OGH 7Ob294/05v

OGH7Ob294/05v25.1.2006

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Huber als Vorsitzende und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Schaumüller, Dr. Hoch und Dr. Kalivoda als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Armina M*****, geboren am 14. Jänner 1999, in Obsorge der Mutter Sabine K*****, vertreten durch Mag. Ulrich Bernhard, Rechtsanwalt in Bregenz, über den Revisionsrekurs des Vaters Fuad M*****, vertreten durch Dr. Karl-Heinz Plankel und andere Rechtsanwälte in Dornbirn, gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom 26. September 2005, GZ 1 R 225/05d-29, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Bregenz vom 26. April 2005, GZ 7 P 189/00y-23, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung

Die Ehe der aus Bosnien stammenden Eltern der mj Armina wurde am 15. 6. 2000 geschieden. Die Mutter hat sich am 13. 7. 2001 wieder verheiratet und lebt mit ihrem zweiten Ehemann Roland K***** und dem Kind, das wie sie die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, in T***** in der Schweiz.

Der Vater, der Staatsbürger von Bosnien-Herzegowina ist, beantragte, ihm an jedem ersten Samstag im Monat von 10.00 Uhr bis 19.00 Uhr ein Besuchsrecht zu seiner Tochter einzuräumen.

Die Mutter sprach sich dagegen aus. Das Kind habe zu erkennen gegeben, dass es nicht mehr mit dem Vater zusammensein wolle. Aktenkundig ist, dass das Erstgericht mit Note vom 14. 9. 2004 die zuständigen Schweizer Behörden über den Besuchsrechtsantrag informiert und um Stellungnahme ersucht hat. Die Vormundschaftsbehörde der Gemeinde T***** wies in der Folge wiederholt darauf hin, dass sie sich für zuständig erachte. Das Kantonsgericht S***** teilte daraufhin am 11. 1. 2005 dem Erstgericht mit, dass der Vater einen Antrag auf Besuchsrechtseinräumung in der Schweiz einbringen könne.

Das Erstgericht gab dem Antrag des Vaters statt. Seine Entscheidungskompetenz stütze sich auf Art 4 des Haager Minderjährigenschutzabkommens (MSA), wonach die Behörden des Staates, dem der Minderjährige angehöre, nach ihrem innerstaatlichen Recht zum Schutz der Person Maßnahmen treffen könnten, wenn sie der Auffassung seien, dass es das Kindeswohl erfordere, und sie die Behörden des Staates verständigt hätten, in welchem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe. Armina besitze die österreichische Staatsangehörigkeit.

Das von Mutter und Kind angerufene Rekursgericht änderte die Entscheidung der ersten Instanz dahin ab, dass es den Besuchsrechtsantrag des Vaters wegen mangelnder inländischer Gerichtsbarkeit zurückwies. Nach den maßgebenden Bestimmungen des MSA seien für Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens eines Minderjährigen (wozu auch die Regelung des Besuchsrechts zähle) sowohl der Aufenthaltsstaat als auch der Heimatstaat nebeneinander zuständig. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs greife die Zuständigkeit der Behörden des Aufenthaltsstaats allerdings insoweit nicht ein, als Schutzmaßnahmen der Heimatbehörden des Kindes vorlägen; in solchen Fällen verbleibe den Behörden am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Minderjährigen nur eine Notzuständigkeit zur Abwehr einer ernsten Gefährdung von Person oder Vermögen des Minderjährigen oder die Eilzuständigkeit nach Art 9 MSA. Die Maßnahmen der Heimatbehörden verdrängten jene der Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt und schlössen - von den erwähnten Ausnahmen abgesehen - auch die weitere Zuständigkeit der Behörden des gewöhnlichen Aufenthalts aus; es bestehe daher ein eindeutiger Vorrang der Heimatbehörden. Den von Fasching (in Fasching2 I Art IX EGJN Rz 69) und Anzinger (in Burgstaller IZVR Rz 5 Pkt 93 f) vertretenen Lehrmeinungen folgend, sei das Rekursgericht allerdings der Auffassung, dass eine primäre Zuständigkeit der Behörden am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Minderjährigen zur Maßnahmenanordnung bestehe, weshalb eine strenge Prüfung der Erforderlichkeit des Einschreitens der Heimatbehörden zu erfolgen habe. Diese Auslegung des Art 4 MSA stehe im Einklang mit der Intention, die dem - allerdings nicht ratifizierten - Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (KSÜ) zugrundeliege und decke sich mit den Zuständigkeitsbestimmungen in der - hier nicht anzuwendenden - Brüssel IIa-Verordnung. Auch die im § 106 AußStrG zwingend vorgesehene Befragung des Jugendwohlfahrtsträgers vor Verfügungen über das Recht auf persönlichen Verkehr spreche für die Sinnhaftigkeit der räumlichen Nähe der entscheidenden Behörde. Es erscheine auch naheliegend, dass solche Behörden am schnellsten in der Lage seien, die Lebensverhältnisse des Minderjährigen bestmöglich zu beurteilen und wirksame, effiziente und durchsetzbare Schutzmaßnahmen zu setzen. Im hier zu beurteilenden Fall sei von den Behörden des Aufenthaltsstaats bislang keine Besuchsrechtsregelung getroffen worden, weil der Vater in der Schweiz noch keinen Antrag auf Besuchsrechtsregelung gestellt habe. Von einer Säumigkeit oder Untätigkeit der Behörden im Aufenthaltsstaat könne daher keine Rede sein. Da demnach die Voraussetzungen für ein Einschreiten der Heimatbehörde hier nicht vorlägen, sei der erstinstanzliche Beschluss spruchgemäß abzuändern gewesen.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil seine Entscheidung von oberstgerichtlicher Judikatur abweiche.

Gegen diesen Beschluss des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters, der unrichtige rechtliche Beurteilung geltend macht und beantragt, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass dem Rekurs gegen den Beschluss des Erstgerichts nicht Folge gegeben werde. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Antragsgegnerinnen haben eine Revisionsrekursbeantwortung erstattet, in der sie beantragen, das Rechtsmittel des Vaters zurück- oder abzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

Zwar weicht die angefochtene Entscheidung, wie im Folgenden erläutert werden wird, entgegen der Ansicht des Rekursgerichtes nicht von der einschlägigen oberstgerichtlichen Rechtsprechung ab. Da eine klärende Stellungnahme des Obersten Gerichtshofes angezeigt erscheint, ist der Revisionsrekurs allerdings zulässig; er ist aber nicht berechtigt. Zutreffend gehen die Vorinstanzen davon aus, dass für die hier strittige Frage der Entscheidungskompetenz des Erstgerichtes die Bestimmungen des auch von der Schweiz ratifizierten (Schwimann, Das Haager Minderjährigenschutzabkommen und seine Anwendung in Österreich in JBl 1976, 233) Übereinkommens vom 5. 10. 1961 über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen, BGBl 1975/446 (Minderjährigenschutzabkommen [MSA]) maßgebend sind, dessen Sachanwendungsbereich alle Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen erfasst (Art 1, 2 und 4 MSA). Da als derartige Maßnahmen alle schützenden Eingriffe und regelnden Maßnahmen mit Gestaltungscharakter zur Wahrung und Förderung des Kindeswohles zu werten sind, gehört dazu auch die Regelung des Besuchsrechtes (SZ 55/153; SZ 60/234; RZ 1988, 169/41 = IPRax 1989, 245 [Sieber 253] = EFSlg 57.646; RIS-Justiz RS0047773 [T 3 und T 5);

Anzinger in Burgstaller IZVR Rz 5. 76 mwN). Das MSA verurteilt die

„internationalen Zuständigkeiten" für Schutzmaßnahmen auf den Staat

des gewöhnlichen Aufenthaltes (Art 1 und 2) und auf den Heimatstaat

(Art 4), die jeweils ihr eigenes Sachrecht (lex fori) anwenden

(Schwimann aaO 241). Diese Zuständigkeit der Behörden des

Aufenthaltsstaates und Heimatstaates besteht nebeneinander (EvBl

1978, 397/128 = ÖA 1979, 22; ÖA 1983, 104; JBl 1984, 153 [Schwimann]

= ÖA 1984, 19 = IPRax 1984, 164 [Hoyer] = ZfRV 1984, 308

[Verschraegen]; RIS-Justiz RS0074189).

Die Maßnahmen der Heimatbehörden verdrängen jene der Behörden am gewöhnlichen Aufenthaltsort. Für die Zeit ihrer Dauer (mit Ausnahme der Gefährdungszuständigkeit nach Art 8 MSA) schließen sie auch die weitere Zuständigkeit der Behörden des gewöhnlichen Aufenthaltes aus. Insofern besteht daher ein ganz eindeutiger Vorrang der Heimatbehörden (RIS-Justiz RS0074231, zuletzt etwa 7 Ob 221/05h). Dieser Vorrang besteht aber, wie etwa Schwimann aaO, 241 zutreffend betont, nur hinsichtlich der Wirkungen der betreffenden Maßnahmen. Davon zu unterscheiden ist die Frage, wann bzw unter welchen Umständen die Heimatbehörde einzuschreiten hat. Dazu wird in der Literatur einhellig die Meinung vertreten, primär seien die Behörden des Aufenthaltsstaates zuständig: Schwimann führt aaO dazu aus, dass es „gewiss keine Zufälligkeit der Formulierung" sei, dass die Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt gemäß Art 1 MSA „zuständig sind", während die Behörden des Heimatstaates nach Art 4 Abs 1 MSA Schutzmaßnahmen lediglich „treffen können", und zwar dann, wenn „das Wohl des Minderjährigen es erfordert". Hinsichtlich der Erreichbarkeit, des Zuganges zu den Behörden und der Ausübung trage die Zuständigkeit des Heimatstaates also eher den Charakter des Subsidiären, Aushilfsweisen. In gleicher Weise erachtet auch Fasching in Fasching2 I Art IX EGJN Rz 69 die Gerichtsbarkeit des Heimatstaates nach Art 4 MSA nur als „subsidiär". Auch Anzinger vertritt aaO, Rz 5. 85 die Ansicht, das MSA weise in seinem Art 1 die primäre Zuständigkeit zur Maßnahmenanordnung den Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen zu. Der erstrangige Einsatz der räumlich nächsten Behörden sei insofern begrüßenswert, als diese am schnellsten in der Lage seien, die gesamten Lebensverhältnisse des Minderjährigen bestmöglich zu beurteilen und hierauf mit adäquaten und wirksamen Schutzmaßnahmen zu reagieren. In diesem Sinn betonen auch Roth/Döring in Das Haager Abkommen über den Schutz von Kindern, JBl 1999, 758 (761), dass der Heimatbehörde häufig die erforderliche Sachnähe bei der Anordnung und Vollstreckung von Schutzmaßnahmen fehle.

Zutreffend weisen die Antragsgegnerinnen in der Revisionsrekursbeantwortung auch darauf hin, dass, wollte man - wie der Revisionsrekurswerber - einen grundsätzlichen Vorrang der Zuständigkeit der Heimatbehörden annehmen, der Teilsatz, dass „das Wohl des Minderjährigen es erfordert" in Art 4 Abs 1 MSA eine bloße Leerformel ohne jeden normativen Gehalt wäre. Dass der Schwerpunkt der internationalen Zuständigkeit im Minderjährigenschutz beim Aufenthaltsstaat liegen und die Heimtatbehörden nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen von der ihnen in Art 4 MSA eingeräumten Kompetenz Gebrauch machen sollen, ist auch in Deutschland unbestritten (Kropholler, Das Haager Abkommen über den Schutz Minderjähriger2, 57, 82; Oberloskamp, Haager MSA Art 4 Rn 1, 22; Rausch, MSA, in Das gesamte Familienrecht - IntFamR [Finger], Rn 45, 46).

Eine Heimatbehörde hat daher vor einem Einschreiten in einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, „ob im Interesse des Kindeswohles eine Ausnahme von der in erster Linie bestehenden Aufenthaltszuständigkeit durch Übernahme des Schutzes erscheint". In diesem Sinne bezeichnet es Schwander, Komm z Schweizerischen Privatrecht, Internationales Privatrecht, Art 85 Rz 36 zutreffend als „materielle Voraussetzung für die Ausübung des Evokationsrechtes nach Art 4 MSA, dass die Heimatbehörde auf Grund pflichtgemäßen Ermessens und ihren Abklärungen zum Schluss gekommen ist, dass das Wohl des Minderjährigen das Einschreiten der Heimatbehörde erfordere". Unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohles hat die Heimatbehörde daher nach pflichtgebundenem Ermessen zunächst zu prüfen, ob erforderliche Schutzmaßnahmen ohnehin im Aufenthaltsstaat gewährleistet sind oder ihr Tätigwerden erforderlich ist. Dies ist, wie Anzinger aaO Rz 5. 54 ausführt, etwa bei pflichtwidriger Untätigkeit der Behörde des Aufenthaltsortes oder wenn „das Kind im Aufenthaltsstaat zu verwahrlosen droht" der Fall. Schwander nennt aaO als Gründe der Heimatbehörde, die Zuständigkeit an sich zu ziehen, Fälle „wenn der Aufenthaltsstaat das Schutzbedürfnis nicht erkennt, untätig bleibt oder eine offensichtlich unwirksame Maßnahme getroffen hat bzw auf Grund seines Rechtes nicht in der Lage ist, eine effiziente Maßnahme zu treffen".

In diesem Zusammenhang sei nochmals klargestellt: Sieht sich die Heimatbehörde mit Rücksicht auf das Kindeswohl pflichtgemäß zu einem Einschreiten veranlasst, kommt ihr im Sinne der zu RIS-Justiz RS0074231 zitierten oberstgerichtlichen Vorjudikatur insofern der Vorrang zu, als ihre Maßnahmen allfällige der Behörden des Aufenthaltsortes verdrängen.

Eine derartige Situation ist im vorliegenden Fall aber nicht gegeben. Entgegen der Ansicht des Revisionsrekurswerbers kann keine Rede davon sein, dass die Schweizer Behörden pflichtwidrig keine Schutzmaßnahmen zu Gunsten des Kindes angeordnet hätten. Vielmehr haben sie wiederholt erklärt, sich hinsichtlich der Frage einer Besuchsrechtsregelung für zuständig zu erachten und auf die Möglichkeit eines entsprechenden Antrages des Vaters hingewiesen; sie haben ausdrücklich ihre Bereitschaft bekundet, über einen solchen Antrag, sollte er gestellt werden, zu entscheiden. Es sprechen keine Umstände gegen die Annahme, dass die örtlich zuständigen Schweizer Behörden am besten in der Lage sind, die Lebensverhältnisse der mj Armina und deren Interessen im Hinblick auf eine Besuchsrechtsausübung des Vaters zu beurteilen und eine diesbezügliche Entscheidung im Sinne des Kindeswohles zu treffen. Damit erweist sich die angefochtene Entscheidung des Rekursgerichtes frei von Rechtsirrtum und muss der Revisionsrekurs erfolglos bleiben.

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