besteht zwischen der Tätigkeit eines Facharbeiters in der Kanalsanierung und der Tätigkeit in der Lagerlogistik kein Unterschied. Der Kläger kann die konkrete Tätigkeit so ausüben, dass der versicherte Mindestgrad von 50 % überschritten wird. Das Grundgehalt eines Kanalfacharbeiters und eines qualifizierten Lagerlogistikers ist als etwa gleich hoch zu bewerten. Eine Einkommensreduktion aufgrund der nunmehrigen Teilzeitbeschäftigung auf unter 50 % steht weder fest, noch wurde sie vom Kläger behauptet.
[25] 4.3.2 Vor diesem Hintergrund gelangte das Berufungsgericht im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zutreffend zu dem Ergebnis, dass es sich bei der vom Kläger nunmehr ausgeübten Tätigkeit des Lagerarbeiters im Verhältnis zum Kanalarbeiter um eine Vergleichstätigkeit handelt, auf die der Kläger verwiesen werden kann.
[26] 4.4.1 Der Kläger hält dem entgegen, dass die Vergleichbarkeit der Tätigkeiten schon deshalb nicht gegeben sei, weil er als Lagerarbeiter nur mehr 25 Wochenstunden auf einem besonders für ihn geschaffenen Arbeitsplatz arbeite.
[27] 4.4.2 Entgegen der Ansicht des Klägers ist auch eine konkrete Verweisung auf einen tatsächlich ausgeübten Schonarbeitsplatz oder einen tatsächlich ausgeübten Nischenarbeitsplatz zulässig. Der Nischenarbeitsplatz ist ein solcher, der im Einzelfall nach den besonderen Anforderungen eines bestimmten Betriebs geschaffen oder auf spezielle Belange eines bestimmten Mitarbeiters zugeschnitten ist (vgl Neuhaus aaO Rn 26 f; Lücke aaO Rn 109 f). Gelingt dem Versicherten wider Erwarten die Aufnahme einer Tätigkeit, obwohl er die formale Qualifikation nicht besitzt, oder ist er auf einem Nischen- oder Schonarbeitsplatz eingestellt worden, kann er vom Versicherer keine Versicherungsleistung verlangen, wenn die Tätigkeit als solche von der Verweisung umfasst wird (Dörner, aaO Rn 177)
[28] 4.4.3 Der Umstand, dass der Arbeitsplatz eigens für den Kläger entsprechend seiner Anforderungen aus Entgegenkommen des Arbeitgebers geschaffen wurde, schließt demnach die Vergleichbarkeit nicht aus.
[29] 5.1 Der Kläger legt selbst zugrunde, dass die Beklagte vorerst die Leistungspflicht zeitlich befristet für insgesamt 12 Monate – wie in § 11 Abs 6 AVB vorgesehen – anerkannte. In ihrem Schreiben vom 1. April 2020 – dessen wesentlicher Inhalt der Revisionsentscheidung als unstrittig zugrunde gelegt werden konnte (vgl RS0121557 [insb auch T2, T3]) – nahm die Beklagte zunächst Bezug darauf, dass sie für den konkret genannten Zeitraum eine temporäre Leistung erbracht habe. Weiters teilte sie dem Kläger mit: „Gemäß der maßgeblichen Bedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung entfällt unsere Leistungspflicht, wenn der Versicherte eine neue Tätigkeit konkret ausübt und die bisherige Lebensstellung gewahrt ist. Dies ist insofern gegeben, da das erzielte Einkommen mit dem Einkommen in gesunden Tagen vergleichbar ist und dieses sogar übersteigt. Eine Berufsunfähigkeit liegt nach § 12 Abs 1 der Versicherungsbedingungen somit mit Antritt des neuen Jobs nicht mehr vor.“
[30] 5.2 Der Kläger vertritt nun, die Beklagte habe im Schreiben vom 1. April 2020 die Berufsunfähigkeit anerkannt und könne sich hinsichtlich des Nichtvorliegens der Berufsunfähigkeit nicht auf § 3 Abs 1 lit a AVB stützen, sondern es sei nur das – von der Beklagten gerade nicht behauptete – Vorliegen der Voraussetzungen nach § 12 Abs 1 AVB für einen Wegfall der Berufsunfähigkeit zu prüfen.
[31] 5.3.1 Nach § 12 Abs 1 AVB ist der Versicherer berechtigt, das Fortbestehen der Berufsunfähigkeit im Sinn der Bedingungen (§ 3) nachzuprüfen. Dabei kann auch geprüft werden, ob die versicherte Person nach dem Eintritt der Berufsunfähigkeit neue berufliche Kenntnisse und Tätigkeiten erworben hat. In diesem Fall liegt eine Berufsunfähigkeit nach den Bedingungen nicht mehr vor, wenn die versicherte Person auf Basis dieser neu erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten tatsächlich eine neue berufliche Tätigkeit ausübt, sie diese Tätigkeit aufgrund ihrer Verhältnisse auch ausüben kann und die ausgeübte berufliche Tätigkeit der Lebensstellung der versicherten Person zum Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit in dem früheren Beruf entspricht.
[32] 5.3.2 § 12 Abs 3 AVB regelt zeitlich unbefristet für den Fall, dass die Berufsunfähigkeit weggefallen ist oder sich der Grad auf weniger als 50 % vermindert, dassdie Leistung eingestellt oder herabgesetzt wird.
[33] 5.4 Nach dem insoweit klaren Wortlaut des § 12 AVB ist die Beklagte nach Anerkennung oder Feststellung ihrer Leistungspflicht berechtigt, das Fortbestehen der Berufsunfähigkeit oder der Pflegebedürftigkeit im Sinn dieser Bedingungen (§ 3) nachzuprüfen. Wie sich schon aus der ausdrücklichen Anführung „§ 3“ ergibt, umfasst diese Nachprüfung auch die Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 3 AVB noch vorliegen. Aus der Gesamtheit der Regelung der §§ 3 und 12 AVB kann für den verständigen Versicherungsnehmer kein Zweifel darüber bestehen, dass er keinen Anspruch auf Leistung mehr hat, wenn er, wann auch immer, einen Vergleichsberuf ausübt (vgl 7 Ob 163/14t). Eine Nachprüfung scheidet nur während des anerkannten (befristeten) Zeitraums aus.
[34] 5.5 Im Schreiben vom 1. April 2020 verwies damit die Beklagte – im Einklang mit den AVB – lediglich darauf, dass ihre Leistungspflicht entfalle, weil infolge konkreter Ausübung einer Vergleichsfähigkeit keine Berufsunfähigkeit mehr vorliege. Ein Anerkenntnis der Berufsunfähigkeit und damit ihrer Leistungspflicht über die ursprüngliche Befristung hinaus enthält das Schreiben nicht.
[35] 6. Der Revision war daher keine Folge zu geben, die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.
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