European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:E132802
Spruch:
Aus Anlass des Revisionsrekurses werden die Beschlüsse der Vorinstanzen aufgehoben, das diesen vorausgegangene Verfahren für nichtig erklärt, und der Antrag der Antragstellerin, den Absonderungsbescheid der Bezirkshauptmannschaft Neunkirchen vom 23. März 2021 BKA5‑I‑214/5188 gemäß § 7 Abs 1a EpidemieG 1950 als nichtig oder rechtswidrig zu beheben und die verfügte Freiheitsbeschränkung unverzüglich aufzuheben, zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Am 22. 3. 2021 wurde eine Volksschul-Klassenkollegin der achtjährigen Antragstellerin positiv auf COVID‑19 getestet.
[2] Am 23. 3. 2021 erließ deshalb die Bezirksverwaltungsbehörde gegenüber der Antragstellerin einen Bescheid, mit dem sie „aufgrund Ihrer möglichen Ansteckung mit der Lungenerkrankung COVID‑19 (SARS‑CoV‑2‑Virus)‟ die Absonderung am Wohnort der Antragstellerin „mit sofortiger Wirkung bis einschließlich 5.4.2021“ anordnete; weiters wurde die Antragstellerin verpflichtet, ab 27. 3. 2021 innerhalb von 48 Stunden eine PCR‑Teststation zur Testung aufzusuchen.
[3] Die Antragstellerin beantragte am 29. 3. 2021 beim Erstgericht wie aus dem Spruch ersichtlich die Behebung des Bescheids und Aufhebung der Freiheitsbeschränkung.
[4] Das Erstgericht verkündete in mündlicher Verhandlung am 7. 4. 2021 den Beschluss, wonach die von der Bezirkshauptmannschaft verfügte Absonderung der Antragstellerin bis einschließlich 5. 4. 2021 zulässig gewesen sei. Auf den Sachverhalt sei § 7 Abs 1a EpiG idF vor der Aufhebung seines zweiten Satzes durch den Verfassungsgerichtshof zu G 380/2020 anzuwenden. Die Voraussetzungen für die Absonderung seien vorgelegen.
[5] Das Rekursgericht teilte die Rechtsansicht des Erstgerichts, gab dem Rekurs der Antragstellerin nicht Folge und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu.
[6] Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Antragstellerin mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Rechtliche Beurteilung
[7] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil aus Anlass dieses Rechtsmittels von Amts wegen eine Nichtigkeit wahrzunehmen ist und einer solchen Frage immer erhebliche Bedeutung zur Wahrung der Rechtssicherheit zukommt (vgl RS0042743, RS0041896 [T7]).
[8] 1. § 7 Abs 1a des Epidemiegesetzes 1950 (EpiG), BGBl 1950/186, lautete in der bis einschließlich 8. 4. 2021 geltenden Fassung gemäß BGBl I 2016/63:
„(1a) Zur Verhütung der Weiterverbreitung einer in einer Verordnung nach Abs. 1 angeführten anzeigepflichtigen Krankheit können kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen angehalten oder im Verkehr mit der Außenwelt beschränkt werden, sofern nach der Art der Krankheit und des Verhaltens des Betroffenen eine ernstliche und erhebliche Gefahr für die Gesundheit anderer Personen besteht, die nicht durch gelindere Maßnahmen beseitigt werden kann. Die angehaltene Person kann bei dem Bezirksgericht, in dessen Sprengel der Anhaltungsort liegt, die Überprüfung der Zulässigkeit und Aufhebung der Freiheitsbeschränkung nach Maßgabe des 2. Abschnitts des Tuberkulosegesetzes beantragen. Jede Anhaltung, die länger als zehn Tage aufrecht ist, ist dem Bezirksgericht von der Bezirksverwaltungsbehörde anzuzeigen, die sie verfügt hat. Das Bezirksgericht hat von Amts wegen in längstens dreimonatigen Abständen ab der Anhaltung oder der letzten Überprüfung die Zulässigkeit der Anhaltung in sinngemäßer Anwendung des § 17 des Tuberkulosegesetzes zu überprüfen, sofern die Anhaltung nicht vorher aufgehoben wurde.“
[9] 2. Mit auf Art 140 Abs 1 Z 1 lit a B‑VG gestütztem Antrag an den Verfassungsgerichtshof begehrte (unter anderen) der erkennende Senat zu 7 Ob 139/20x, § 7 Abs 1a Satz 2 EpiG idF BGBl I 2016/63, in eventu § 7 Abs 1a Satz 2 bis 4 EpiG idF BGBl I 2016/63, in eventu § 7 Abs 1a Satz 2 bis 4 EpiG idF BGBl I 2020/104 als verfassungswidrig aufzuheben.
[10] 3.1. Der VfGH hob mit Erkenntnis vom 10. 3. 2021, G 380/2020 ua, § 7 Abs 1a zweiter Satz des EpiG idF BGBl I 2016/63 wegen Verstoßes gegen Art 18 Abs 1 iVm Art 83 Abs 2 B‑VG als verfassungswidrig auf und beschloss gleichzeitig, von der ihm gemäß Art 140 Abs 7 zweiter Satz B‑VG eingeräumten Ermächtigung Gebrauch zu machen und die Anlassfallwirkung (nur) auf die bei ihm zu K I 13/2020, E 2375/2020 anhängige Rechtssache auszudehnen.
[11] 3.2. Zur Begründung führte der VfGH zusammengefasst aus:
[12] Die antragstellenden Gerichte hätten ihre Anträge unter anderem damit begründet, dass dem Verweis des § 7 Abs 1a zweiter Satz EpiG auf den 2. Abschnitt des Tuberkulosegesetzes nicht hinreichend klar entnommen werden könne, worüber und nach welchen verfahrensrechtlichen Regeln die Bezirksgerichte nach dieser Bestimmung konkret zu entscheiden hätten. Dem habe die Bundesregierung entgegengehalten, dass ein die Absonderung verfügender Bescheid der Bezirksverwaltungsbehörde nicht Gegenstand der Kontrolle durch die Bezirksgerichte sei und dass sich das Verfahren der Bezirksgerichte im Übrigen nach § 17 Abs 4 und 5 iVm § 20 Abs 2 Z 3 und Z 4 Tuberkulosegesetz richte.
[13] Art 18 (iVm Art 83 Abs 2) B‑VG verpflichte den Gesetzgeber aber zu einer – strengen Prüfungsmaßstäben standhaltenden – präzisen Regelung der Behördenzuständigkeit, was auch eine klare Regelung hinsichtlich des anzuwendenden Verfahrensrechts jedenfalls dann bedinge, wenn dieses die Zuständigkeit mitbestimme. § 7 Abs 1a zweiter Satz EpiG verweise (im Unterschied zu dessen viertem Satz) hinsichtlich der Überprüfung der Zulässigkeit der Freiheitsbeschränkung durch das Bezirksgericht auf die „Maßgabe des 2. Abschnitts des Tuberkulosegesetzes‟ insgesamt. Dieser sehe aber nicht bloß ein anderes System zur Verfügung und Kontrolle von Freiheitsbeschränkungen, sondern in diesem System wiederum unterschiedliche Verfahrensarten vor.
[14] Angesichts des pauschalen Verweises in § 7 Abs 1a zweiter Satz EpiG auf den 2. Abschnitt des Tuberkulosegesetzes sei schon nicht mit der für die Festlegung von Behördenzuständigkeiten erforderlichen Deutlichkeit zu erkennen, worin der Prüfungsgegenstand des Bezirksgerichts – und damit dessen Zuständigkeitsumfang – genau liegen solle, insbesondere, ob sich die Prüfung des Bezirksgerichts auch auf einen allfälligen Bescheid der Bezirksverwaltungsbehörde oder lediglich auf eine nachfolgende Anhaltung zu beziehen habe und gegebenenfalls in welchem Verhältnis die Kognitionsbefugnis des Bezirksgerichts zu einer allenfalls verbleibenden Prüfungsbefugnis der Verwaltungsgerichte stehe. Selbst wenn man mit der Bundesregierung den Verweis auf den 2. Abschnitt des Tuberkulosegesetzes bloß als Verweis auf das Verfahren nach § 17 Abs 4 Tuberkulosegesetz und die daran anknüpfenden Regeln beziehen wollte (wobei unklar bliebe, warum dies – im Unterschied zu § 7 Abs 1a vierter Satz EpiG – durch einen Verweis auf den gesamten 2. Abschnitt des Tuberkulosegesetzes angeordnet werden sollte), wäre der genaue Prüfungsgegenstand nicht mit hinreichender Deutlichkeit erkennbar; weiters bliebe unklar, ob die Sondervorschriften des § 20 Tuberkulosegesetz (wie die Bundesregierung meine) allgemein oder aber nur in Fällen von Freiheitsentziehungen in Form der Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt zur Anwendung kommen sollten.
[15] Schon aus diesen Gründen widerspreche § 7 Abs 1a zweiter Satz EpiG dem Bestimmtheitsgebot des Art 18 (iVm Art 83 Abs 2) B‑VG und sei als verfassungswidrig aufzuheben.
[16] 3.3. Die Kundmachung dieses Erkenntnisses in BGBl I 2021/64 erfolgte am 8. 4. 2021; mit Ablauf dieses Tages ist die Aufhebung des § 7 Abs 1a zweiter Satz EpiG in Kraft getreten (§ 140 Abs 5 B‑VG).
[17] 4.1. Gerichte und Verwaltungsbehörden sind grundsätzlich verpflichtet, ein durch den VfGH aufgehobenes Gesetz oder eine aufgehobene Verordnung weiterhin auf Tatbestände anzuwenden, die sich vor dem Außerkrafttreten des aufgehobenen Gesetzes oder der aufgehobenen Verordnung konkretisiert haben, sofern der VfGH nichts anderes ausgesprochen hat; soweit nach diesen Grundsätzen ein Gesetz (eine Verordnung) weiterhin anzuwenden ist, ist eine neuerliche Überprüfung dieses Gesetzes (der Verordnung) durch den VfGH ausgeschlossen (vgl 7 Ob 45/21z Pkt 2.2. mwN).
[18] 4.2. Da im vorliegenden Fall die Antragstellung am 29. 3. 2021 während aufrechter Absonderung, nach Fassung des Erkenntnisses des VfGH über die Aufhebung des § 7 Abs 1a Satz 2 EpiG, aber vor deren Kundmachung erfolgte, ist hier – wie die Vorinstanzen zutreffend erkannten – § 7 Abs 1a EpiG einschließlich der nunmehr aufgehobenen Bestimmung seines zweiten Satzes anzuwenden.
[19] 5. Aus dieser Bestimmung ergibt sich aber keine gerichtliche Entscheidungskompetenz für den vorliegenden Antrag.
[20] 5.1. Die Zulässigkeit des Rechtswegs im eigentlichen (engeren) Sinn (Justizweg) betrifft die Zugehörigkeit einer Rechtssache zum Entscheidungsbereich eines Gerichts und grenzt diesen vom Entscheidungsbereich der Verwaltungsbehörden ab (7 Ob 110/08i [6.1.]; vgl Ballon in Fasching/Konecny I³ [2013] § 1 JN Rz 68/1 ff); sie ist eine absolute Prozessvoraussetzung, die jederzeit auf Antrag oder von Amts wegen wahrzunehmen ist (Ballon aaO Rz 79). Trotz Fehlens der Zulässigkeit des Rechtswegs getroffene Entscheidungen sind aufzuheben, das Verfahren ist für nichtig zu erklären und es ist der verfahrenseinleitende Antrag zurückzuweisen (§ 42 Abs 1 JN; § 56 Abs 1 iVm § 66 Abs 1 Z 1 AußStrG; G. Kodek in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I² [2019] § 1 Rz 185 und § 56 Rz 4).
[21] 5.2. Wie aus den oben wiedergegebenen Erwägungen des VfGH in seinen Entscheidungsgründen zu G 380/2020 ua erhellt, ist dem § 7 Abs 1a EpiG in der hier noch anzuwendenden Fassung nicht zu entnehmen, ob und unter Anwendung welcher verfahrensrechtlichen Vorschriften eine Kognitionsbefugnis der ordentlichen Gerichte für die Überprüfung der Zulässigkeit und Aufhebung von Freiheitsbeschränkungen wie der hier gegenständlichen besteht. Eine ihre Grundlage im Gesetz findende (vgl RS0008798) verfassungskonforme Auslegung (vgl RS0008793) des § 7 Abs 1a EpiG, aus der sich Anderes ergäbe, ist demnach nicht möglich. Ungeachtet des Umstands, dass das vorliegende Verfahren von der Aufhebung des zweiten Satzes des § 7 Abs 1a EpiG durch den VfGH nicht betroffen ist, kann somit aus dieser Bestimmung eine Kompetenz der ordentlichen Gerichte iSd Art 82 ff B‑VG für den von der Antragstellerin verfolgten Antrag nicht abgeleitet werden.
[22] 6. Der amtswegigen Wahrnehmung des Fehlens dieser absoluten Prozessvoraussetzung der Zulässigkeit des Rechtswegs im eigentlichen (engeren) Sinn steht nicht entgegen, dass sie sich konkret zum Nachteil der Revisionsrekurswerberin auswirkt (vgl RS0041942 [T10]).
[23] Daher waren spruchgemäß die Beschlüsse der Vorinstanzen aufzuheben, das Verfahren war für nichtig zu erklären und der Antrag der Antragstellerin zurückzuweisen (§ 42 Abs 1 JN, § 56 Abs 1 iVm § 66 Abs 1 Z 1 AußStrG).
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