European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E133071
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden im klagsabweisenden Teil aufgehoben.
Dem Erstgericht wird insoweit eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Die Beklagte ist Alleineigentümerin der Liegenschaft und unternehmerische Vermieterin der Wohnung Top 3 in *. Die Begründung von Wohnungseigentum ist nicht beabsichtigt. Der Mietgegenstand wurde 2017 ohne Zuhilfenahme öffentlicher Mittel errichtet. Dr. A* und Dr. M* sind seit 1. 6. 2018 zu privaten Wohnzwecken Mieter dieser Wohnung. Der Inhalt des ihnen seitens der Vermieterin vorgelegten schriftlichen Mietvertrags wurde vor Unterfertigung der Vertragsurkunde nicht besprochen. Die Mieter hatten bei Vertragsabschluss keine genaue Vorstellung über die von ihnen zu entrichtenden Betriebskosten. Im schriftlichen Mietvertrag finden sich zum Punkt „Mietzins, Betriebskosten“ unter anderem folgende Regelungen:
„[…]
Die mietende Partei ist weiters verpflichtet, zusätzlich zum monatlichen Mietzins die auf den Mietgegenstand jeweils entfallenden, anteiligen Aufwendungen gemäß WEG (= Betriebskosten), für die monatlich ein Betriebskostenakonto in der Höhe von derzeit € 114,23 netto zu bezahlen ist, zzgl. der jeweils anfallenden USt. zu bezahlen. Unter anderem [sind] auch die Heizungs-, Warmwasser und Liftakonti zu bezahlen.
Die monatliche Gesamtbelastung stellt sich im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses daher dar wie umseits angeführt:
Hauptmietzins netto, Index 3 % VPI 2015 € 1.008,48 im Mai 2018
Betriebskostenakonti netto derzeit € 135,43
Warmwasser + Heizungakonti derzeit € 58,00
Liftaconti derzeit € 20,00
Gesamtzins netto derzeit € 1.221,91
zzgl. 10% USt. € 116,37
zzgl. 20% USt. € 11,60
Gesamtmietzins brutto derzeit monatlich € 1.349,88
[…]
Die Vertragsparteien vereinbaren, dass die mietende Partei die mit dem Bewohnen des Bestandsobjektes verbundenen Verbrauchskosten (z.B. Kosten für Kanal, Strom, Heizung, allfällige sonstige Energiekosten, Telefongebühren, Rundfunk, Kommunikation wie z.B. Internet, Fernsehgebühren etc., Kosten für die regelmäßige Wartung der Küchengeräte u.a.), soweit für deren Bemessung technische Einrichtungen bestehen, entsprechend dem tatsächlichen Verbrauch bzw. Anfall zu bezahlen hat. Sollten keine Zählereinrichtungen vorhanden sein, erfolgt die Verrechnung über die Hausverwaltung, wobei die Aufteilung dieser Kosten sowie der sonstigen Betriebskosten über den Betriebskostenschlüssel entsprechend § 17 (1) MRG zu erfolgen hat.
[…]
Unter Betriebskosten im Sinne dieses Vertrags werden nicht nur sämtliche Aufwendungen nach WEG verstanden, sondern überhaupt sämtliche Aufwendungen, die die vermietende Partei für die vertragsgegenständliche Wohnung bzw. für die Erhaltung, Instandsetzung und Instandhaltung des Gebäudes, in dem sich der Bestandgegenstand befindet, und dessen Anlagen aufzuwenden hat, somit auch die Kosten einer angemessenen Gebäudebündelversicherung und auch die Kosten der Hausverwaltung, auch wenn diese nicht entsprechend MRG verrechnet werden.
[…]
Die mietende Partei nimmt zur Kenntnis, dass die laufenden Aufwendungen einschließlich der Warmwasser-, Heizkosten und Liftkosten veränderlich sind. Als verhältnismäßiger Anteil (Aufteilungsschlüssel) an den jeweiligen Kosten wird jener vereinbart, welcher für die vermietende Partei im Verhältnis zur Eigentümergemeinschaft gilt. Sollte sich eine Nachzahlung ergeben, so ist die mietende Partei verpflichtet, diese gegen Rechnungslegung an die vermietende Partei zu bezahlen. Sollte sich ein Guthaben ergeben, so ist die vermietende Partei verpflichtet dieses an die mietende Partei auszuzahlen.“
[2] Den Mietern wurde von Juni bis Dezember 2018 das im Mietvertrag angeführte Betriebskostenakonto von 135,43 EUR monatlich vorgeschrieben, von Jänner bis Dezember 2019 ein solches von 245,59 EUR monatlich und im Jänner 2020 ein solches von 255,71 EUR, jeweils zuzüglich 10 % Umsatzsteuer. Mit Schreiben vom 23. 4. 2019 wurde ihnen die Betriebskostenabrechnung 2018 übermittelt, aus der sich für die Wohnung eine Nachzahlung von 2.237,18 EUR zuzüglich 10 % Umsatzsteuer, somit von 2.460,89 EUR brutto, ergab. Die Mieter bezahlten sämtliche im Zeitraum Juni 2018 bis Jänner 2020 vorgeschriebenen Betriebskostenakonti in voller Höhe, ab August 2019 unter Vorbehalt der Überprüfung der Betriebskosten. Auch die Betriebskostennachzahlung für 2018 bezahlten sie unter Vorbehalt.
[3] In der Folge traten die Mieter die im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Ansprüche auf Rückerstattung der für die Wohnung bezahlten Betriebskosten zum Inkasso und zur Klagsführung an die Klägerin ab. Am 28. 8. 2019 refundierte die Beklagte 1.025,40 EUR an zu viel bezahlten Betriebskosten für das Jahr 2018 (5/12 der Nachzahlung, weil das Mietverhältnis erst am 1. 6. 2018 begonnen hatte). Die Mieter bezahlten im Zeitraum Juni bis Dezember 2018 insgesamt 1.042,81 EUR brutto an Betriebskostenakonti, weiters 1.891,04 EUR brutto im Zeitraum Jänner bis Juli 2019 und 1.350,75 EUR brutto im Zeitraum August bis Dezember 2019. Im Jänner 2020 bezahlten sie ein Betriebskostenakonto von 281,28 EUR brutto. Für 2019 und 2020 liegen noch keine Betriebskostenabrechnungen vor.
[4] Die Klägerin begehrte – gestützt auf die Inkassozession – die Rückzahlung von gesamt 6.001,37 EUR an zu Unrecht bezahlten Betriebskosten, konkret die Rückerstattung der geleisteten Betriebskostenakonti im Zeitraum Juni bis Dezember 2018 von 1.042,81 EUR, im Zeitraum Jänner bis Juli 2019 von 1.891,04 EUR, im Zeitraum August bis Dezember 2019 von 1.350,75 EUR und für Jänner 2020 von 281,28 EUR, jeweils inklusive 10 % Umsatzsteuer, sowie die Rückzahlung der Betriebskostennachzahlung für 2018 von 2.460,89 EUR brutto abzüglich der von der Beklagten bereits geleisteten 1.025,40 EUR. Die Bestimmungen des Mietvertrags, wonach die Mieter die auf den Mietgegenstand jeweils entfallenden anteiligen Aufwendungen gemäß WEG (= Betriebskosten) zu bezahlen hätten, seien intransparent im Sinn des § 6 Abs 3 KSchG. Auf der Liegenschaft sei nämlich zum einen gar kein Wohnungseigentum begründet worden; zum anderen kenne das WEG anders als das MRG im Vollanwendungsbereich den Begriff der Betriebskosten nicht, sondern spreche von den Aufwendungen für die Liegenschaft einschließlich der Beiträge zur Rücklage. Dieser Begriff sei nicht deckungsgleich mit dem Betriebskostenbegriff im Vollanwendungsbereich des MRG. Außerdem seien die Regelungen über die vom Mieter zu tragenden Betriebskosten gemäß §§ 21 ff MRG auf den Mietvertrag im Teilanwendungsbereich des MRG gar nicht anwendbar. Dort gebe es also weder Betriebskosten noch eine Betriebskostenabrechnung im Sinn des MRG. Die Umschreibung der vom Mieter zu tragenden Aufwandspositionen bleibe letztlich unklar und unbestimmt. Abgesehen davon sollte offenbar jeglicher denkbarer Aufwand einschließlich der Erhaltungskosten für das gesamte Gebäude auf die Mieter überwälzt werden. Diese (generelle) Überwälzung der nach § 1096 Abs 1 ABGB den Vermieter treffenden Erhaltungspflicht sei gröblich benachteiligend gemäß § 879 Abs 3 ABGB. Da eine geltungserhaltende Reduktion nicht ausgehandelter missbräuchlicher Klauseln auch im Individualprozess über ein Verbrauchergeschäft nicht in Frage komme, hätten die Bestimmungen, wonach die Mieter zusätzlich zum Mietzins Aufwendungen gemäß WEG (= Betriebskosten) zu tragen hätten, ersatzlos zu entfallen. Die bereits bezahlten Betriebskostenbeträge könnten daher als rechtsgrundlose Zahlung einer Nichtschuld zurückgefordert werden.
[5] Die Beklagte hält dem – soweit für das Revisionsverfahren von Belang – entgegen, es sei – mangels Anwendbarkeit der §§ 21 ff MRG auf das Mietverhältnis – im Mietvertrag zu definieren, was der Vermieter als Betriebskosten verrechnen könne. Die Aufwendungen gemäß WEG als Betriebskosten zu verrechnen, sei nicht gröblich benachteiligend oder missbräuchlich. Die Verrechnung der Betriebskosten nach § 32 WEG stelle schließlich auch gegenüber dem Wohnungseigentümer keine missbräuchliche Vorgangsweise dar, sondern sei gesetzlich vorgesehen. Als Aufwendungen im Sinn des WEG seien sämtliche gemeinschaftsbezogenen, also von der Eigentümergemeinschaft zu tragenden Kosten für den Betrieb (Bewirtschaftung, Erhaltung und Verbesserung der Liegenschaft) zu verstehen. Es kämen nur Aufwendungen in Betracht, die mit der ordentlichen und außerordentlichen Verwaltung der Liegenschaft im Zusammenhang stehen, also die Kosten für die Bewirtschaftung und Erhaltung der Liegenschaft, die durchaus deckungsgleich mit den Aufwendungen nach den §§ 21 ff MRG seien. Außerdem sei im Mietvertrag die anteilige Bezahlung der Gebäudebündelversicherung und der Hausverwaltungskosten ausdrücklich vereinbart worden; zumindest insoweit liege keine Intransparenz vor. Ebenso sei die Bezahlung der Verbrauchskosten vereinbart worden, womit die Mieter auch verpflichtet seien, Stromkosten, Wasserkosten, Abwasserkosten, Gas und dergleichen zu bezahlen.
[6] Das Erstgericht gab der Klage in Ansehung eines Teilbetrags von 867,70 EUR statt und wies das Mehrbegehren von 5.133,67 EUR ab. Die beiden von der Klägerin konkret beanstandeten Klauseln, nämlich einerseits die im Vertragstext festgelegte Verpflichtung, die „anteiligen Aufwendungen gemäß WEG“ zu tragen, andererseits die darin enthaltene Betriebskostendefinition „unter Betriebskosten im Sinne dieses Vertrags werden nicht nur sämtliche Aufwendungen nach WEG verstanden, sondern überhaupt sämtliche Aufwendungen […] für die Erhaltung, Instandsetzung und Instandhaltung des Gebäudes und dessen Anlagen […]“, seien völlig unbestimmt und führten zu einer generellen Überwälzung der Erhaltungspflicht auf die Mieter, weshalb sie sowohl gegen das Transparenzgebot nach § 6 Abs 3 KSchG also auch gegen § 879 Abs 3 ABGB verstießen. Die beiden missbräuchlichen Klauseln hätten daher zu entfallen, ohne dass die durch den Wegfall entstehende Vertragslücke durch ergänzende Vertragsauslegung geschlossen werden könne, entspreche es doch der dispositiven Bestimmung des § 1099 ABGB, dass der Vermieter grundsätzlich alle Lasten und Abgaben zu tragen habe. Ohne (ausdrückliche oder konkludente) Vereinbarung könnten die Betriebskosten nach dem ABGB gar nicht auf den Mieter überwälzt werden. Allerdings seien die missbräuchlichen und daher weggefallenen Vertragsbestimmungen von anderen materiell eigenständigen Regelungsbereichen des Klauselwerks abzugrenzen. Die in der erstgenannten Klausel enthaltene Wendung „unter anderem auch die Heizungs-, Warmwasser- und Liftakonti zu bezahlen“ sei inhaltlich klar und isoliert von der beanstandeten Bestimmung wahrnehmbar. Davon gehe offenbar die Klägerin selbst aus, die diese Kosten im Verfahren nicht zurückgefordert habe. Nicht von der Nichtigkeitssanktion erfasst seien weiters die nachfolgende konkrete Auflistung der monatlichen Gesamtbelastung und die hinreichend bestimmte und verständliche Regelung über die Verbrauchskosten. Demgegenüber sei die Regelung, wonach „auch die Kosten einer angemessenen Gebäudeversicherung und […] der Hausverwaltung“ verrechnet werden, bloß als beispielhafte Aufzählung und damit als Bestandteil der insgesamt intransparenten und folglich unwirksamen Betriebskostendefinition zu werten. Die von den Mietern zu bezahlenden Betriebskosten reduzierten sich daher auf Warmwasser, Heizung, Lift und Verbrauchskosten. Sie hätten somit – abgesehen von den nicht verfahrensgegenständlichen Lift-, Heizungs- und Warmwasserkosten – die in der Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2018 enthaltenen Betriebskostenpositionen „Telefongebühren“ von 894,84 EUR netto, „Abwasser- und Wasserkosten“ von 539,47 EUR netto und „Stromkosten Keller, Parterre, Stiegenhaus“ von 1.075,72 EUR netto, jeweils bezogen auf das gesamte Jahr, insgesamt also 2.510,03 EUR zuzüglich 10 % Umsatzsteuer zu tragen; allerdings seien ihnen, weil das Mietverhältnis erst am 1. 6. 2018 begonnen habe, nur 7/12 des Betrags, das sind 1.610,60 EUR brutto, anzulasten. Unter Bedachtnahme auf die im Jahr 2018 geleisteten Akonti von 1.042,81 EUR brutto und die erfolgte Nachzahlung von 2.460,89 EUR brutto, wovon 1.025,40 EUR refundiert worden seien, verbleibe ein rückzuerstattender Differenzbetrag von 867,70 EUR an zu viel bezahlten Betriebskosten für das Jahr 2018. Im Mietvertrag sei ein monatliches Betriebskostenakonto von „derzeit € 135,43 netto“ vereinbart, woraus zu schließen sei, dass die Vermieterin einen monatlichen Pauschalbetrag vorschreiben darf und jährlich eine Betriebskostenabrechnung zu erstellen hat. Auch wenn § 21 Abs 3 MRG auf das vorliegende Mietverhältnis nicht anzuwenden sei, handle es sich bei diesen Betriebskostenpauschalraten um selbständige Mietzinsbestandteile, deren Höhe von den tatsächlich im Vorschreibungsjahr entstandenen Betriebskosten unabhängig ist. Ein aus der Vorschreibung unzulässiger Betriebskosten resultierender Rückforderungsanspruch könne grundsätzlich erst mit der Abrechnung entstehen. Solange daher die Jahresabrechnungen 2019 und 2020 noch nicht vorliegen, bestehe noch kein Rückforderungsanspruch der Mieter hinsichtlich der in diesen Jahren bezahlten Betriebskostenakonti.
[7] Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil über Berufung der Klägerin teilweise dahin ab, dass es die Beklagte zur Zahlung eines Teilbetrags von 2.079,33 EUR verurteilte, jedoch das Mehrbegehren von 3.922,04 EUR abwies, und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Rechtlich führte es – soweit für das Revisionsverfahren von Belang – aus, das Erstgericht habe die berechtigte Verrechnung der verbliebenen drei Positionen in der Betriebskostenabrechnung 2018 aus der Klausel über die Verbrauchskosten abgeleitet, die die Klägerin bisher unangefochten gelassen habe. Ihr nunmehriges Argument, das Erstgericht hätte auch diese Klausel von Amts wegen auf ihre Vereinbarkeit mit § 6 Abs 3 KSchG hin prüfen müssen, verfange nicht. Den für diese Rechtsauffassung ins Treffen geführten Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH Rs C‑511/17 , Lintner, ECLI:EU:C:2020:188; C‑495/19 , Kancelaria Medius, ECLI:EU:C:2020:431) sei Entsprechendes gerade nicht zu entnehmen.
[8] Die gegen dieses Urteil (ersichtlich bloß gegen dessen klagsabweisenden Teil) erhobene Revision der Klägerin ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, weil der Umfang der Pflicht der Gerichte zur amtswegigen Überprüfung von AGB-Klauseln zu präzisieren ist. Die Revision ist auch im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[9] 1.1. Nach seit langem verfestigter Rechtsprechung des EuGH sind Art 6 Abs 1 und Art 7 Abs 1 RL 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen – mit Blick auf den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz – dahin auszulegen, dass eine missbräuchliche Vertragsklausel für den Verbraucher nicht verbindlich ist, ohne dass es hierzu erforderlich wäre, dass der Verbraucher sie vorher erfolgreich angefochten hat. Das nationale Gericht ist vielmehr verpflichtet, die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel von Amts wegen zu prüfen und damit dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abzuhelfen, sobald es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt. Gelangt es zur Auffassung, dass eine solche Klausel missbräuchlich ist, so hat es sie unangewendet zu lassen, sofern der Verbraucher dem nicht widerspricht (grundlegend Rs C‑243/08 , Pannon GSM, ECLI:EU:C:2009:350, insb Rn 24 und 32; vgl weiters C‑397/11 , Jőrös, ECLI:EU:C:2013:340; C‑49/14 , Finanmadrid EFC, ECLI:EU:C:2016:98; C‑154/15 , C‑307/15 und C‑308/15 , Gutiérrez Naranjo ua, ECLI:EU:C:2016:980; C‑176/17 , Profi Credit Polska, ECLI:EU:C:2018:711; C‑453/18 und C‑494/18 , Bondora, ECLI:EU:C:2019:1118 ua; zum Verbraucherkredit siehe C‑377/14 , Radlinger und Radlingerová, ECLI:EU:C:2016:283; eingehend zu dieser Rechtsprechungsentwicklung und zu den Grenzen der amtswegigen Klauselprüfung zuletzt Eder, Amtswegigkeit revisited, ÖBA 2020, 631 ff mwN).
[10] 1.2. In der Entscheidung C‑51/17 , OTP Bank und OTP Faktoring, ECLI:EU:C:2018:750 (= ÖBA 2018/84 [zust Eder]) erfolgte schließlich die Klarstellung, dass die amtswegige Klauselkontrolle dem Verbraucher nicht nur in seiner Rolle als Beklagter zugute kommt, sondern auch dann, wenn er selbst als Kläger auftritt. Sobald das nationale Gericht über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt, muss es an dessen Stelle die Frage der Missbräuchlichkeit von Amts wegen aufgreifen, ist doch auch der Verbraucher in seiner Eigenschaft als Kläger vor der nicht zu unterschätzenden Gefahr zu schützen, dass dieser nicht zu seinem Recht kommt, weil er seine Rechte nicht kennt oder Schwierigkeiten hat, sie auszuüben (Rn 88). Im Ausgangsverfahren hatten die Kreditnehmer eines Fremdwährungskredits auf die Nichtigerklärung des Kreditvertrags geklagt, dies mit der Begründung, sie hätten den Umfang des Kursrisikos nicht einschätzen können, weil die betreffende Vertragsklausel nicht klar und verständlich abgefasst gewesen sei, hatten es aber unterlassen, sich darüber hinaus auf die Missbräuchlichkeit bestimmter anderer Klauseln zu stützen (vgl Rn 17 ff, insb 20 und 33).
[11] 2.1. Eine weitere Präzisierung hinsichtlich der Reichweite des Amtswegigkeitsgrundsatzes bei der Klauselprüfung nahm der EuGH schließlich in der von der Klägerin relevierten Entscheidung C‑511/17 , Lintner, ECLI:EU:C:2020:188, vor: Im dortigen Ausgangsverfahren war der Rechtsschutzantrag der klagenden Verbraucherin nicht auf die Nichtigerklärung eines Vertrags als solchen gerichtet, sondern auf die von bestimmten Klauseln eines Hypothekarkreditvertrags, die dem beklagten Kreditinstitut das Recht einräumten, den Vertrag einseitig zu ändern (Rn 12 ff). Auch über entsprechende Aufforderung des Prozessgerichts im zweiten Rechtsgang unterließ die Klägerin es, die Missbräuchlichkeit anderer Klauseln des Vertrags in ihren Prozessvortrag aufzunehmen (Rn 15).
[12] 2.2. Ausgehend von dieser Fallkonstellation stellt die angesprochene Entscheidung klar, die amtswegige Klauselprüfung finde – unter Bedachtnahme auf die Dispositionsmaxime und den Grundsatz ne ultra petita – ihre Grenze grundsätzlich im Streitgegenstand, verstanden als das Ergebnis, das eine Partei mit ihren Ansprüchen im Licht der zu diesem Zweck gestellten Anträge und vorgebrachten Gründen verfolgt (Rn 28, 31; vgl auch C‑495/19 , Kancelaria Medius, ECLI:EU:C:2020:431, Rn 41).
[13] In den Grenzen des Gegenstands des bei ihm anhängigen Rechtsstreits habe aber das nationale Gericht eine Vertragsklausel von Amts wegen zu prüfen, um zu vermeiden, dass Ansprüche des Verbrauchers durch eine gegebenenfalls rechtskräftige Entscheidung zurückgewiesen werden, obwohl diesen Ansprüchen hätte stattgegeben werden können, wenn es der Verbraucher nicht aus Unkenntnis unterlassen hätte, sich auf die Missbräuchlichkeit dieser Klausel zu berufen. Damit die praktische Wirksamkeit des durch die Klausel-RL gewährten Schutzes nicht beeinträchtigt wird, dürften dabei die eingereichten Anträge nicht formalistisch betrachtet werden; vielmehr sei ihr Inhalt im Licht der zu ihrer Stützung geltend gemachten Gründe zu prüfen (Rn 32 f).
[14] 2.3. Wenn der Gerichtshof aus diesen Erwägungen schließlich ableitet, dass (auch) solche Klauseln amtswegig zu prüfen seien, die zwar nicht Gegenstand der Klage sind, aber mit dem von den Parteien nach Maßgabe der von ihnen gestellten Anträge und vorgebrachten Gründe definierten Streitgegenstand „zusammenhängen“, sobald das Gericht über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt (Rn 34), dann will er mit dieser etwas unscharfen Formulierung erkennbar nicht zum Ausdruck bringen, dass entgegen dem vorhin Gesagten doch über eine nicht vom Streitgegenstand umfasste Klausel zu entscheiden ist, solange nur ein – mehr oder weniger loser – Zusammenhang besteht. Was gemeint ist, wird aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidung, insbesondere aus den nachfolgenden Rn 36 bis 38 klar: Darin führt der Gerichtshof unter Bezugnahme auf bereits in früheren Entscheidungen festgelegte Grundsätze (vgl insb C‑137/08 , VB Pénzügyi Lízing, ECLI:EU:C:2010:659, Rn 56) aus, das nationale Gericht müsse von Amts wegen „Untersuchungsmaßnahmen“ durchführen, sofern die bereits in den Akten enthaltenen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen ernsthafte Zweifel hinsichtlich der Missbräuchlichkeit bestimmter Klauseln aufkommen lassen, die zwar vom Verbraucher nicht angefochten werden, aber mit dem Gegenstand des Rechtsstreits zusammenhängen. Diese Untersuchungsmaßnahmen seien erforderlich zur Durchführung der Prüfung von Amts wegen.
[15] 2.4. Wie sich insbesondere aus den Schlussanträgen des GA Evgeni Tanchev vom 19. 12. 2019, C‑511/17 , ECLI:EU:C:2019:1141, folgern lässt, sind unter solchen amtswegigen „Untersuchungsmaßnahmen“ (bloß) prozessleitende Maßnahmen des Gerichts zu verstehen wie die an die Parteien gerichtete Aufforderung, Klarstellungen vorzunehmen oder Beweismaterial vorzulegen, nicht aber „Ermittlungsmaßnahmen“ im Sinn einer amtswegigen Beweisaufnahme (vgl Rn 54 ff, insb 60 und 64).
[16] Mit anderen Worten hat ein Gericht, sobald sich aus dem Akteninhalt Anhaltspunkte dafür ergeben, dass weitere, im Zusammenhang mit den angefochtenen stehende Vertragsklauseln missbräuchlich sein könnten, die aber bislang nicht angegriffen sind, durch prozessleitende Maßnahmen gegenüber den Parteien auf eine Klärung der diesbezüglichen Sach- und Rechtslage hinzuwirken: Insbesondere hat es den Verbraucher über richterlichen Hinweis der möglichen Missbräuchlichkeit einer bislang nicht beanstandeten Klausel zu einer Erklärung anzuleiten, ob er sein Prozessvorbringen bzw seinen Sachantrag entsprechend ausdehnen will. Gegebenenfalls ist dem Prozessgegner unter Wahrung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens die Möglichkeit einzuräumen, darauf zu replizieren (siehe C‑511/17 , Lintner, ECLI:EU:C:2020:188, Rn 42).
[17] Hinsichtlich der sich aus dem bisherigen Prozessstoff ergebenden möglicherweise missbräuchlichen Klauseln, die mit dem Streitgegenstand bloß „zusammenhängen“ besteht daher keine unmittelbare Entscheidungspflicht, sondern eine vorgelagerte Prüf- und Aufklärungspflicht; erst im Anschluss an die vorzunehmenden prozessleitenden Maßnahmen lässt sich sagen, ob über die Missbräuchlichkeit dieser fraglichen Klauseln zu entscheiden ist (überzeugend Kühne, EuZW 2020, 673 [677 f]).
[18] 3.1. Im vorliegenden Fall ist der Rechtsschutzantrag der Klägerin auf die Rückerstattung ohne Rechtsgrund geleisteter Betriebskostenzahlungen gerichtet, im Wesentlichen gestützt auf die Behauptung, die Verpflichtung der Mieter zur Tragung von Betriebskosten sowie zur Zahlung von Betriebskostenakonti sei im Mietvertrag nicht wirksam vereinbart worden. Wenngleich die Klägerin in ihrem Prozessvorbringen in erster Instanz bloß zwei konkrete Klauseln der vorgelegten Vertragsurkunde beanstandet hat, stehen die übrigen unter demselben Vertragspunkt „Mietzins, Betriebskosten“ geregelten Bestimmungen zur Frage der anteiligen Tragung der Betriebs- bzw Verbrauchskosten in einem so engen Sachzusammenhang zu der von der Klägerin ausdrücklich bekämpften Betriebskostenregelung, dass sie zweifellos im Sinn der Erwägungen des EuGH mit dem Streitgegenstand zusammenhängen. Die vom Gerichtshof entwickelten Rechtsprechungsgrundsätze zur amtswegigen Prüfung der Missbräuchlichkeit auch solcher Klauseln, die nicht unmittelbar Gegenstand der Klage des Verbrauchers sind, müssen daher bei der Entscheidung über die vorliegende Leistungskondiktion Beachtung finden.
[19] 3.2. Der Umstand, dass die Klägerin sich erstmals in ihrer Berufung auch auf die Unwirksamkeit der übrigen im Vertragspunkt „Mietzins, Betriebskosten“ enthaltenen Klauseln betreffend die Betriebs- und Verbrauchskosten berufen hat, schadet vor diesem Hintergrund nicht: Das Gericht muss jene Klauseln auch noch im Rechtsmittelstadium einer amtswegigen (Vor‑)Prüfung unterziehen und dann, wenn die bereits in den Akten enthaltenen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen ernsthafte Zweifel hinsichtlich der Missbräuchlichkeit dieser Klauseln aufkommen lassen, die dargelegten „Untersuchungsmaßnahmen“ setzen.
[20] Das Berufungsgericht hat daher die in der Berufung erfolgte konkrete Beanstandung weiterer, in erster Instanz von der Klägerin noch nicht monierter Klauseln, aus denen das Erstgericht einen Rechtsgrund für einen Teil der geleisteten Betriebskostenzahlungen und damit die bloß teilweise Berechtigung der geltend gemachten Leistungskondiktion abgeleitet hat, zu Unrecht unter Verweis auf einen Verstoß gegen das Neuerungsverbot unbeachtet gelassen und es verabsäumt, eine amtswegige Prüfung dieser Klauseln auf eine allfällige Missbräuchlichkeit im Sinn der Klausel-RL hin vorzunehmen. Ausgehend von dieser amtswegigen Prüfpflicht kann schon begrifflich keine Neuerung vorliegen (vgl Lovrek in Fasching/Konecny 3 IV/1 § 503 ZPO Rz 176 mwN; siehe auch RS0112215 [T1]; zuletzt 3 Ob 243/13a).
[21] 3.3. Die potenzielle Missbräuchlichkeit der in Frage stehenden Klauseln ist, entsprechende ernsthafte Zweifel vorausgesetzt, auch noch im Revisionsverfahren von Amts wegen aufzugreifen (idS bereits G. Graf, EuGH: Amtswegige Prüfung von missbräuchlichen Vertragsklauseln, ecolex 2009, 720 [721];Rosifka, 9. Klausel-Entscheidung: Kritische Anmerkungen, immolex 2019, 312).
[22] 3.4. Für das weitere Verfahren ist schon jetzt darauf zu verweisen, dass die fraglichen Klauseln betreffend die Verbrauchskosten und die zu von den Mietern zu leistenden Betreibskostenakonti Bedenken begegnen: Mit Recht verweist etwa die Klägerin darauf, dass die Regelung zur Tragung der sogenannten Verbrauchskosten, nicht zuletzt aufgrund der bloß beispielsweisen Aufzählung der von der Bestimmung erfassten Kostenpositionen (vgl dazu 7 Ob 78/06f; 6 Ob 81/09v; 2 Ob 215/10x), für den redlichen Erklärungsempfänger hinsichtlich ihrer konkreten Reichweite, aber auch hinsichtlich ihres Verhältnisses zu den an anderer Stelle geregelten „sonstigen Betriebskosten“ unklar bleibt, wobei durch den möglichen Entfall (auch) dieser Klausel wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot nach § 6 Abs 3 KSchG auch der Vereinbarung betreffend die Zahlung monatlicher Betriebskostenakonti jedenfalls die rechtliche Grundlage entzogen wäre. Aus dem gesamten Regelungszusammenhang geht im Übrigen auch bei vernetzter Betrachtung nicht deutlich hervor, auf welche Kostenpositionen sich die an verschiedenen Stellen des Vertragstextes (mit unterschiedlicher Höhe) angeführten monatlichen Betriebskostenakonti beziehen, namentlich, ob mit den Vorauszahlungen – zumindest teilweise – auch die sogenannten Verbrauchskosten abgedeckt werden sollen. Schließlich bleibt der Inhalt der Vertragsbestimmung betreffend die Aufteilung der laufenden Aufwendungen im Dunkeln, weil der Verweis auf die anteilige Kostentragung der Vermieterin „im Verhältnis zur Eigentümergemeinschaft“ aufgrund des Alleineigentums der Beklagten ins Leere geht.
[23] 4. Ausgehend von den aufgezeigten Bedenken bei amtswegiger Vorprüfung der in Rede stehenden Klauseln und mit Blick auf das erst im Rechtsmittelverfahren erstattete konkrete Prozessvorbringen der Klägerin zur Missbräuchlichkeit dieser Vertragsbestimmungen muss der Beklagten zur Wahrung ihres rechtlichen Gehörs Gelegenheit geben werden, konkretes Bestreitungsvorbringen in Bezug auf diese Klauseln zu erstatten und dazu allfällige Beweisanträge zu stellen. Dies zwingt zur Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen im angefochtenen Umfang und zur Zurückverweisung der Rechtssache in die erste Instanz.
[24] 5. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.
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