Normen
Allgemeine Bedingungen für die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung 1967 Art8 Abs1 Z1
VersVG §6 Abs3
Allgemeine Bedingungen für die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung 1967 Art8 Abs1 Z1
VersVG §6 Abs3
Spruch:
Die Unterlassung der Anzeige wegen anscheinender Geringfügigkeit des Schadens schließt die Annahme vorsätzlicher Obliegenheitsverletzung nicht aus
OGH 11. Juli 1974, 7 Ob 133/74 (OLG Linz 4 R 4/74; LG Linz 2 Cg 124/71)
Text
Der Beklagte verschuldete am 31. Juli 1969 als Lenker und Halter eines bei der klagenden Partei haftpflichtversicherten PKWs einen Verkehrsunfall, wobei der Fahrzeuginsasse August M verletzt wurde.
Mit der vorliegenden Klage begehrt die klagende Partei vom Beklagten im Regreßwege die Zahlung eines Betrages von 23.680.52 S, den sie im Zusammenhang mit dem Versicherungsfall für August M, der gegen beide Prozeßparteien eine Schadenersatzklage erhoben hatte, aufgewendet habe. Sie begehrt ferner die Feststellung der Haftung des Beklagten für alle künftigen Schäden aus diesem Unfall, soweit sie von M in Anspruch genommen werde. Beide Begehren grundet die klagende Partei auf die Behauptung einer Obliegenheitsverletzung des Beklagten im Sinn des Art. 8 Abs. 1 Z. 1 AKHB. Dieser habe nämlich die sofortige Anzeige des Unfalles bei der nächsten Gendarmeriedienststelle unterlassen. Das habe auch zur Folge gehabt, daß die Frage der Alkoholisierung des Beklagten nicht habe geklärt werden können.
Der Beklagte bestritt das Klagebegehren und beantragte Klagsabweisung. Er gab lediglich sein Verschulden an dem Unfall, den bestehenden Haftpflichtversicherungsvertrag in diesem Zeitpunkt, die unfallskausale Verletzung des August M und die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen durch diesen als richtig zu. Der Beklagte habe jedoch eine Obliegenheit nicht verletzt, weil bei M, der erklärt habe, keinen Arzt aufsuchen zu wollen, unmittelbar nach dem Unfall nur eine geringfügige Blutung festzustellen gewesen sei. Als der Beklagte am Tage nach dem Unfall erfahren habe, daß die Verletzungen M doch gravierender seien, habe er die Anzeige sofort erstattet. Selbst wenn eine Obliegenheitsverletzung vorläge, beruhte sie nicht auf Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit, so daß die Rechtsfolgen einer solchen Verletzung nach dem § 6 Abs. 3 VVG nicht eintraten. Da eine etwaige Obliegenheitsverletzung weder auf die Feststellung des Versicherungsfalles noch auf die Feststellung oder den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistung einen Einfluß ausgeübt habe, wäre die klagende Partei auch bei Annahme einer groben Fahrlässigkeit des Beklagten nicht leistungsfrei. Der Beklagte bestritt ferner ausdrücklich, daß die klagende Partei an M die in der Klage geltend gemachten Leistungen zu erbringen gehabt habe. Das Feststellungsbegehren sei nicht berechtigt, weil keinerlei unfallskausale Schäden mehr vorhanden seien.
Das Erstgericht hat sowohl das Leistungs- als auch das Feststellungsbegehren abgewiesen. Es legte seiner Entscheidung im wesentlichen folgende Feststellungen zugrunde:
Der Beklagte verlor infolge überhöhter Geschwindigkeit die Herrschaft über seinen Wagen und prallte gegen einen Lichtmast. Während der Beklagte und zwei weitere Fahrzeuginsassen unverletzt blieben, stieß M mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe. Er erlitt dadurch eine Rißquetschwunde an der Oberlippe und einen Bruch der Nasenscheidewand. Da diese Verletzungen anfänglich nur geringfügig erschienen - sie äußerten sich in einer leichten Blutung - schlug der Verletzte das Angebot des Beklagten, ihn zu einem Arzt zu bringen, aus. An dem Lichtmast war eine Beschädigung nicht ersichtlich. Der Beklagte fuhr mit dem noch fahrbaren PKW nach M, wo er eine Kanzlei hatte, ohne den Unfall bei der Gendarmerie zu melden. Eine Verpflichtung zu einer solchen Meldung kam ihm nicht zu Bewußtsein. Von der Kanzlei aus verständigte der Beklagte telefonisch den Vater des Verletzten, der seinen Sohn nach Hause brachte. Etwa zwei Stunden nach dem Unfall wollte M doch einen Arzt auf, suchen. Da er keinen Arzt erreichte, wurde er vom Rettungsdienst in das Allgemeine Krankenhaus Linz gebracht. Dort wurde eine 2 1/2 cm lange Rißquetschwunde an der Oberlippe und ein Bruch der Nasenscheidewand festgestellt. M befand sich vom 31. Juli bis 6. August 1969 in stationärer Behandlung und anschließend bis 24. August 1969 im Krankenstand. Durch die Unterlassung der sofortigen Anzeige wurde die Behandlung des Verletzten um etwa zwei Stunden verzögert. Diese Unterlassung hatte auf den Heilverlauf ebensowenig einen Einfluß wie auf die Feststellung des Versicherungsfalles oder auf den Umfang der dem Verletzten zustehenden Ansprüche. Als M am Tage nach dem Unfall nicht zur Arbeit erschien, begab sich der Beklagte zu dessen Eltern und erfuhr, daß im Krankenhaus ein Nasenscheidewandbruch festgestellt worden sei. Hierauf meldete er den Unfall unverzüglich bei der Gendarmerie in Hofkirchen. Der Beklagte wurde von der Bezirkshauptmannschaft R wegen Verwaltungsübertretung nach dem § 4 Abs. 1 lit. c und § 4 Abs. 2 StVO zu Geldstrafen von je 500 S verurteilt, weil er es unterlassen hatte, an der Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes mitzuwirken und den Unfall ohne unnötigen Aufschub der nächsten Gendarmeriedienststelle zu melden. Er wurde überdies der Übertretung nach dem § 335 StG mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes L schuldig erkannt. August M brachte in der Folge eine Schadenersatzklage gegen die beiden nunmehrigen Prozeßparteien ein. Er begehrte die Zahlung eines Schmerzengeldes von 25.000 S sowie die Feststellung der Haftung für künftige Schäden. Die Beklagten wurden schließlich zur Zahlung eines Betrages von 3000 S verurteilt, nachdem ein Betrag von 7000 S bereits gezahlt gewesen war. In rechtlicher Hinsicht verneinte das Erstgericht den Eintritt der Leistungsfreiheit. Dem Beklagten könne nur leichte Fahrlässigkeit hinsichtlich der Unterlassung der Anzeige angelastet werden, so daß die klagende Partei nicht leistungsfrei sei.
Das Berufungsgericht hob dieses Urteil auf und verwies die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung unter Rechtskraftvorbehalt an das Erstgericht zurück. Es übernahm dessen Feststellungen als unbedenklich und ging in rechtlicher Hinsicht von einer objektiven Obliegenheitsverletzung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Z. 1 AKHB aus. Das Berufungsgericht schloß jedoch mit Rücksicht auf die für den Beklagten nur als geringfügig erkennbare Verletzung eine vorsätzliche Obliegenheitsverletzung aus. Da das Erstgericht über eine Alkoholisierung keine Feststellungen getroffen habe, dieser Frage aber im Hinblick auf die Bestimmung des Art. 2 Abs. 2 lit. c AKHB für die Beurteilung der Leistungsfreiheit der klagenden Partei sowie für die Unterscheidung zwischen grober oder leichter Fahrlässigkeit Bedeutung zukomme, müsse das Urteil aufgehoben und die Rechtssache an das Erstgericht zurückverwiesen werden.
Der Oberste Gerichtshof gab dem Rekurs der Klägerin nicht Folge.
Rechtliche Beurteilung
Aus der Begründung:
Da ein unter Rechtskraftvorbehalt gefaßter Aufhebungsbeschluß auch von der Partei angefochten werden kann, auf deren Berufung hin die Aufhebung erfolgt ist (SZ 23/159; RZ 1965, 83 u. v. a.)., erweist sich der Rekurs als zulässig. Soweit die Rekurswerberin die Auffassung vertritt, daß sie infolge der Unterlassung der Anzeigeerstattung leistungsfrei sei, so daß die vom Berufungsgericht in den Mittelpunkt seiner Entscheidung gerückte Frage der Alkoholisierung - ungeachtet der möglicherweise auch darin zum Ausdruck kommenden Obliegenheitsverletzung - dahingestellt bleiben könne, ist ihren Ausführungen zuzustimmen.
Die Untergerichte sind zutreffend davon ausgegangen, daß in der Unterlassung der Anzeige eine objektive Obliegenheitsverletzung des Beklagten zu erblicken ist, weil dieser als Versicherungsnehmer gemäß dem Art. 8 Abs. 1 Z. 1 AKHB unter anderem verpflichtet war, im Falle der Verletzung von Personen die nächste Polizei- oder Gendarmeriedienststelle sofort zu verständigen. Diese Obliegenheit stimmt mit der sich aus dem § 4 Abs. 2 StVO ergebenden Verpflichtung genau überein. Die Untergerichte vertreten die Auffassung, daß dem Beklagten eine vorsätzliche Verletzung dieser Obliegenheit im Hinblick auf die Geringfügigkeit der erkennbaren Verletzung nicht angelastet werden könne. Dieser Auffassung kann jedoch nicht gefolgt werden.
Vorsatz im Sinne des § 6 Abs. 3 VersvG setzt voraus, daß das die Obliegenheitsverletzung begrundende Verhalten ein bewußtes und gewolltes war. Hiefür genügt aber schon das allgemeine Bewußtsein, daß ein Haftpflichtversicherter bei der Aufklärung des Sachverhaltes nach besten Kräften aktiv mitwirken muß. Dieses Bewußtsein ist heute bei einem Versicherten in der Regel vorauszusetzen, es sei denn, daß sich aus ganz besonderen, vom Versicherungsnehmer zu beweisenden Umständen etwas anderes ergibt. Ob dem Versicherungsnehmer daneben sozusagen mildernde Umstände zugutezuhalten sind, ist nur für die Unterscheidung von grober und leichter Fahrlässigkeit von Bedeutung (VersR 1973, 1179; 1972, 1152; zuletzt 7 Ob 51/74 u. v. a.).
Der Beklagte vermeint, ein solches Bewußtsein ausschließende Umstände in der nur geringfügigen, nicht nennenswerten Verletzung des August M erblicken zu können. Die Unterlassung der Anzeige wegen anscheinender Geringfügigkeit des Schadens schließt jedoch die Annahme der vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung nicht aus (VersR 1965, 627). Auf den Grad der erkennbaren Verletzung der bei dem Schadensereignis verletzten Person kommt es nicht an. Im vorliegenden Fall wußte der Beklagte, daß M mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe gestoßen war, die dabei zerbrochen wurde, und daß er eine (2 1/2 cm lange) Rißquetschwunde an der Oberlippe erlitten hatte. Nach dem Vorbringen in der Klagebeantwortung hat der Beklagte eine "leichte Blutung an der Oberlippe" des Mühlberger festgestellt in der Parteienvernehmung beschränkte sich der Beklagte zunächst auf die Bekundung, der Verletzte habe Nasenbluten gehabt, um aber schließlich auch eine Verletzung an der Oberlippe in Form eines "Kratzers" zuzugeben. Nach den Feststellungen der Untergerichte haben beide Verletzungen geblutet. Wenn auch der Bruch der Nasenscheidewand für den Beklagten nicht erkennbar war, so konnte er doch nicht den geringsten Zweifel an einer Verletzung des nach den Parteiangaben des Beklagten noch nach ein- bis eineinhalb Stunden (mit Unterbrechungen) aus der Nase blutenden Mühlberger haben. Er konnte diese Verletzungen keineswegs mit einem harmlosen Nasenbluten verwechseln, weil dieses, wenn es harmlos ist, nach wenigen Minuten aufzuhören pflegt. Die Meinung des Beklagten, er sei zu einer sofortigen Anzeige bei der nächsten Gendarmeriedienststelle nicht verpflichtet gewesen, beruhte daher möglicherweise auf Unkenntnis der Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung und der Allgemeinen Bedingungen für die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, nicht aber auf Unkenntnis der für die Anzeigepflicht maßgebenden Tatsache der Verletzung einer Person und ist nicht geeignet, das oben dargelegte Bewußtsein der Verpflichtung zur Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung auszuschließen. Der dem Versicherungsnehmer bei Vorliegen einer Obliegenheitsverletzung zukommende Entlastungsbeweis, er habe nicht vorsätzlich gehandelt, kann nicht schon mit dem Hinweis als erbracht angesehen werden, daß ihm die einzelnen Bestimmungen der Versicherungsbedingungen nicht bekannt gewesen seien (7 Ob 188/70). Die Unterlassung der Anzeige durch den Beklagten beruhe daher auf Vorsatz. In diesem Falle ist der Versicherer von seiner Leistung auch dann frei, wenn die Verletzung weder Einfluß auf die Feststellung des Versicherungsfalles noch auf die Feststellung oder den Umfang der dem Versicherer obliegenden Leistung gehabt hat (VersR 1973, 1179, 1972, 1152 u. va.). Diese rechtliche Beurteilung führt zu dem Ergebnis, daß die Frage, ob der Beklagte im Unfallszeitpunkt alkoholisiert gewesen sei, nicht streitentscheidend ist und daher unerörtert bleiben kann. Dem inhaltlich berechtigten Rekurs konnte aber gleichwohl nicht Folge gegeben und der Aufhebungsbeschluß des Berufungsgerichtes zwecks neuerlicher Entscheidung im klagsstattgebenden Sinn nicht aufgehoben werden, weil die Untergerichte, ausgehend von ihrer vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsauffassung, weder Feststellung zur Höhe des Leistungsbegehrens getroffen noch die vom Beklagten bestrittene Zulässigkeit des Feststellungsbegehrens erörtert haben. Da somit noch ein in diesem Sinn ergänzendes Verfahren in erster Instanz erforderlich ist, um diese Sache spruchreif zu machen, mußte es bei der Aufhebung des erstgerichtlichen Urteiles bleiben.
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