OGH 6Nc6/22t

OGH6Nc6/22t17.3.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Nowotny und die Hofrätin Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei E*, vertreten durch Skribe Rechtsanwaelte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei Pe*, vertreten durch Jarolim Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 368,95 EUR sA, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0060NC00006.22T.0317.000

 

Spruch:

Der Ordinationsantrag wird abgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger strebt – gestützt auf die Verordnung (EG) Nr 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. 2. 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs‑ und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr 295/91 („Fluggastrechte-Verordnung“) – die Verpflichtung des beklagten Luftfahrtunternehmens mit Sitz in der Türkei zur Zahlung von 368,95 EUR sA an. Der vom Kläger bei der Beklagten gebuchte Flug von Wien nach Istanbul und zurück sei von der Beklagten annulliert worden. Dem Kläger stehe daher gemäß Art 8 Abs 1 lit a erster Spiegelstrich der Verordnung die Rückerstattung der Flugscheinkosten zu.

[2] Das Bezirksgericht Schwechat wies die Klage mangels internationaler Zuständigkeit zurück. Nach Rechtskraft des Zurückweisungsbeschlusses legte es den Akt zur Entscheidung über den vom Kläger bereits in der Klage hilfsweise gestellten Ordinationsantrag nach § 28 JNvor.

Rechtliche Beurteilung

[3] Die Voraussetzungen für eine Ordination liegen nicht vor.

[4] 1. Der in Österreich wohnhafte Kläger stützt seinen Ordinationsantrag auf § 28 Abs 1 Z 2 JN. Danach hat der Oberste Gerichtshof, wenn für eine bürgerliche Rechtssache die Voraussetzungen für die örtliche Zuständigkeit eines inländischen Gerichts nicht gegeben oder nicht zu ermitteln sind, aus den sachlich zuständigen Gerichten eines zu bestimmen, welches für die fragliche Rechtssache als örtlich zuständig zu gelten hat, wenn der Kläger österreichischer Staatsbürger ist oder seinen Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz im Inland hat und im Einzelfall die Rechtsverfolgung im Ausland nicht möglich oder unzumutbar wäre.

[5] 2. Die Voraussetzungen des § 28 Abs 1 Z 2 JN sind in streitigen bürgerlichen Rechtssachen vom Antragsteller zu behaupten und zu bescheinigen (§ 28 Abs 4 zweiter Satz JN; RS0124087).

[6] 3. Das Bezirksgericht Schwechat hat die internationale Zuständigkeit verneint und die Klage zurückgewiesen. An diese in Rechtskraft erwachsene Entscheidung ist der Oberste Gerichtshof gebunden (RS0046568 [T5]). Die bereits erfolgte Zurückweisung der Klage steht dem Ordinationsantrag nicht grundsätzlich entgegen, weil im Fall seiner Stattgebung die Klage neu beim ordinierten Gericht einzubringen wäre (RS0046568 [T4]).

[7] 4.1. Die behauptete Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland begründet der Kläger damit, dass die Mitgliedstaaten für unionsrechtlich normierte Ansprüche (hier) nach der Fluggastrechte‑Verordnung gemäß Art 47 GRC einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz sicherzustellen hätten. Diesem unionalen Verfahrensgrundrecht komme insbesondere dann Bedeutung zu, wenn der Kläger sonst gehalten wäre, seine Ansprüche außerhalb der Europäischen Union geltend zu machen. Aus diesem Grund seien alle interpretativen Möglichkeiten auszuschöpfen, um – bei einem ausreichenden Inlandsbezug – Fluggästen, die von einem in der Europäischen Union gelegenen Flughafen abfliegen, die Durchsetzung von in der Fluggastrechte‑Verordnung normierten Ansprüchen grundsätzlich auch gegen ein Flugunternehmen mit Sitz in einem Drittstaat zu ermöglichen. Zudem lehnten türkische Gerichte die Anwendung der Fluggastrechte‑Verordnung ab, und es wäre in jedem Fall von einer übermäßigen Erschwernis für den Kläger auszugehen, die Ansprüche in einem Drittstaat durchzusetzen.

[8] 4.2. Die Ordination nach § 28 Abs 1 Z 2 JN soll dem Obersten Gerichtshof nicht die Möglichkeit bieten, grundsätzlich jede Rechtssache, zu deren Entscheidung die Zuständigkeitsvorschriften kein österreichisches Gericht berufen, der österreichischen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen und damit einen allgemeinen Klägergerichtsstand zu etablieren (RS0046322). § 28 Abs 1 Z 2 JN soll Fälle abdecken, in denen trotz Fehlens eines Gerichtsstands im Inland ein Bedürfnis nach Gewährung inländischen Rechtsschutzes vorhanden ist, weil ein Naheverhältnis zum Inland besteht und im Einzelfall eine effektive Klagemöglichkeit im Ausland fehlt (RS0057221 [T4]). Ist im Ausland ausreichender Rechtsschutz gewährleistet und würde die ausländische Entscheidung im Inland auch vollstreckt werden, so besteht bei Fehlen einer inländischen Zuständigkeit kein Anlass zur Bejahung der inländischen Gerichtsbarkeit (RS0046159).

[9] 4.3. Das Naheverhältnis zum Inland ist hier insofern zu bejahen, als der Klägerseinen Wohnsitz in Österreich hat und auch der Abflugort im Inland lag. Zur weiteren Voraussetzung der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland entspricht es der Rechtsprechung, dass eine unterschiedliche Ausgestaltung der materiellen Rechtslage allein für eine Ordination nicht ausreichen kann. Eine günstigere oder ungünstigere materielle Rechtslage allein kann nicht die Begründung einer ansonsten nicht gegebenen inländischen Gerichtsbarkeit bewirken (5 Nc 11/21v; 6 Nc 34/21h; RS0117751). Der Ansicht, eine wirksame Durchsetzung der Ansprüche nach der Fluggastrechte‑Verordnung sei nur dann gewährleistet, wenn diese vor einem Gericht eines Mitgliedstaats geltend gemacht werden, ist daher nicht zu folgen (RS0117751 [T5]).

[10] 4.4. Der Oberste Gerichtshof hat jüngst in mehreren Entscheidungen zu ähnlich gelagerten Sachverhalten (Beklagte waren jeweils Flugunternehmen mit Sitz in der Türkei) die Voraussetzungen für eine Ordination iSd § 28 Abs 1 Z 2 JN verneint (7 Nc 21/21d; 5 Nc 11/21v; 10 Nc 38/19y; 10 Nc 28/19b; die in der Entscheidung 4 Nc 9/21t vertretene gegenteilige Rechtsansicht, auf die sich auch die klagende Partei stützt, wurde in der Folge zu 4 Nc 20/21k ausdrücklich nicht mehr aufrechterhalten so auch jüngst 6 Nc 34/21h).

[11] 4.5. Die diese Entscheidungen tragenden Erwägungen treffen auch auf den vorliegenden Fall zu (s 6 Nc 34/21h):

[12] 4.5.1 Eine Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung in der Türkei ist nicht anzunehmen, weil die Türkei eine eigene Fluggastverordnung („SHY‑Passenger“, Regulation on Air Passenger Rights from the Directorate General of Civil Aviation) kennt, die in Art 6 iVm Art 8–10 auch Regelungen für die Annullierung eines Flugs („Cancellation of flights“) enthält.

[13] 4.5.2 Eine Unzumutbarkeit der Rechtsverfolgung im Ausland liegt nicht vor, weil zwischen Österreich und der Türkei ein Abkommen über die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen und Vergleichen in Zivil‑ und Handelssachen besteht (BGBl 1992/571).

[14] 4.5.3 Der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz bietet keine Grundlage dafür, eine allenfalls fehlende (generelle) Zuständigkeitsvorschrift des Verfahrensrechts nur im Hinblick auf diesen Grundsatz generell und unabhängig vom Einzelfall zu ersetzen. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 28 Abs 1 Z 2 JN ist vielmehr in jedem einzelnen Fall zu beurteilen.

[15] 4.5.4 Darauf, dass die Rechtsverfolgung in der Türkei kostspieliger wäre oder dass in Österreich Exekution geführt werden sollte und die Beklagte in Österreich über Vermögen verfügt, hat sich der Kläger gar nicht berufen.

[16] 5. Die Voraussetzungen für eine Ordination nach § 28 Abs 1 Z 2 JN sind daher nicht gegeben.

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