OGH 6Ob294/99z

OGH6Ob294/99z11.11.1999

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Mag. Engelmaier als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schiemer, Dr. Huber, Dr. Prückner und Dr. Schenk als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Sarah R*****, über den Revisionsrekurs ihres Vaters Raffaele R*****, vertreten durch Dr. Jörg Hobmeier, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen den Beschluss des Landesgerichtes Innsbruck als Rekursgericht vom 14. Dezember 1999, GZ 51 R 131/99k-36, womit der Beschluss des Bezirksgerichtes Innsbruck vom 20. August 1999, GZ 4 P 94/99g-30, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die mj. Sarah ist das eheliche Kind der österreichischen Staatsbürgerin Maria Rebekka R***** und des italienischen Staatsbürgers Raffaele R*****. Die in Italien geschlossene Ehe ihrer Eltern ist nach wie vor aufrecht. Sarah lebte seit ihrer Geburt bis zum 6. 4. 1999 gemeinsam mit ihren Eltern in P*****, Italien. Am 6. 4. 1999 reiste die Mutter mit Sarah unter dem Vorwand, das Kind in Österreich ärztlich untersuchen zu lassen, nach Österreich und kehrte nicht mehr zu ihrem Mann zurück. Sie wohnt nun mit Sarah in Innsbruck.

Mit Beschluss vom 20. 8. 1999 wies das Erstgericht den Antrag des Vaters auf Rückführung des Kindes nach dem Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung BGBl 1988/512, ab. Das Verbringen des Kindes durch die Mutter sei zwar widerrechtlich im Sinn des Art 3 des Übereinkommens gewesen. Die Rückgabe des Kindes sei jedoch abzulehnen, weil diese mit der schwerwiegenden Gefahr eines seelischen Schadens des Kindes verbunden wäre.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss. Seinen ursprünglichen Ausspruch, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, änderte es mit Beschluss vom 19. 10. 1999 auf Antrag des Vaters "nach § 14a Abs 3 AußStrG" dahin ab, dass es den Revisionsrekurs nunmehr für zulässig erklärte.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 5 Abs 2 des Gesetzes zur Durchführung des Kindesentführungsübereinkommens, BGBl 1988/513, sind Verfahren nach diesem Übereinkommen im außerstreitigen Verfahren durchzuführen. Gemäß § 14 Abs 5 AußStrG kann - so wie nach der Rechtslage vor der WGN 1997 - ein außerordentlicher Revisionsrekurs erhoben werden, obgleich das Rekursgericht nach § 13 Abs 1 Z 2 AußStrG ausgesprochen hat, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht nach § 14 Abs 1 AußStrG zulässig sei, wenn der Entscheidungsgegenstand insgesamt 260.000 S übersteigt oder soweit er nicht rein vermögensrechtlicher Natur ist. § 14a AußStrG kommt in diesem Fall nicht zur Anwendung. Da der hier strittige Anspruch des Vaters auf Rückführung des Kindes nicht vermögensrechtlicher Natur ist, war der den ursprüglichen Unzulässigkeitsausspruch abändernde Beschluss des Rekursgerichtes ungeachtet dessen, dass der Vater einen diesbezüglichen Abänderungsantrag an das Rekursgericht stellte und damit einen "ordentlichen" Revisionsrekurs verband, verfehlt. Das Rechtsmittel des Vaters wäre vielmehr als außerordentlicher Revisionsrekurs zu behandeln und dem Obersten Gerichtshof unmittelbar vorzulegen gewesen (§ 16 Abs 2 Z 3 AußStrG). Da der Oberste Gerichtshof aber an einen Ausspruch des Rekursgerichtes über die Zulässigkeit des Revisionsrekurses nach § 13 Abs 1 Z 2 AußStrG (§ 16 Abs 3 AußStrG) und auch an eine abändernde Entscheidung im Sinne einer Bejahung dieser Zulässigkeit nicht gebunden ist, ist die Frage der Zulässigkeit des Revisionsrekurses nach § 14 Abs 1 AußStrG vom Obersten Gerichtshof unabhängig von dem zu Unrecht ergangenen Beschluss des Rekursgerichtes über die Abänderung des Unzulässigkeitsausspruches zu prüfen.

Eine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 14 Abs 1 AußStrG liegt nicht vor. Es ist zwar nicht strittig, dass die Mutter das Kind widerrechtlich im Sinn des Art 3 des Übereinkommens in Österreich zurückhält. Erklärtes Ziel des Übereinkommens ist es, die internationale Zusammenarbeit der Kindesentführungen zu verstärken, um das gestörte Sorgeverhältnis so rasch wie möglich wieder herzustellen. Es soll verhindert werden, dass jemand mehr oder weniger künstliche internationale Zuständigkeitsverbindungen schafft, um auf diesem Weg das anzuwendende Recht zu verfälschen und eine für ihn günstigere gerichtliche Entscheidung zu erlangen. Aus diesem Grund hat demnach der Wunsch den Vorrang erhalten, die Wiederherstellung der durch den Entführer veränderten Situation zu garantieren. Das Übereinkommen lässt jedoch bestimmte Ausnahmen von der allgemeinen Verpflichtung der Staaten zu, die sofortige Rückgabe der widerrechtlich verbrachten oder zurückgehaltenen Kinder sicherzustellen. Diese Ausnahmen sind in Art 13 Abs 1 des Übereinkommens enthalten. Nach dessen lit b ist die zuständige Behörde - ungeachtet der grundsätzlichen Verpflichtung zur sofortigen Rückgabe des Kindes (Art 12 Abs 1) - dann nicht verpflichtet, die Rückgabe anzuordnen, wenn (unter anderem) die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt. Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass das konkrete Kindeswohl den Vorzug vor dem vom Übereinkommen angestrebten Ziel hat, Kindesentführungen ganz allgemein zu unterbinden. Dass diese Gründe dann nicht berücksichtigt werden dürften, wenn sie erst durch einen längeren Aufenthalt im Verbringungsland bedingt sind, besagt das Übereinkommen nicht. Es widerspräche vielmehr dem Übereinkommen, eine besondere Gefahrensituation, die die Rückgabe herbeiführen würde, bei der Entscheidung nicht zu berücksichtigen (7 Ob 596/93; 6 Ob 183/97y).

Das konkrete Kindeswohl hat den Vorzug vor dem vom Übereinkommen angestrebten Ziel, Kindesentführungen zu verhindern, und zwar auch dann, wenn gerade der Entführer, der die hauptsächliche Bezugsperson eines noch kleinen Kindes ist, jene Situation herbeigeführt hat, die die Rückgabe zu einer schwerwiegenden Gefahr für das Kindeswohl werden lässt (4 Ob 2288/96s).

Nach der aufgezeigten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, der das Rekursgericht gefolgt ist, ist der Umstand, dass seit der Verbringung des Kindes nach Österreich einige Zeit verstrichen ist und sich das Kind mit seiner Mutter am neuen Aufenthaltsort eingelebt hat, nicht unbeachtlich, soferne er - wie hier von den Vorinstanzen festgestellt wurde - für die Frage des Kindeswohles mitentscheidend ist. Zu der im Revisionsrekurs aufgeworfenen Frage, wieviel Zeit zwischen dem Verbringen eines Kindes und der Entscheidung über die Frage der Rückführung liegen dürfe, dass nicht "die normative Kraft des Faktischen" zur Geltung komme, kann keine generell gültige Antwort gefunden werden.

Ob das Kindeswohl im Sinn des Art 13 Abs 1 lit b des Übereinkommens bei einer Rückgabe gefährdet ist, ist eine von den jeweiligen Umständen abhängige Frage, die im Einzelfall zu entscheiden ist. Eine krasse Fehlbeurteilung der Vorinstanzen dahin, dass der Mutter der Nachweis einer solchen Gefährdung im vorliegenden Fall gelungen ist, liegt nicht vor, entspricht diese Ansicht doch dem (zunächst zur Frage der Obsorgeregelung in Auftrag gegebenen) psychologischen Sachverständigengutachten, das die Vorinstanzen ihren Entscheidungen zugrundelegten. Daraus geht hervor, dass die Herausnahme des erst fünfjährigen Kindes aus der gewohnten mütterlichen Obhut ein destabilisierendes Gefühl sowie eine chronisch-akute Konfliktsituation bewirken und zu einem verstärkt verunsicherten Selbstwertgefühl, zu wachsender Traurigkeit und Bedürftigkeit führen würde.

Eine Bereitschaft der Mutter, sei es auch um des Kindes Willen, in den väterlichen Lebensbereich in P***** zurückzukehren, lässt der Akteninhalt unabhängig davon, ob die Mutter in Italien mit einer Strafverfolgung wegen Verletzung der Fürsorgepflicht und wegen Entführung zu gewärtigen hätte, nicht erkennen. Dieser dokumentiert vielmehr eine tiefgreifende Entfremdung der Eheleute und ein entsprechend großes Konfliktpotential, dem das Kind schutzlos ausgesetzt wäre, würde es die Mutter bei der Rückführung zum Vater begleiten und nur deshalb, um eine Trennung vom Kind zu verhindern, in die Ehewohnung zurückkehren. Der Ansicht des Vaters, der Mutter stehe es frei, auf diesem Weg eine Gefährdung des Kindeswohls hintanzuhalten, ist das Rekursgericht somit aus durchaus vertretbaren Gründen nicht gefolgt.

Der Revisionsrekurs ist deshalb mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 14 Abs 1 AußStrG zurückzuweisen.

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