OGH 7Ob42/14y

OGH7Ob42/14y22.4.2014

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin Dr.

 Huber als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hoch, Dr. Kalivoda, Mag. Dr. Wurdinger und Mag. Malesich als weitere Richter in der Unterbringungssache des Minderjährigen R***** T*****, vertreten durch die Mutter Ing. C***** T*****, und den Verein VertretungsNetz‑Sachwalterschaft, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung (Patientenanwältin MMag. S***** G*****), dieser vertreten durch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, Abteilungsleiter Prim. Univ‑Prof. Dr. L***** T*****, vertreten durch Dr. Peter Lechenauer, LL.M., PLL.M. Rechtsanwalt in Salzburg, über den Revisionsrekurs des Abteilungsleiters gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 28. Jänner 2014, GZ 21 R 332/13i‑18, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 12. Juli 2013, GZ 36 Ub 928/12t‑13, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0070OB00042.14Y.0422.000

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

Der Minderjährige befindet sich in alleiniger Pflege und Erziehung der Mutter. Ihr kommt gemeinsam mit dem Vater die Obsorge zu.

Der Minderjährige wurde am 8. Dezember 2012 ohne Verlangen untergebracht. Am 10. Dezember 2012 verkündete der Erstrichter am Ende der Anhörung gemäß § 19 UbG den Beschluss, mit dem er die Unterbringung für unzulässig erklärte. Der Minderjährige leide offenbar an einer psychischen Krankheit. Es bestehe im „stationären Rahmen“ durchaus ernstliche und erhebliche Selbst‑ und Fremdgefährdung. Er neige dazu, mit dem Kopf auf Gegenstände zu schlagen und auch andere Personen zu attackieren. Allerdings könne er „im häuslichen Rahmen“ durch erzieherische Maßnahmen offenbar so weit unter Kontrolle gehalten werden, dass es zu keinen erheblichen Gefährdungen komme. Da eine Alternative vorhanden sei, sei die Unterbringung unzulässig. Gegen diese Entscheidung meldete der Abteilungsleiter kein Rechtsmittel an. Die Tagsatzung (Beginn 11:18 Uhr) endete laut Protokoll um 11:45 Uhr.

Anschließend begaben sich der Minderjährige und seine Mutter aus administrativen Gründen bis zur Entlassung in den Unterbringungsbereich. Die Mutter teilte ihrem Sohn mit, dass sie ihn nicht nach Hause nehmen könne und er in stationärer Behandlung bleiben müsse. Nach einem Gespräch mit Pflegepersonal, Mutter und Arzt packte der Minderjährige ‑ noch im Unterbringungsbereich ‑ widerwillig seine Sachen. Er war weinerlich und schlug mit den Beinen mehrmals gegen die Tür. Die Ärztin erwartete Schwierigkeiten und rechnete in naher Zukunft mit einer neuerlichen Unterbringung. Die Mutter erteilte vorab grundsätzlich ihr Einverständnis, dass im Fall der Notwendigkeit einer Unterbringung eine solche auf Verlangen durchgeführt werden könne.

Die Mutter verfasste zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt am Gang der Kinder‑ und Jugendpsychiatrie eine eigenhändige, schriftliche Erklärung, worin sie sich mit der Unterbringung des Minderjährigen einverstanden erklärte.

Um etwa 12:00 Uhr wurde der Minderjährige in den offenen Bereich verlegt, wo er aber nicht bleiben wollte und von wo er in das Stiegenhaus flüchtete. Daraufhin wurde er von der Ärztin und dem Pflegepersonal in den Unterbringungsbereich getragen. Er schlug der Ärztin gegen das Schienbein und im geschlossenen Bereich mehrmals mit den Fäusten gegen das Fenster und die Wand. Er sagte immer wieder, er wolle zu seiner Mutter.

Am 4. Jänner 2013 wurde der Minderjährige in den offenen Bereich verlegt und die Unterbringung aufgehoben.

Am 13. Februar 2013 stellte der Verein den Antrag, die Unterbringung des Minderjährigen vom 10. Dezember 2012 bis 4. Jänner 2013 für unzulässig zu erklären.

Das Erstgericht erklärte die Unterbringung vom „12. Dezember 2012, ca 12:30 Uhr, bis zum 4. Jänner 2013“ für unzulässig. Das Unterbringungsverlangen müsse vor der Aufnahme gestellt werden, was hier nicht der Fall gewesen sei. § 4 UbG sei auch für unmündige Minderjährige, bei denen der Erziehungsberechtigte das Verlangen stelle, anzuwenden.

Das Rekursgericht bestätigte den Beschluss. Nach erfolgter Aufnahme sei eine Unterbringung auf Verlangen nicht möglich. § 4 Abs 2 UbG sei auch auf unmündige Minderjährige anzuwenden. Bei grundrechtseingreifenden Maßnahmen bestehe die Zweifelsregel im Sinn des Grundsatzes „in dubio pro libertate“.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil zu der Frage, ob § 4 Abs 2 UbG auch auf unmündige Minderjährige anzuwenden sei, oberstgerichtliche Judikatur fehle.

Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Abteilungsleiters mit einem Abänderungsantrag, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Verein beantragte, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben. Die Mutter beteiligte sich am Revisionsrekursverfahren nicht.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist aber nicht berechtigt.

Dem Erstgericht unterlief insoweit ein offenbarer Schreibfehler, als in seinem Beschluss der Beginn der für unzulässig erklärten Unterbringung mit 12. Dezember 2012 genannt wird. Unzweifelhaft ergibt sich aus dem gesamten Inhalt der Entscheidung, dass die gesamte Unterbringung, also beginnend mit 10 . Dezember, für unzulässig erklärt wird, was auch nicht strittig ist.

Eine Person, bei der die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen, darf auf eigenes Verlangen untergebracht werden, wenn sie den Grund und die Bedeutung der Unterbringung einzusehen und ihren Willen nach dieser Einsicht zu bestimmen vermag (§ 4 Abs 1 UbG). Das Verlangen muss vor der Aufnahme eigenhändig schriftlich gestellt werden (§ 4 Abs 2 UbG). Ein Minderjähriger darf nur untergebracht werden, wenn die Erziehungsberechtigten und, wenn er mündig ist, auch er selbst die Unterbringung verlangen. Weiters ist die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erforderlich (§ 5 Abs 2 UbG).

Die Mutter des Minderjährigen, der in ihrer alleinigen Pflege und Erziehung ist, ist gemeinsam mit dem Vater obsorgeberechtigt. Aufgrund der taxativen Aufzählung in § 167 Abs 2 ABGB idF des KindNamRÄG 2013 (im Wesentlichen gleichlautend wie § 154 ABGB aF: RIS‑Justiz RS0048133; Hopf in KBB 3 , § 154 ABGB Rz 3; Thunhart in Fenyves/Welser, Klang 3 , § 154 ABGB Rz 6; Nademleinsky in Schwimann/Kodek 4 § 154 ABGB Rz 4) ist sie damit berechtigt, allein eine Unterbringung des Minderjährigen zu verlangen, weil jeder Elternteil für sich allein vertretungsberechtigt ist (§ 167 Abs 1 ABGB nF). Die Mutter konnte daher allein ein Verlangen auf Unterbringung stellen (vgl auch Kopetzki , Grundriss des Unterbringungsrechts 3 , Rz 264; Hopf/Aigner , Unterbringungsgesetz, § 5 Anm 11).

Zu prüfen ist, ob die Mutter dies hier wirksam getan hat.

§ 4 Abs 2 UbG regelt eindeutig, dass das Verlangen vor der Aufnahme eigenhändig schriftlich gestellt werden muss. Die Regelung, dass das Verlangen vor Aufnahme gestellt werden muss, richtet sich gegen die ältere Praxis, eine bereits eingeleitete Zwangsanhaltung durch Unterfertigung sogenannter „Freiwilligkeitserklärungen“ in eine „freiwillige“ Anhaltung umzuwandeln und so den Verfahrensgegenstand des gerichtlichen Verfahrens zum Wegfall zu bringen ( Kopetzki aaO Rz 243). Das Verlangen nach § 5 Abs 2 UbG muss ebenfalls vor der Aufnahme gestellt werden ( Hopf/Aigner , Unterbringungsgesetz § 5 Anm 10; Kopetzki aaO Rz 262).

§ 5 Abs 2 UbG, der die Ausnahmen für Minderjährige regelt, nimmt von der formellen Voraussetzung des Verlangens vor Aufnahme nicht Abstand. Es gibt ‑ im Gegensatz zur im Revisionsrekurs vertretenen Meinung ‑ auch keinen Grund zur Annahme, dass der Erziehungsberechtigte und/oder der gesetzliche Vertreter keines Schutzes zur Sicherung der freien Meinungsbildung bedürfe, weil er nicht der Kranke sei. Auch diese Personen sind naturgemäß in Ausnahmesituationen und damit einer vergleichbaren psychischen Belastung ausgesetzt. Durch die Forderung, dass das Verlangen vor der Aufnahme gestellt werden muss, soll die freie Entscheidung desjenigen gewährleistet werden, der das Verlangen stellt. Das jenes des unmündigen Minderjährigen ersetzende Verlangen des Erziehungsberechtigten (gesetzlichen Vertreters) nach § 5 Abs 2 UbG muss daher allen Voraussetzungen des § 4 Abs 1 und 2 UbG, für die keine gesetzlichen Ausnahmen bestehen, genügen. Das Verlangen muss vor der Aufnahme gestellt werden.

Der Einwand des Revisionsrekurses, der Minderjährige sei im Zeitpunkt der Abgabe des schriftlichen Unterbringungsverlangens seiner Mutter (der gar nicht feststeht) nicht als „aufgenommen“ zu betrachten, überzeugt nicht. Das Erstgericht erklärte die Unterbringung bis 10. Dezember 2012 mit Beschluss vom selben Tag (Ende der Tagsatzung laut Protokoll 11:45 Uhr) für unzulässig. Entgegen diesem Beschluss erklärte die Mutter unmittelbar anschließend, dass sie den Minderjährigen dennoch nicht nach Hause nehmen werde. Der Minderjährige wurde um etwa 12:00 Uhr in den „offenen Bereich“ verlegt und es war, was auch der Revisionsrekurs zugesteht, eine Behandlung des Minderjährigen im „offenen“ Bereich im Anschluss an die Tagsatzung geplant.

Die Unterbringung kann in zwei Erscheinungsformen auftreten, nämlich als Anhaltung im geschlossenen Bereich oder als sonstige Beschränkung der Bewegungsfreiheit außerhalb des geschlossenen Bereichs. Diese Beschränkung kann sich auf die Anstalt in ihrer Gesamtheit, auf einzelne Bereiche oder auf ein eigenes Zimmer beziehen (vgl Kopetzki aaO Rz 228 f). Unterliegt eine Person Bewegungseinschränkungen, dann ist sie im Sinn des UbG „untergebracht“, unabhängig davon, ob sie sich in einem geschlossenen Bereich befindet oder nicht (RIS‑Justiz RS0075831). Eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit liegt immer dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (RIS‑Justiz RS0075871).

Dass der Minderjährige um 12:00 Uhr im offenen Bereich auch angehalten und einer Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit unterworfen wurde, ergibt sich schon daraus, dass er nicht in das Stiegenhaus gehen durfte und auch sofort nach Widerstand in den geschlossenen Bereich überstellt wurde. Die Unterbringung wurde mit Verkündung des Beschlusses, mit dem die Unterbringung für unwirksam erklärt wurde, nicht beendet. Eine Beendigung hätte vorausgesetzt, dass die freiheitsbeschränkende Maßnahme aufgehoben und der Minderjährige keinen sonstigen Freiheitsbeschränkungen mehr unterworfen wird. Hier steht fest, dass von vornherein nie die Absicht bestand, dass die Mutter mit dem Minderjährigen die Anstalt verlässt. Der Minderjährige sollte nach dem Wunsch seiner Mutter sofort im offenen Bereich weiter angehalten werden.

Mangels eines wirksamen Verlangens der Mutter auf Unterbringung des Minderjährigen lag eine Unterbringung ohne Verlangen vor ( Kopetzki aaO Rz 224).

Abgesehen davon entsprechen die Voraussetzungen für eine Unterbringung auf Verlangen den materiellen Voraussetzungen der Unterbringung ohne Verlangen ( Kopetzki aaO Rz 234). Dies bedeutet, dass auch bei einer Unterbringung auf Verlangen die Notwendigkeit der Maßnahme gegeben sein muss. Das Erstgericht hat hier aber unmittelbar vor dem Verlangen der Mutter (unbekämpft) ausgesprochen, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung nicht vorliegen.

Weiters stellt das Verlangen auf Unterbringung unmittelbar im Anschluss an einen bindenden Beschluss, dass die Unterbringung mangels materieller Voraussetzungen unzulässig ist, ohne Änderung der Sachverhaltsgrundlage im Ergebnis den Versuch einer Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen dar. Eine Umgehung der Vorschriften zum Schutz der Freiheit von Kranken dadurch, dass man sich auf eine (tatsächlich gar nicht erfolgte) Entlassung beruft und daran sofort eine Unterbringung auf Verlangen anschließt, ist unzulässig (vgl auch Kopetzki aaO Rz 244).

Die Vorinstanzen haben die Unterbringung des Minderjährigen daher zu Recht für unzulässig erklärt.

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