European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00190.21Y.0126.000
Spruch:
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.199 EUR (darin enthalten 353,19 EUR an USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Dem Unfallversicherungsvertrag zwischen den Parteien liegen die Allgemeinen Bedingungen der Unfallversicherung der Beklagten (AUVB 2007 in der Fassung 2012 [in Hinkunft AUVB]) zugrunde, die auszugsweise lauten:
„Art 7 – Was gilt bei vereinbarter Leistung dauernder Invalidität?
[…]
2.2. […] Bei völligem Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit der nachstehend genannten Körperteile und Sinnesorgane gelten ausschließlich die folgenden Invaliditätsgrade:
[…]
– eines Beines 70 %
[…]
2.3. Bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung gilt der entsprechende Teil des jeweiligen Prozentsatzes.
[…]“
[2] Am 17. Juni 2017 kam der Kläger als Motorradfahrer zu Sturz und zog sich dabei einen offenen kniegelenksnahen Oberschenkeltrümmerbruch links mit Gelenksbeteiligung und Weichteilschaden, einen Schienbeinkopf-Trümmerbruch links, einen mehrfragmentären Bruch des Schien- und Wadenbeines links mit Ausdehnung bis in das Sprunggelenk, einen Fersenbeinbruch links, ein Kompartmentsyndrom am Unterschenkel links, einen Oberschenkelschaftbruch rechts sowie Prellungen und Blutergüsse zu.
[3] Der unfallbedingte Dauerschaden für das rechte Bein beträgt 10 % des vollen Beinwertes.
[4] Am linken Bein mussten mehrfach operative Interventionen durchgeführt werden, durch die die Extremität aber nicht erhalten werden konnte. Das linke Bein ist im mittleren Drittel des Oberschenkels, knapp oberhalb der Oberschenkelmitte, amputiert. Die Länge des Oberschenkelstumpfes, gemessen vom oberen vorderen Darmbeinstachel bis zur Stumpfspitze beträgt etwa 40 cm. Der Kläger trägt ein Oberschenkelkunstbein mit einem mikroprozessorgesteuerten Kniegelenk und einem Fußteil aus Karbon. Das An- und Ablegen der Prothese erfolgt selbstständig, zügig und ohne fremde Hilfe; die Handhabung der Prothese bereitet keine Probleme. Die Prothesentragedauer ist zeitlich nicht eingeschränkt; im Sommer wegen der Schweißentwicklung gelegentlich etwas verkürzt. Das Gangbild zeigt sich als hinkendes Prothesengangbild mit Ausgleichsbewegung im Bereich des Oberkörpers. Die Belastungszeit links und die Schrittlänge links sind verkürzt. Das Schritttempo ist normal und die Trittspur etwas verbreitert. Unter Verwendung einer Unterarmstützkrücke erscheint das Gangbild deutlich harmonischer. Der Kläger kann mit dem verbliebenen Oberschenkelstumpf gerade und stabil sitzen und den Rumpf dabei gut ausbalancieren. Zudem ist ihm ein Liegen auf der linken Körperseite möglich, wozu er bei einem völligen Verlust des linken Beines ohne zusätzliche Hilfsmittel nicht in der Lage wäre. In der Amputationschirurgie wird alle Mühe darauf verwendet, einerseits Gliedmaßenlängen zu erhalten und andererseits gut prothesentaugliche Amputationsstümpfe zu schaffen und damit so viel Funktion wie möglich zu erhalten (zu gewinnen). Gliedmaßenstümpfe sind daher a priori nicht als funktionslos anzusehen. Sie haben eine Funktion beim Liegen, beim Sitzen und ermöglichen dem Versehrten mit Hilfe einer Prothese – in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Qualität – das Gehen, im Idealfall sogar das Laufen. Unter Berücksichtigung der dem Kläger verbliebenen Funktionen, die zu einer gewissen Fähigkeit des Sitzens, des Liegens auf der linken Körperhälfte als auch zur Prothesentauglichkeit führen, ergibt sich der unfallbedingte Dauerschaden für das linke Bein mit 90 % vom vollen Beinwert.
[5] Mit seiner am 27. Februar 2020 erhobenen Klage begehrt der Kläger – soweit im Revisionsverfahren noch relevant – eine weitere Invaliditätsleistung, weil die Funktionsfähigkeit seines linken Beines ohne die Prothese zu beurteilen sei. Bei der Ermittlung der Invaliditätsleistung sei daher der volle Beinwert (von 70 %) anzusetzen.
[6] Die Beklagtebestreitet. Trotz Amputation des linken Beines bestehe die Möglichkeit der Verwendung einer (Bein‑)Prothese. Es sei daher kein voller Funktionsverlust eingetreten, sondern vielmehr eine Restfunktion vorhanden, weshalb auch nicht der volle Beinwert berücksichtigt werden könne.
[7] Das Erstgericht wies das darauf gerichtete Begehren ab. Hier befähige die Länge des verbliebenen linken Beinstumpfes den Kläger nicht nur zu gewissen Handlungen wie dem Sitzen und dem Liegen auf der linken Körperseite, sondern auch zum Tragen einer Beinprothese, was nicht vernachlässigt werden könne. Vor diesem Hintergrund sei von einer Invalidität des linken Beines von 90 % und des rechten Beines von 10 % des vollen Beinwertes von 70 % auszugehen.
[8] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigung habe nicht unabhängig von der Prothesentauglichkeit des Beinstumpfes zu erfolgen.
[9] Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Klägers mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[10] Die Beklagte begehrt in der ihr freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr keine Folge zu geben.
[11] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.
[12] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist ausschließlich die Frage, ob bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades für das linke Bein des Klägers die Prothesentauglichkeit zu berücksichtigen ist oder nicht.
Rechtliche Beurteilung
[13] 1. Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) sind nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 f) auszulegen und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv und beschränkt auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insbesondere T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).
[14] 2.1 Für den Fall einer dauernden Invalidität des Versicherten hat der Versicherer die sich aus der Versicherungssumme und dem Grad der Invalidität zu berechnende Versicherungsleistung zu erbringen. Die zwischen den Streitteilen in Art 7.2.2 AUVB vereinbarte Gliedertaxe bestimmt nach einem abstrakten und generellen Maßstab feste Invaliditätsgrade bei völligem Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit des mit ihr benannten Gliedes (vgl 7 Ob 191/15m mwN).
[15] 2.1.1 Nach Art 7.2.3 AUVB wird bei teilweisem Verlust oder teilweiser Funktions‑ oder Gebrauchsunfähigkeit der entsprechende Teil des Prozentsatzes angenommen. Die Funktions‑ oder Gebrauchsunfähigkeit eines Gliedes wird in Bruchteilen der vollen Gebrauchsunfähigkeit ausgedrückt. Der in der Gliedertaxe vorgesehene Prozentsatz wird entsprechend dieses Bruchteils vermindert (7 Ob 191/15m mwN).
[16] 2.1.2 Bei teilweisem Verlust ist der für das gesamte Glied/Gliedteil festgesetzte Satz der Ausgangspunkt für die Bewertung und festzustellen, inwieweit dieser beeinträchtigt ist. Es ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang das Glied oder das Sinnesorgan seine natürlichen Aufgaben (noch) zu erfüllen vermag (vgl Knappmann in Prölss/Martin, VVG31; AUB 2014 Abs 2 Ziff 2 Rn 40 mwN).
[17] 2.3 Werden Gliedmaßen durch Prothesen ersetzt, liegt dennoch der Verlust des entsprechenden Gliedes vor. Der Grund liegt darin, dass durch den Gebrauch einer Prothese der Verlust des abgetrennten Gliedes nicht aufgehoben wird (Maitz, Allgemeine Bedingungen für die Unfallversicherung [2017] Art 7, 88; Knappmann aaO Rn 42; Rüffer in Rüffer/Halbach/Schimikowski, Versicherungsvertragsgesetz4, AUB 2014 2 Rn 27; Grimm/Kloth, Unfallversicherung AUB6 AUB 2014 Abs 2 Ziff 2 Rn 77; Mangen in Beckmann/Matusche‑Beckmann, Versicherungsrechts- Handbuch3 § 47 Unfallversicherung Rn 191).
[18] 3.1 Hier geht es aber nicht darum, dass die Prothese den (teilweisen) Verlust des Beines des Klägers aufhebt, sondern um die Frage, ob bei einem Teilverlust des Beines eine verbleibende Prothesentauglichkeit den in der Gliedertaxe vorgesehenen Prozentsatz entsprechend vermindert.
[19] 3.2 Zu den natürlichen Aufgaben, die die Beine zu erfüllen haben, zählt im Wesentlichen die Fortbewegung. Die Prothesentauglichkeit des verbleibenden Gliederrestes dient der unmittelbaren Erfüllung dieser Aufgabe. Sie verbessert jedenfalls die Fortbewegungsmöglichkeiten gegenüber der Situation, eine Prothese nicht verwenden zu können und auf Krücken oder gar den Rollstuhl angewiesen zu sein, erheblich. Die dem Gliederrest verbleibende Prothesentauglichkeit bewirkt – gegenüber dem völligen Verlust des Gliedes – eine Verbesserung der Gebrauchsfähigkeit des Beines und damit der gesamten Lebenssituation des Versicherungsnehmers. Daher wird auch der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer davon ausgehen und Art 7.2.3 AUVB dahin verstehen, dass die einem Gliederrest verbleibende Prothesentauglichkeit einen geringeren Invaliditätsgrad zur Folge hat als der vollständige Verlust des Gliedes.
[20] 3.3. Die Beurteilung der Vorinstanzen, dass die einem Gliederrest verbleibende Prothesentauglichkeit bei der Bestimmung des Invaliditätsgrades bei teilweisem Verlust eines Gliedes nicht unberücksichtigt zu bleiben hat, ist daher zutreffend. Die vom Kläger weiters aufgeworfene Frage, ob die Ermittlung des Invaliditätsgrades in 5 %‑Schritten zu erfolgen habe, stellt sich nicht.
[21] 4. Der Revision war daher der Erfolg zu versagen. Die Kostenentscheidung gründet auf die §§ 41, 50 ZPO.
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