OGH 7Ob212/22k

OGH7Ob212/22k25.1.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei T* M*, vertreten durch MMag. Dr. Verena Rastner, Rechtsanwältin in Lienz, gegen die beklagte Partei U* AG, *, vertreten durch Dr. Harald Skrube Rechtsanwalt GmbH und andere in Villach, wegen 9.274,43 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 29. September 2022, GZ 2 R 108/22d‑37, womit das Urteil des Bezirksgerichts Lienz vom 22. März 2022, GZ 5 C 743/20g‑31, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00212.22K.0125.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts in der Hauptsache wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei

die mit 6.290,62 EUR (darin enthalten 544,60 EUR an USt und 3.023 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten des erstgerichtlichen Verfahrens,

die mit 1.132,21 EUR (darin enthalten 188,77 EUR an USt) bestimmten Kosten des Berufungs‑ und Kostenrekursverfahrens und

die mit 2.359,88 EUR (darin enthalten 138,98 EUR an USt und 1.526 EUR an Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger unterhielt bei der Beklagten einen Unfall‑ und Umsorgt‑Optimal-Einzelversicherungsvertrag, dem unter anderem die Klipp & Klar‑Bedingungen für die Unfallversicherung 2012/Fassung 02/2016 (UD00) zugrunde liegen. Diese lauten auszugsweise:

Was ist ein Unfall? – Artikel 6

1. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.

2. Als Unfall gelten auch folgende Ereignisse:

Verrenkungen von Gliedern sowie Zerrungen und Zerreißungen von an Gliedmaßen und an der Wirbelsäule befindlichen Muskeln, Sehnen, Bändern und Kapseln sowie Meniskusverletzungen.

Hinsichtlich krankhaft abnützungsbedingter Einflüsse findet insbesondere Artikel 21 Punkt 3, sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes, Anwendung.

Dauernde Invalidität – Art 7

[...]

1. Voraussetzung für die Leistung

Die versicherte Person ist durch den Unfall auf Dauer in ihrer körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Die Invalidität ist innerhalb eines Jahres nach dem Unfall eingetreten. ...

2. Art und Höhe der Leistung:

2.1. Die Invaliditätsleistung zahlen wir abhängig vom Invaliditätsgrad

[…]

2.2. Bei völligem Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit der nachstehend genannten Körperteile und Sinnesorgane gelten ausschließlich, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist, die folgenden Invaliditätsgrade:

[…]

• ... eines Beines ... 70 %

2.3 Bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung gilt der entsprechende Teil des jeweiligen Prozentsatzes.

[…]

Unfallfallkosten – Artikel 14

Bis zur Höhe der dafür vereinbarten Versicherungssumme werden von uns Unfallkosten ersetzt. […]

Begrenzung des Versicherungsschutzes

In welchen Fällen zahlen wir nicht? – Artikel 20 und 21

[…]

Sachliche Begrenzung des Versicherungs-schutzes – Artikel 21

1. Eine Versicherungsleistung wird von uns nur für die durch den eingetreten Unfall hervorgerufenen Folgen (körperliche Schädigung oder Tod) erbracht.

2. Bei der Bemessung des Invaliditätsgrades wird ein Abzug in der Höhe einer Vorinvalidität nur vorgenommen, wenn durch den Unfall eine körperliche oder geistige Funktion betroffen ist, die schon vorher beeinträchtigt war. Die Vorinvalidität wird nach Artikel 7 'dauernde Invalidität' Punkt 2 und 3 bemessen.

[…]“

[2] Der Kläger kam am 10. 2. 2020 beim Snowboarden zu Sturz. Dabei wurde das vordere Kreuzband links ruptiert; weiters bestand eine mediale Meniskusruptur links.

[3] Am 5. 8. 2020 nahm der Kläger, ein Polizeibeamter, nachdem er auch eine entsprechende ärztliche Freigabe durch den polizeiärztlichen Dienst erhalten hatte, an einem Auswahlverfahren der Cobra teil. Dabei hatte er unter anderem eine von der Wand ausgeklappte Sprossenwand mit einer Höhe von ca 3 m zu bewältigen. Er war mit Anlauf auf die Seite der Sprossenwand aufgesprungen und zwar so, dass er sich mit der rechten Hand an der obersten Sprosse festhielt, sich in der Folge mit dem Oberkörper über den Scheitelpunkt der Sprossenwand lehnte und sich mit der linken Hand an einer tiefer gelegenen Sprosse an der gegenüberliegenden Seite anhielt. In weiterer Folge zog er den Beckenbereich bzw die Beine hoch, schleuderte nach und sprang dann direkt auf den Boden. Er landete dabei mit dem linken Fuß, der den Hauptanteil des Körpergewichts bzw des Fallgewichts seines Körpers übernahm, um dann mit dem rechten Fuß nach Bodenkontakt sofort starten zu können. Dabei erlitt er eine vordere Kreuzbandruptur links, ein ausgedehntes Knochenmarksödem im Bereich der inneren Oberschenkelrolle bzw des Schienbeinkopfes und eine Überdehnung des Innenseitenbandes.

[4] Durch die beim Vorfall vom 5. 8. 2020 erlittenen Verletzungen verblieb beim Kläger – nach Berücksichtigung der durch den Unfall von Februar 2020 bestehenden Vorinvalidität –eine dauernde Invalidität von 6 %.

[5] Der Kläger begehrte zuletzt die Zahlung von 9.274,43 EUR sA (6.106,80 EUR an Entschädigung für die dauernde Invalidität und 3.167,63 EUR an Unfallkosten). Er habe am 5. 8. 2020 einen Unfall im Sinn des Art 6.2 UD00 erlitten. Die Beklagte habe Versicherungsschutz für die dadurch eingetretene dauernde Invalidität von 6 % und die noch offenen Unfallkosten zu gewähren.

[6] Die Beklagte wandte ein, dass es sich beim Geschehensablauf um keinen Unfall gehandelt habe. Dem Unfallbegriff sei immanent, dass der Bewegungsablauf im Zuge des Unfalls unbeherrschbar werde, eine beherrschte und gewollte Bewegungssituation, wie bei einem Sprung aus 3 m Höhe mit Vorbelastung des vorgeschädigten Knies in eine Drehbewegung nach rechts, um schnell zu starten, sei kein Unfall. Durch das Verhalten des Klägers seien vielmehr solche Kräfte entstanden, die die Reißfestigkeit des Kreuzbandimplantats überstiegen hätten. Ein Ereignis von außen habe nicht auf den Körper eingewirkt. Weiters sei durch die Verletzung keine dauernde Invalidität eingetreten und die durch den Unfall aus dem Februar 2020 erlittene Vorinvalidität sei zu berücksichtigen.

[7] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Nach den zwischen den Streitteilen gültigen AUVB würden Zerrungen und Zerreißungen von an Gliedmaßen und an der Wirbelsäule befindlichen Muskeln, Sehnen, Bändern und Kapseln sowie Meniskusverletzungen jedenfalls als Unfall definiert; insoweit habe der Kläger einen Unfall im Sinn der Versicherungsbedingungen erlitten. Dem Kläger stehe aufgrund seiner unfallbedingten dauernden Invalidität ein Anspruch auf Unfallversicherungsleistung zu. Dabei sei auf die Vorinvalidität des Klägers aufgrund des Unfalls vom Februar 2020 Bedacht zu nehmen. Unter Berücksichtigung dieser Vorinvalidität betrage die unfallkausale dauernde Invalidität des Klägers durch den Unfall vom August 2020 6 %.

[8] Das Berufungsgericht änderte dieses Ersturteil im klagsabweisenden Sinn ab. Art 6.2 UD00 könne nicht unabhängig von Art 6.1 UD00 gelesen werden, sondern fordere der Unfallbegriff – bei gebotener Gesamtbetrachtung – ein „plötzliches“ Unfallereignis im Sinn von Unkontrollierbarkeit, mit welchem eine unfreiwillige Gesundheitsschädigung einhergehe. Im vorliegenden Fall habe der Kläger seine Bewegungsabfolge ausgeführt, um dann mit dem rechten Fuß nach Bodenkontakt sofort starten zu können. Es habe somit der Absicht des Klägers entsprochen, mit dem linken Fuß zu landen; er habe sich aktiv für diese – ungünstige – Variante entschieden. Damit habe die Landung mit dem linken Fuß zum geplanten Bewegungsablauf gehört und sei kein plötzliches Ereignis im Sinne der Versicherungsbedingungen. Daher liege kein Unfall im Sinn der Versicherungsbedingungen vor, weshalb die Beklagte keinen Versicherungsschutz zu gewähren habe.

[9] Das Berufungsgericht ließ die Revision zu. Es begründete seine Zulassungsentscheidung damit, dass die in der Berufungsentscheidung herangezogenen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs in den Klauseln die Ergänzung aufweisen, wonach Sehnen‑, Muskel‑ und Bänderrisse (nur) „infolge von Abweichungen vom geplanten und gewollten Bewegungsablauf“ als Unfälle gelten. Ob diese (ergänzende) Wortfolge nicht ohnehin der (üblichen) allgemeinen Unfalldefinition und dem allgemeinen Verständnis des Unfallbegriffs zugrunde liege, sei eine Rechtsfrage, welche über den Einzelfall hinaus Bedeutung habe.

[10] Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag auf Abänderung dahin, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[11] Die Beklagte begehrt, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Revision ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, sie ist auch berechtigt.

[13] 1. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach ständiger Rechtsprechung nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 ff ABGB) auszulegen und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen, dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insb T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).

[14] 2.1 Die §§ 179 ff VersVG enthalten keine Umschreibung des Unfallbegriffs. Art 6.1 UD00 definiert den allgemeinen Unfallbegriff. Danach handelt es sich bei einem Unfall um ein plötzlich von außen auf den Körper der versicherten Person einwirkendes Ereignis, wodurch diese unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Ein von außen auf den Körper wirkendes Ereignis liegt vor, wenn Kräfte auf den Körper einwirken, die außerhalb des Einflussbereichs des eigenen Körpers liegen; der Begriff grenzt körperinterne Vorgänge vom Unfallbegriff aus, die regelmäßig Krankheiten oder degenerativen Zuständen mit Krankheitswert und damit der Krankenversicherung zuzurechnen sind (7 Ob 57/17h mwN). Für den Versicherten muss die Lage so sein, dass er sich bei normalem Geschehensablauf den Folgen des Ereignisses (Krafteinwirkung auf den Körper) im Augenblick ihres Einwirkens auf seine Person nicht mehr entziehen kann (vgl RS0082022 [T1]). Zwischen dem Unfallereignis, der Gesundheitsschädigung (Unfallereignisfolge) und dem für den Leistungsanspruch relevanten Gesundheitsschaden (Unfallfolge) muss ein adäquater Kausalzusammenhang bestehen (vgl 7 Ob 200/18imwN).

[15] 2.2 In Art 6.2 UD00 werden eine Reihe weiterer Umstände umschrieben, welche auch als „Unfall“ gelten. Der hier vorliegende Fall des Art 6.2 UD00 („als Unfall gelten auch“) kann nur so verstanden werden, dass damit Umstände dem Unfallbegriff gleichgestellt werden (Unfallsfiktion), die sich vom eigentlichen Unfall nach Art 6.1 UD00 unterscheiden (vgl 7 Ob 115/17p zu Art 6.2 AUVB 2006). Liegen die in Art 6.2 UD00 genannten körperlichen Verletzungen vor, besteht Versicherungsschutz ohne Hinzutreten der in Art 6.1 UD00 geforderten weiteren Voraussetzungen (vgl Maitz, AUVB 2017, 62 ff mwN), wobei sich die Beklagte – anders als andere Versicherungsunternehmen in Österreich – gerade für keine einschränkende Formulierung entschieden hat. Zusätzliche Voraussetzungen, die keinen Eingang in die konkrete Bedingungslage fanden, können damit – entgegen der Ansicht der Beklagten und des Berufungsgerichts – nicht berücksichtigt werden.

[16] 2.3 Durch den Unfall vom 5. 8. 2020 erlitt der Kläger eine in Art 6.2 UD00 beschriebene Verletzung, weshalb vom Eintritt eines Unfalls auszugehen ist, der nach den Feststellungen zu einer versicherten dauernden Invalidität führte.

[17] 3. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist weiters nur mehr der Einwand der Beklagten, dass die bereits beim Unfall vom Februar 2020 eingetretene Vorinvalidität „entsprechend“ zu berücksichtigen sei. Das Erstgericht ging aber ohnediesvon einer (unfallkausalen) dauernden Invalidität von 6 % unter Bedachtnahme aufdie beim ersten Unfall erlittene dauernde Invalidität aus. Dass bzw inwieweit das Erstgericht dabei von den Versicherungsbedingungen abgegangen sein soll, wird in keinster Weise dargelegt.

[18] 4. Die Kostenentscheidung gründet auf § 41 ZPO, jene für das Rechtsmittelverfahren auch auf § 50 ZPO.

[19] Wenn das Berufungsgericht einer Berufung stattgibt und das erstgerichtliche Urteil abändert, wodurch ein gegen dieses Urteil erhobener Kostenrekurs gegenstandslos wird, so hat der Oberste Gerichtshof, wenn er das erstinstanzliche Urteil wiederherstellt, über den Kostenrekurs zu entscheiden (RS0036069 [T1]).

[20] Die Klägerin bekämpfte die Kostenentscheidung des Erstgerichts soweit, als ihre Replik vom 10. 3. 2021 nicht und ihr Antrag auf Gutachtenserörterung nur nach TP 2 honoriert worden sei. Tatsächlich hätte für beide Schriftsätze eine Honorierung nach TP 3A erfolgen müssen.

[21] Die Replik des Klägers vom 10. 3. 2021 wurde vom Erstgericht zutreffend nicht honoriert. Das in diesem vom Erstgericht nicht aufgetragenen Schriftsatz (§ 440 ZPO) enthaltene Vorbringen hätte auch in der Tagsatzung vom 24. 3. 2021 erstattet werden können.

[22] Dem Antrag auf Gutachtenserörterung vom 13. 7. 2021 war der Beschluss des Erstgerichts vom 28. 6. 2021 vorangegangen, in dem dieses den Parteien auftrug, binnen 14 Tagen mitzuteilen, ob Erörterung des beiliegenden Gutachtens beantragt und Zustimmung zum Gebührenanspruch erklärt werde. Sollte ein Gutachtenserörterungsantrag gestellt werden, sollte ein konkreter Fragenkatalog an den Sachverständigen angeschlossen werden. Da damit die Fragen dem Sachverständigen zwecks Vorbereitung sinnvollerweise vor der mündlichen Streitverhandlung bekannt zu geben waren, handelte es sich hier um einen vom Gericht aufgetragenen Schriftsatz gemäß TP 3A I.1. lit d (vgl 2 Ob 162/10b).

Im Berufungsverfahren erhält somit der Kläger die Kosten seiner Berufungsbeantwortung ersetzt. Da der Kläger mit seinem Kostenrekurs nur im Ausmaß von 31,5 % obsiegte, erhält die Beklagte 37 % ihrer Kostenrekursbeantwortung.

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