OGH 5Nc22/22p

OGH5Nc22/22p19.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Wurzer und Mag. Painsi als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen V*, geboren am * 2011, und des minderjährigen F*, geboren am * 2013, wegen Übertragung der Zuständigkeit nach § 111 JN, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0050NC00022.22P.0919.000

 

Spruch:

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Weiz vom 8. August 2022, GZ 50 P 327/19x‑75, gemäß § 111 Abs 1 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit an das Bezirksgericht Kufstein wird hinsichtlich der Führung des Unterhaltsverfahrens (nunmehr AZ 50 Nc 4/22x des Bezirksgerichts Weiz) genehmigt.

 

Begründung:

[1] Die Ehe der Eltern der beiden Minderjährigen, die seit 21. 5. 2021 gemeinsam mit ihrer Mutter im Sprengel des Bezirksgerichts Kufstein wohnen, wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Weiz vom 25. 2. 2021 im Einvernehmen geschieden. Ein zu AZ 50 Ps 327/19x des Bezirksgerichts Weiz anhängig gewesenes Verfahren zur Regelung der Obsorge (und anderer Angelegenheiten) wurde mit einem Vergleich der Eltern vom 12. 5. 2022 beendet. In diesem Vergleich trafen die Eltern auch eine detaillierte Regelung über die Ausübung des Kontaktrechts des Vaters zu seinen Kindern bis 30. 12. 2022.

[2] Zu AZ 50 Pu 327/19x hat das Bezirksgericht Weiz den vom Vater für die Zeit vom 1. 6. 2019 bis einschließlich August 2021 zu leistenden Unterhalt mit Teilbeschlüssen vom 4. 8. 2021 (ON 59) und vom 29. 9. 2021 (ON 65) rechtskräftig festgesetzt. Die Entscheidung über den Unterhaltsanspruch der Minderjährigen für die Zeit ab 1. 9. 2021 behielt es bis zum Vorliegen weiterer Erhebungsschritte, insbesondere dem Ausmaß des tatsächlichen Kontaktrechts des Vaters zu seinen Kindern nach der Verlegung von deren Lebensmittelpunkt nach Tirol vor.

[3] Mit Beschluss vom 8. 8. 2022 (ON 75) übertrug der für das Obsorge‑ und Kontaktrechtsverfahren zuständige Richter den Akt AZ 50 P 327/19x (die Führung der Pflegschaftssache) dem Bezirksgericht Kufstein, weil sich die Kinder nunmehr dauerhaft im Sprengel dieses Gerichts aufhielten. Das Bezirksgericht Kufstein übernahm die Zuständigkeit der Pflegschaftssache im Umfang des zu AZ 50 Ps 327/19x geführten Obsorge‑ und Kontaktrechtsverfahrens. Die Übernahme der Zuständigkeit zur Führung des Unterhaltsverfahrens (AZ 50 Pu 327/19x) lehnte es mit der Begründung ab, dass das Bezirksgericht Weiz aufgrund seiner bisherigen Ermittlungen und seines von den Verfahrensparteien gewonnenen Eindrucks besser geeignet sei, über den noch offenen Teil des Unterhaltfestsetzungsantrags zu entscheiden.

[4] Das Bezirksgericht Weiz legte den Akt dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung nach § 111 JN vor.

Vorbemerkung:

Rechtliche Beurteilung

[5] Seit der Einführung des Außerstreitgesetzes ist der (gesamte) Pflegschaftsakt in mehrere Teilakte (Unterhalt, Vermögensverwaltung, sonstige Angelegenheiten) unterteilt, wobei § 111 JN grundsätzlich auch eine Teilübertragung der Pflegschaftssache ermöglicht (6 Nc 16/18g). Eine solche liegt im vorliegenden Fall aber nicht vor, weil der für das Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren zuständige Richter die Zuständigkeit zur Führung des Pflegschaftsverfahrens (und damit auch den Teilakt AZ 50 Pu 327/19x) an das Bezirksgericht Kufstein abgetreten hat, nachdem mit Ausnahme des Unterhaltsverfahrens alle anderen die Minderjährigen betreffenden Verfahren bereits erledigt waren. Damit bedurfte es entgegen der Ansicht des Bezirksgerichts Kufstein auch keiner gesonderten Entscheidung dazu durch die für das Unterhaltsverfahren zuständige Diplomrechtspflegerin. Die Übertragung der Zuständigkeit zur Führung des Unterhaltsverfahrens ist auch gerechtfertigt:

[6] 1. Das ausschlaggebende Kriterium für die Beurteilung, ob die Pflegschaftssache nach § 111 JN an ein anderes Gericht übertragen werden soll, ist das Kindeswohl (RIS‑Justiz RS0046908). Eine Übertragung der Zuständigkeit zur Führung eines Pflegschaftsverfahrens ist daher vorzunehmen, wenn es im Interesse des Kindes liegt und zur Förderung der wirksamen Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes erforderlich erscheint (RS0046929). In der Regel entspricht es den Interessen von Kindern, wenn als Pflegschaftsgericht jenes Gericht tätig wird, in dessen Sprengel der Mittelpunkt ihrer Lebensführung liegt (RS0047300). Entscheidend ist daher im Allgemeinen, wo sich die Kinder tatsächlich aufhalten.

[7] Im vorliegenden Fall wohnen die Kinder gemeinsam mit ihrer Mutter im Sprengel des Bezirksgerichts Kufstein, wo sie seit 21. 5. 2021 gemeldet sind.

[8] 2. Offene Anträge sprechen nicht generell gegen eine Übertragung der Zuständigkeit (RS0047032). Sie können einer Übertragung der Zuständigkeit zwar dann entgegenstehen, wenn dem übertragenden Gericht eine besondere Sachkenntnis zukommt oder es jedenfalls in der Lage ist, sich diese Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht (RS0047032 [T11]), oder auch dann, wenn das übertragende Gericht bereits durch unmittelbare Einvernahme der maßgeblichen Personen einen Eindruck gewonnen hat (RS0047032 [T12; T14; T26]). Dass das Bezirksgericht Weiz zum Unterhaltsanspruch der Minderjährigen Beweise aufgenommen und darüber mit Teilbeschlüssen bis einschließlich August 2021 entschieden hat, sodass deren Unterhaltsanträge noch offen sind, soweit sie die Zeit ab 1. 9. 2021 betreffen, bildet im hier zu beurteilenden Fall aber kein Hindernis für die Übertragung der Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftsangelegenheit im Unterhaltsverfahren:

[9] 3. Soweit zur Festsetzung des Unterhaltsanspruchs der Minderjährigen für die Zeit ab 1. 9. 2021 die vom Bezirksgericht Weiz bereits eingeholten oder vorgelegten Auskünfte/Urkunden und sonstigen schriftlichen Stellungnahmen überhaupt von Relevanz sind, können sie vom Bezirksgericht Kufstein ebenso verwertet werden und begründen damit keine „besonderen Kenntnisse“ des übertragenden Gerichts. Darüber hinaus hat das Bezirksgericht Weiz noch keine Erhebungsschritte zur Ermittlung des den Minderjährigen ab 1. 9. 2021 gebührenden Unterhalts vorgenommen. Wegen der bereits verstrichenen Zeit bedarf es im Übrigen einer Prüfung der aktuellen Lebenssituation, insbesondere der Unterhaltsbemessungsgrundlagen für die Zeit ab 1. 9. 2021 sowie der Bedachtnahme darauf, inwieweit allenfalls die tatsächliche Wahrnehmung des Kontaktrechts durch den Vater Einfluss auf den von ihm in Geld zu leistenden Unterhalt hat, sodass der deutlich mehr als ein Jahr zurückliegenden Einvernahme der Eltern mangels Aktualität nur mehr eingeschränkte Bedeutung zukommt.

[10] 4. Damit hat es bei der allgemeinen Regel zu bleiben, dass das Naheverhältnis zwischen den Pflegebefohlenen und dem Gericht von wesentlicher Bedeutung und daher jenes Gericht besser geeignet ist, in dessen Sprengel der Minderjährige seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Übertragung der Unterhaltssache an das Bezirksgericht Kufstein ist daher zu genehmigen.

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